Keimzelle in Gefahr

Diesen Artikel haben wir in der aufbau-Zeitung Nr. 43 (März 2006) veröffentlicht:

Keimzelle in Gefahr

 

BÜRGERLICHE KLEINFAMILIE Immer weniger Haushalte entsprechen dem bürgerlichen Ideal mit dem Mann als „Ernährer“ und der „Hausfrau“, die für Kinder und Mann sorgt. Auch weitere Aspekte des sozialen Wandels machen deutlich, dass die bürgerliche Familienordnung in eine chronische Krise geraten ist.

 

(fk) Konnte in der Phase des Aufschwungs nach dem Zweiten Imperialistischen Krieg das bürgerliche Ideal der Kleinfamilienordnung auch im Proletariat zum Teil reproduziert werden, zeigt sich heute die kapitalistische Krise auch in der allmählichen Auflösung desselben. Mit dem Aufkommen der Arbeitslosigkeit als Dauererscheinung seit den 80er Jahren, immer höheren Lebenskosten und dem Abbau sozialer Errungenschaften schwand unwiederbringlich die materielle Grundlage für die Aufrechterhaltung kleinbürgerlicher Familienverhältnisse unter den Massen.

Der ökonomische Zwang zur Frauen-Lohnarbeit traf zusammen mit dem Wunsch einer wachsenden Zahl von Frauen nach einem eigenständigen Einkommen und einer grösseren Unabhängigkeit. Ausserdem befriedigte die „blosse Hausfrauenrolle“ viele Frauen nicht mehr.

 

„So tritt die Einzelehe keineswegs ein in die Geschichte als die Versöhnung von Mann und Weib, noch viel weniger als ihre höchste Form. Im Gegenteil. Sie tritt auf als Unterjochung des einen Geschlechts durch das andre, als Proklamation eines bisher in der ganzen Vorgeschichte unbekannten Widerstreits der Geschlechter.“

Friedrich Engels

 

Die bürgerliche Familienordnung ist in eine chronische Krise geraten: Die Scheidungsraten steigen, es gibt immer mehr „Singles“ und Alleinerziehende, die Geburtenrate ist seit 30 Jahren kleiner als die Sterberate, ein grosser Teil junger Proletarier wird niemals in die Lage des „Ernährers“ kommen. Ist damit die Reproduktion der bürgerlichen sozialen Ordnung mit der Keimzelle von Ehe und Familie in Frage gestellt?

 

Heilige Familie

Konservative Kräfte jammern über den Zerfall der Familie und die zunehmend tieferen Geburtenraten in Europa. Ob es sich dabei um die Bedrohung der väterlichen Autorität, den Funktionsverlust der Familie oder um die zunehmende Kinderlosigkeit handelt – Stein des Anstosses war und ist die „verrufene Emanzipation der Frauen“ oder die Erwerbstätigkeit von Müttern kleiner Kinder. Immer geht es dabei nicht nur um die Familie als Grundlage der Politik oder um private Partnerschaftskonflikte, sondern um einen grundlegenden, Staat und Gesellschaft bedrohenden Wertezerfall. Im „häuslichen Dasein“ der Frau entdeckte die konservative Familiensoziologie gar „Spielraum für ihre Individualität“ und versuchte zudem mit einer ganzen Reihe empirischer Untersuchungen die schädlichen Auswirkungen von Müttererwerbstätigkeit nachzuweisen.

 

„In der Familie repräsentiert der Mann die Bourgeoisie, die Frau das Proletariat.“

Friedrich Engels

Emanzipationstheorien

Tatsächlich ist die Kritik der bürgerlichen Familie ein Prüfstein für jede Befreiungstheorie. Bereits im Kommunistischen Manifest fordern Marx und Engels die Aufhebung der bürgerlichen Familie, die „ihre Ergänzung“ in der „erzwungenen Familienlosigkeit der Proletarier und der öffentlichen Prostitution“ findet. Die Familie wird als primäre Quelle der Unterdrückung der Frau und als einen Ort des Geschlechterkampfes definiert. Die für Haus- und Familienarbeit aufgewendete Zeit stellt einen Indikator für die in der Familie herrschende Machtstruktur dar.

Marx stellte einen direkten Zusammenhang her zwischen Umbrüchen in den Produktivkräften und dem Familienleben. Nach einer scharfen Kritik an der Lage der Fabrikarbeiterinnen in England und an den Auswirkungen auf die Versorgung der Kinder kommt er zu dem perspektivischen Satz: „So furchtbar und ekelhaft nun die Auflösung des alten Familienwesens innerhalb des kapitalistischen Systems erscheint, so schafft nichtsdestoweniger die grosse Industrie mit der entscheidenden Rolle, die sie den Weibern, jungen Personen und Kindern beiderlei Geschlechts in gesellschaftlich organisierten Produktionsprozessen jenseits der Sphäre des Hauswesens zuweist, die neue ökonomische Grundlage für eine höhere Form der Familie und des Verhältnisses beider Geschlechter.“

 

Perspektive

In welcher Form Frau und Mann in einer neuen Gesellschaft zusammenleben werden, ist Nebensache. Zentral jedoch ist, dass die gesellschaftlich notwendige Haus- und Familienarbeit sozialisiert und aus ihrer privaten Isoliertheit herausgerissen wird, dass öffentlich und privat nicht mehr getrennt und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufgehoben werden, und dass alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermassen sowohl im Berufs- wie auch im Familienleben ihre Fähigkeiten entwickeln können. Dann wird sich auch in der Familie – Familie im weitesten Sinne – ein partnerschaftliches, emanzipiertes Geschlechterverhältnis entwickeln können, unabhängig von der Form, die jede und jeder nach seinen Bedürfnissen wählen wird.

 

Zahlen in der Schweiz

 

Lebten 1970 noch rund drei Viertel aller Paarhaushalte mit Kindern unter sieben Jahren gemäss dem Modell „Frau nicht erwerbstätig, Mann Vollzeit erwerbstätig“, waren es im Jahre 2000 noch lediglich 37%. Das Modell „Frau Teilzeit erwerbstätig, Mann Vollzeit erwerbstätig“ hat einen Anteil von 41% erhalten. In anderen europäischen Ländern ist dieser Prozentsatz noch höher.

 

Andere Veränderungen betreffen die Art des Zusammenlebens. Waren 1970 noch gut 70% der Frauen und Männer zwischen 20 und 39 Jahren verheiratet, so betraf dies im Jahr 2000 nur noch 47%. Ursachen hierfür gibt es verschiedene: Es wird immer später im Leben geheiratet, oft erst zwecks Familiengründung; immer mehr Leute heiraten gar nicht und leben unverheiratet entweder allein, in einer Partnerschaft oder einer anderen Wohngemeinschaft; und die Ehen weisen infolge zunehmender Scheidungsraten eine immer kürzere Dauer auf. Unter den Männern hat sich der Anteil der „Singles“ seit 1970 vervierfacht. Bei den Frauen fiel der Anstieg nur von 6% auf 16% aus, denn nach einer Trennung bilden Frauen öfters einen Einelternhaushalt, wenn Kinder vorhanden sind. Ein Fünftel aller Kinder wächst heute in Einelternfamilien auf. Mehr als 80% der Alleinerziehenden sind Frauen; daran hat sich seit 1970 nichts verändert. Durch die schwierige Situation bedingt bleiben heute von den 35- bis 39-jährigen Schweizerinnen 27% kinderlos, fast doppelt so viele wie noch bei den 60- bis 64-jährigen. Die gleichen Tendenzen sind in allen Industriestaaten zu beobachten.