WoZ Bericht zu Frigga Haug

Frigga Haug – Die deutsche Sozialwissenschaftlerin wird am 28. November siebzig. Ihr marxistischer Feminismus ist so lebendig wie sie selber. Mehr als blosse Gleichberechtigung.

Von Stefan Howald – entnommen aus der WoZ vom 22.11.07

 

Frigga Haug war am Mittwochnachmittag der ersten Novemberwoche in Zürich eingetroffen und hielt am Abend auf Einladung des Revolutionären Aufbaus einen Vortrag zum Thema «Geschlechterverhältnisse und Kapitalismuskritik». Am nächsten Morgen hatte sie noch einige Verlagsfragen zu klären und reiste gegen Mittag ins schwäbische Esslingen, wo sie ab Freitag den ersten bundesweiten Frauenaufbruch der neuen deutschen Linkspartei Die Linke leitete. Kurz vor ihrem siebzigs­ten Geburtstag war sie erkältet in Zürich eingetroffen und bekämpfte aufkommendes Fieber; an der Abendveranstaltung sprach sie zweieinhalb Stunden lang brillant aus dem Stegreif und stellte sich den Fragen eines zumeist jugendlichen Publikums. Danach argu­mentierte sie in Esslingen drei Tage lang mit hundert Frauen für «eine Utopie von Frauen, die eine Utopie für alle ist».

Ihre Energie scheint unerschöpflich, trotz zuweilen fragiler Gesundheit. Ihre Publikationsliste umfasst etliche Dutzend Bücher, eigene und von ihr her­ausgegebene, sowie unzählige Vorträge, Referate und Artikel. Dabei ist sie nicht bloss eine Theoretikerin, sondern auch Lehrende und Organisatorin, die sich handfest um die materiellen Belange ihrer kollektiven Projekte kümmert – vom Argument-Verlag bis zum Institut für kritische Theorie.

Ihre Leistungen werden nicht nur in Europa anerkannt. Die US-Philosophin Judith Butler würdigt sie: «Frigga Haug verbindet philosophische Sorgfalt und Klugheit mit kompromisslosem Weitblick und leidenschaftlichen Zukunftsvisionen.» Sie habe damit weltweit ­eine Vielzahl von Wissenschaftlerinnen, Intellektuellen und Aktivistinnen erreicht, inspiriert und zusammengebracht. «Wir alle sind zutiefst dankbar für die Hartnäckigkeit, mit der sie darauf besteht, unser gesellschaftliches und politisches Leben weiterzudenken – in Richtung auf mehr Gerechtigkeit, Freiheit und Hoffnung.»

Rollentheorie und Automation

Frigga Haug engagierte sich während des Studiums in Berlin in der Student­Innen- und der Frauenbewegung und gehörte 1971 zu jenen Frauen, die eine Selbstanzeige unterschrieben – damals war Abtreibung noch illegal. Zugleich wirkte sie bei der von ihrem Ehemann Wolfgang Fritz Haug gegründeten Zeitschrift «Das Argument» mit. Als Assis­tentin am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin veröffentlichte sie 1972 eine «Kritik der Rollentheo­rie». Das Buch demontiert diese wirkungsmächtige soziologische Theorie; es wurde zum Bestseller mit mehreren Auflagen und 50 000 verkauften Exemplaren.

1975 initiierte sie die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Automation und Qualifikation. Deren bis 1988 entstandene neun Bände forderten eine Linke heraus, die damals in der Automation nur eine Verschlechterung der Arbeitssituation durch minder bezahlte, monotone Tätigkeiten und drohende Arbeitslosigkeit sehen wollte. Dagegen zeigte die Arbeitsgruppe, dass in der Automation auch Chancen zur Qualifizierung und zur Selbstermächtigung liegen. Die Alltäglichkeit der neuen Technologien hat die damaligen Auseinandersetzungen längst entschieden; die Fragestellung bleibt aktuell in Bezug auf den Computer, der uns befreit und zugleich gefangen nimmt.

Opfer-Täter-Debatte

1980 veröffentlichte Frigga Haug den Argument-Band «Frauenformen. Entwurf zu einer Theorie weiblicher Sozialisation» und hielt im gleichen Jahr auf der von ihr mitgegründeten Berliner Volksuni einen Vortrag unter dem Titel «Opfer oder Täter?». Darin behauptete sie, dass Frauen nicht nur Opfer seien, sondern auch in ihre Unterwerfung einwilligten. Weibliche Sozialisation sei als aktiver Prozess, nicht nur als passive Prägung zu verstehen und sei nur dank eines Stücks Zustimmung möglich.

Die These erregte grosses Aufsehen und wurde als Verharmlosung von Unterdrückungsmechanismen missverstanden. Verschiedene linke Strömungen wie die Deutsche Kommunis­tische Partei (DKP) sowie Gewerkschaftskreise grenzten Frigga Haug aus. Dabei hatte sie nur darauf hingewiesen, dass man Frauen, die im Opferstatus festgeschrieben werden, keinerlei Ansatzpunkte zur eigenständigen Entwicklung lasse. Die Opfer-Täter-Debatte ist weiterhin zentral: Warum verhalten sich Menschen gegen ihre eigenen Interessen und stimmen einer Politik zu, die ihren Bedürfnissen widerspricht? Haug griff und greift zur Erklärung auf das analytische Instrumentarium von Antonio Gramsci zurück. Für Gramsci wird gesellschaftliche Herrschaft nicht nur durch Repression, sondern auch durch Einwilligung und Konsens hergestellt. Dabei ist es Haugs Stärke, trotz anspruchsvoller Terminologie vielfältige Materialien anschaulich und genau zur Sprache zu bringen.

Die weitere Erforschung von weiblichen Sozialisationsprozessen führte Haug zu einer neuen Methode kollektiver Erinnerungsarbeit: Eigene Erfahrungen werden schriftlich aufgearbeitet und gemeinsam diskutiert – eine Weiterentwicklung des Konzepts von Selbsterfahrungsgruppen. In diesem Rahmen entstanden auch Bücher zu Themen wie Zukunftserwartungen von Jugendlichen und kulturellen Einstellungen, die sich im Kopftuchtragen islamischer Frauen äussern.

Im Herbst 1988 lancierte Frigga Haug im Argument-Verlag ein neues Projekt: Ariadne, die erste deutschsprachige feministische Krimireihe. Die herausgegebenen Bücher waren zu Beginn vorwiegend Übersetzungen, mit der Zeit kamen immer mehr deutsche Erstausgaben neuer Autorinnen hinzu. Mittlerweile sind bei Ariadne rund 300 Titel erschienen. Haug hat selber zwei Krimis über das Hamburger Universitätsmilieu geschrieben und führt mit laufenden «Nachrichten aus dem Patriarchat» im Argument-Verlag den literarischen Strang fort.

Dazu kommt die Arbeit am monumentalen «Historisch-Kritischen Wörterbuch des Marxismus» und am «Historisch-Kritischen Wörterbuch des Feminismus» sowie als Vorsitzende des Instituts für kritische Theorie (Inkrit). Mehrfach hat sie in Krisensituationen die Geschäftsführung des Argument-Verlags übernommen. Selbst jetzt, pensioniert, kümmert sie sich um Organisatorisches, um Buchhaltung, um Werbe- und Verkaufsmöglichkeiten.

Bis 2001, beinahe ein Vierteljahrhundert lang, war Frigga Haug Professorin an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, einer in ihren Ursprüngen gewerkschaftsnahen Fachhochschule. Unzählige sind durch ihre Schulen gegangen. Dabei ist sie nie vor Kontroversen zurückgescheut.

Wie aber ist Frigga Haug zum Revolutionären Aufbau in Zürich gekommen? Die Anfrage versprach interessierte junge Frauen als Zuhörerinnen, und solche will sie nicht enttäuschen. Tatsächlich findet beim Revolutionären Aufbau, neben anderem, Diskutablem, offenbar eine beachtliche Selbstqualifizierung statt. Jedenfalls trafen zu dem kaum angekündigten Vortrag rund neunzig Leute ein, davon siebzig Frauen – weitaus die meis­ten noch nicht 25 Jahre alt. Haug erläuterte, präzis und witzig, dass die Forderungen der Frauenbewegung in der neo­liberalen Wende vereinnahmt worden seien, weil sie den veränderten Arbeitsbedingungen entgegenkommen. Sie skiz­zierte, wo heute die Auseinandersetzungen stattfinden, und entwarf eine praktikable, aber zugleich systemüberschreitende Realpolitik. Darin steckten ein paar Zumutungen für den Revolutionären Aufbau. Und tatsächlich wurde denn auch, von revolutionärer Männerseite, der Verdacht geäussert, hier werde die grundsätzliche Machtfrage – nach der radikalen Abschaffung des Kapitalismus – nicht gestellt. Worauf Haug die Machtfrage angesichts der gegenwärtigen Situation kühl als reine Floskel sezierte.

«4-in-1-Perspektive»

Für Frigga Haug will ein marxis­tischer Feminismus «eine bessere Gesellschaft und nicht blosse Gleichberechtigung». Im jüngsten Buch versucht sie Rosa Luxemburgs «revolutionäre Realpolitik» als eine Kunst der Politik zu rekonstruieren, «die sich zugleich in den aktuellen parlamentarischen Tageskampf einlässt und doch das sozialistische Ziel nicht aus den Augen verliert». Ein lobenswertes Anliegen. Auch die historische Erinnerung an Rosa Luxemburg ist verdienstvoll. Aber der historische Umweg zur Begründung einer aktuellen Politik leuchtet nicht so recht ein. Notwendiger und brauchbarer scheint da die «4-in-1-Perspektive», die sie in Zürich skizzierte und die am Frauenkongress von Der Linken in Esslingen intensiv diskutiert wurde. Danach soll die Zusammensetzung eines Frauenalltags und weiblichen Lebens wie folgt gedacht werden: vier Stunden Erwerbsarbeit, vier Stunden Reproduktionsarbeit, vier Stunden eigene Weiter­entwicklung und Musse sowie vier Stun­den öffentlich-politische Tätigkeit. Das Modell in seiner schönen Symmetrie lässt viele Fragen offen. Anregende Fragen: Warum überhaupt Lohnarbeit? Sollte Care-Arbeit nicht auch entlöhnt werden – und wenn nein, warum nicht? Was zählt zur Weiterentwicklung? Frigga Haug versteht das Konzept als einen Kompass, der hilft, sich im vielfältigen Geflecht der gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Strategien zu orientieren. Ihr Werk trägt zu dieser Orientierung vielfältig bei.

Frigga Haug: «Rosa Luxemburg und die Kunst der Politik». Argument Verlag. Hamburg 2007. 236 Seiten. 28 Franken.

Frigga Haug: «Ohne Vernunft kann man nichts machen. Eingriffe in Politik und Gesellschaft». Argument Verlag. Hamburg 2007 (erscheint im Dezember).

Siebzig randvolle Jahre

Frigga Haug, am 28. November 1937 geboren, wuchs im Ruhrgebiet auf, besuchte ab 1948 ein Mädchengymnasium und studierte später in Berlin. Nach der Heirat mit dem Philosophen Wolfgang Fritz Haug und der Geburt einer Tochter promovierte sie in Psychologie und schrieb ihre Habilitationsschrift in Sozialpsychologie. Von Beginn an war sie in der StudentInnen- und Frauenbewegung aktiv. Ab 1971 arbeitete sie als Assis-tentin am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin. Von 1978 bis 2001 war sie Professorin für Soziologie an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik. Seit 1966 ist sie Redaktorin, seit 1980 Mitherausgeberin der Zeitschrift «Das Argument». 1988 initiierte sie die Krimireihe Ariadne. Seit 1994 arbeitet sie als Redaktorin des «Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus» und als Herausgeberin des «Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Feminismus». Sie ist Vorsitzende des Instituts für Kritische Theorie (Inkrit). Bei der Gründung 2007 der neuen deutschen Linkspartei Die Linke ist sie in die Partei eingetreten.