Finanzmarktkrise: Totenglocke des Kapitals?

Die faktische Verstaatlichung der US-Hypothekenverleiher Fannie Mae und Freddie Mac sowie des Versicherungsriesen AIG und der Zusammenbruch der Investment Bank Lehmann Brothers markieren Quantensprünge in der Entwicklung der internationalen Finanzmarktkrise.

(gpw) 153’000 Stellen 2007, 110’000 bis August 2008, voraussichtlich 60’000 weitere bis Ende 2008, soviel Arbeitsplätze im Finanzsektor gehen allein in der USA verloren1. In New York macht die Zahl der Arbeitskräfte von Wallstreet nur 5% von allen aus, doch sie generieren ca. 35% der Steuereinnahmen2. In der Schweiz plant die UBS allein einen Abbau von 1500 Stellen. In der Schweiz sind ca. 10% der Beschäftigten im Finanzsektor tätig, aber auch hier werden bereits massive Steuerausfälle erwartet. Ein solcher Aderlass wird nicht nur zu einem Einbruch der Nachfrage von Luxus- und Konsumgütern bewirken, sondern auch einen erneuten Schub beim staatlichen Sozialabbau. Wird er eine wirtschaftliche Depression auslösen, welche mit den Dreissigerjahren des letzten Jahrhunderts vergleichbar ist? Steht die kapitalistische Produktionsweise als ganze am Rande des Abgrundes?

Um in diesen Fragen wenigstens ein bisschen klarer zu sehen, entwickeln wir hier zwei Argumentationslinien aus der marxistischen Kritik des Kapitalismus: Was sind die ökonomischen Wurzeln der Banken und Finanzmärkte, und wie hängt deren Entwicklung mit der seit langem bestehenden Kapitalüberproduktionskrise zusammen?

Der Wert muss die Geldform durchlaufen

 Produziert jemand Güter oder Dienstleistungen unter kapitalistischen Bedingungen, fliessen diese nicht in einen Pool, aus dem sie nach den Bedürfnissen der Menschen verteilt werden, damit niemand im Elend leben muss. Sie müssen verkauft werden an die, welche zahlungsfähig sind. Erst dadurch können Löhne bezahlt und Produktionsmittel gekauft werden, kann die Produktion von Wert und Mehrwert also immer weiter laufen und sich erweitern. Der produzierte Wert und Mehrwert muss also die Geldform durchlaufen. Dieser Tatsache verdanken die Banken ihre Existenz. Sie haben dafür zu sorgen, dass das Geld verwaltet, zentralisiert und dorthin geleitet wird, wo es gebraucht wird. Dafür schöpfen sie einen Teil der produzierten Mehrwerts ab. Daraus zahlen sie die Löhne der Banker und die für ihre Arbeit notwendige Infrastruktur. Der verbleibende Rest ist dann ihr Gewinn – eben ein Teil des in der produktiven Privatwirtschaft erarbeiteten Mehrwerts. Sie produzieren ihn nicht selbst, sondern sind in der Zirkulationssphäre tätig, eben in der Geldzirkulation.

Die gleiche Überlegung gilt auch für die Börse und andere Akteure des Finanzmarktes. Sie haben sich in gigantischem Ausmass entwickelt, aber auch sie leben davon, dass sie hauptsächlich anderswo produzierten Mehrwert dorthin leiten – nein, nicht wo am meisten menschliche Bedürfnisse befriedigt werden könnten, sondern wo er am profitablesten wieder investiert werden kann.

Das Wesen der Kapitalüberproduktionskrise

Damit sind wir aber beim Wesen der Kapitalüberproduktionskrise: Profitable Investitionsmöglichkeiten sind rar, überall müssen „Überkapazitäten“ abgebaut werden. Das führt nicht nur zu Massenentlassungen in der Industrie und den bekannten Angriffen auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen des Proletariats, sondern auch zu den Milliarden oder Billionen an überschüssigem Geldkapital, das in der Produktion keine Verwertungsmöglichkeit findet.

Dieses Geld stürzt sich nun auf die Finanzmärkte und versucht, sich mittels Wertpapieren zu verwerten. Die „Wertpapiere“, obwohl sie wertlos sind (keine menschliche Arbeit enthalten), verhalten sich so, als ob sie Waren wären. Sie gehorchen auf dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Die gesteigerte Nachfrage bewirkt die Erfindung „innovativer Finanzinstrumente“ wie Optionen, Futures u.a. Diese sind nichts Anderes als Wetten auf das Steigen oder Fallen von Preisen bestimmter Aktien, Obligationen, Immobilien, Währungen, Rohstoffe oder ganzer Börsenindizes. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Das Ganze kann zu grotesken Überbewertungen und anschliessendem Kollaps ihres „Wertes“ führen wie z.B. am Ende der New Economy. Die Börsenblasen, die sich gebildet haben, platzen. Daran zeigt sich, dass in der Sphäre der Geldzirkulation letztlich kein Mehrwert produziert werden kann: Was die Einen vielleicht gewonnen haben, verlieren die Anderen wieder.

Allerdings schafft die Aufblähung des Finanzsektors Arbeitsplätze für Bankangestellte, Börsianer, Finanzanalytiker u.v.a.m. Diese erweisen sich beim Platzen solcher Blasen in gleicher Weise als „überproduziert“ wie ihre KollegInnen in den produktiven Sektoren bei jeder erneuten Verschärfung der Krise.

Die Krise der Bodenspekulation

Nach dem Ende des New Economy-Booms mussten neue „Verwertungsmöglichkeiten“ für Geldkapital erschlossen werden. Dem kamen Pläne der US-Regierung entgegen, Wohneigentum zu fördern. Über die halbstaatlichen Vermittler von Hypothekarkrediten, Fannie Mae und Freddie Mac, wurde dieser Markt aufgebläht. Die Hypothekarschulden wurden von den Banken in „Wertpapiere“ verpackt, auf die sich das überschüssige Geldkapital stürzte – nicht zuletzt auch Pensionskassengelder3. Ferner wurden Firmenübernahmen und Fusionen in riesigem Ausmass über Investment-Banken wie Lehmann Brothers oder entsprechenden Abteilungen auch der UBS finanziert, ferner immer mehr Konsumgüter über Konsumkredite. Alles Bereiche, welche nach dem Platzen der Hypothekarmarktblase den Banken zusätzliche Probleme bereiten.

Redimensionierung des Finanzsektors

Kein Zweifel: Der Zusammenbruch von Grossbanken und die Verstaatlichung anderer aufgeblähter Firmen der Finanzplätze setzen Zehntausende auf die Strasse, vermindern die zahlungsfähige Nachfrage, vernichten Pensionskassengelder und erhöhen die Staatsschulden, alles Faktoren, welche den jetzigen Wirtschaftsabschwung verstärken werden. Dieser findet aber auch unabhängig davon statt, wie z.B. die bevorstehende Entlassung von 30’000 Angestellten des Computerherstellers HP zeigt. Wir können nicht voraussagen, wie stark der kommende Abschwung die Kapitalüberproduktionskrise verschärfen wird. Für das Gesamtkapital hat die Finanzmarktkrise aber längerfristig zur Folge, dass ein Teil des überschüssigen Geldkapitals vernichtet und der aufgeblähte unproduktive Finanzsektor redimensioniert wird. Das sind Faktoren, welche dem Kapital mittelfristig die Möglichkeit geben, wieder etwas Luft zu holen. So absurd ist diese Produktionsweise, dass die Kapitalvernichtung gleichsam ihr Lebenselixier ist.

 Fussnoten:

1 NZZ vom 18.09.2008

2 Echo der Zeit vom 15.09.2008

3  Ausführlicher dazu aufbau Nr. 53: Scheininvalid: Die Banken und Nr. 54: Die Banken wanken – von alleine?