Finanzkrise? Nein, Krise des Kapitalismus!

Im letzten Beitrag Finanzmarktkrise: Totenglocke des Kapitals? haben wir aufgezeigt, dass die gegenwärtige Finanzkrise ein Ausdruck der chronischen Kapitalüberproduktionskrise ist. Seither zeigt sich klarer, wie und in welchem Ausmass sie diese generelle Krise des Kapitalismus verschärft.

(gpw) Inzwischen steht in verschiedenen Automobilkonzernen bereits die Produktion still, stürzen die Aktienkurse von Konzernen wie Nestlé, Novartis und Roche in den Keller und häufen sich Massenentlassungen auch in der Industrie. Island musste den ganzen Bankensektor verstaatlichen, seine Währung zerfiel um mehr als die Hälfte. Die Gefahr eines Zusammenbruchs des Finanzsystems scheint nicht mehr ausgeschlossen.

Gefährdung der kapitalistischen Reproduktion

In „normalen“ Zeiten erfüllen die Banken und Finanzmärkte die Funktion, den Unternehmen kontinuierlich und rechtzeitig das Geldkapital zur Verfügung zu stellen, damit die Arbeitskräfte sowie die Lieferanten der Produktionsmittel bezahlt werden können. Die verschiedenen Formen, in denen das Geldkapital in die Produktion gepumpt wird – über Aktien, Obligationen, direkte Bankkredite, kurzfristige Kredite aus den globalen Geldmärkten bis zu den Milliarden von Tagesgeldern, die hin und her geschoben werden – ändern an der Sache grundsätzlich nichts; die Hauptsache ist, dass möglichst alle Formen von Krediten in ausreichendem Mass dort zur Verfügung stehen, wo sie gebraucht werden. Dazu muss auch der Kreditmarkt zwischen den Banken (Interbankenkredite) geschmiert laufen.

Das funktioniert nun nicht mehr. Die „Verwertung“ des überschüssigen Geldkapitals in hoch spekulativen Transaktionen, insbesondere im US-amerikanischen Liegenschaftsmarkt, aber auch bei fremdfinanzierten Grossfusionen, in Konsumkrediten etc. führte zum Platzen der Spekulationsblase. Der Rückfluss des dort „investierten“ Geldes an die Banken stockte, die entsprechenden „Wert“-papiere auf der Aktivseite der Bankbilanzen entwerteten sich. Weil alle Banken mehr oder weniger betroffen sind, trauen sie einander nicht mehr. Der Markt für Interbankenkredite brach zusammen, die Notenbanken mussten einspringen, damit weiterhin Geld in Produktionsmittel und Arbeitskräfte verwandelt werden kann1

Die Deregulierer verstaatlichen

Alle Notmassnahmen der Zentralbanken, der Staaten und auch von Privaten zur Stabilisierung der Banken und der Finanzmärkte zielen darauf ab, dass diese weiterhin die notwendigen Gelder in die produktiven Sektoren der Wirtschaft pumpen können:
 

  • Sanierung der Bankbilanzen durch staatliche Übernahme der faulen Wertpapiere (Paulson-Plan); Einschiessen von Liquidität in die Bankbilanzen durch Staatsfonds oder Private – bei der UBS aus Singapur, bei Goldman Sachs durch Warren Buffet – oder direkt durch den Staat;
  • Verstaatlichung konkursiter Banken (Northern Rock, jetzt drei britische Grossbanken);

 

  • Übernahme serbelnder Institute durch noch halbwegs gesunde, z.B. Merill Lynch durch die Bank of America, Bear Stearns und Washington Mutual durch JP Morgan Chase, Wachovia durch Wells Fargo, Aufteilung der holländischen Fortis;
  • Verstaatlichung der grossen Hypothekenfinanzierer Fannie Mae und Freddie Mac in den USA, Hypo Real Estate in Deutschland, damit, weiterhin Hypotheken für gewerbliche und private Liegenschaftskäufe gegeben werden können2;
  • Verstaatlichung des Versicherungskonzerns AIG;

 

  • Gewährleistung und Erhöhung des Einlegerschutzes, damit die Kleinen nicht ihr Erspartes abziehen und dadurch die Finanzinstitute weiter gefährden;
  • Weltweit koordinierte Zinssenkungen der wichtigsten Notenbanken;

 

  • Direkter Aufkauf sogenannter Commercial Papers durch die US-amerikanische Zentralbank Fed, über die sich die Unternehmen kurzfristig finanzieren – ein auf 1600 Mrd. (1.6 Bio.) $ geschätzter Markt3. Damit übernimmt der Staat die Funktion der Banken und Börsen gleich selbst.

 
Diese Massnahmen zielen nebenbei auch auf ausserökonomische Wirkungen: Die „psychologische“ Wirkung zur Beruhigung der Finanzmärkte verpufft laufend wieder, und wie weit die intendierte „Befriedungsfunktion“ der Massen durch den Einlegerschutz greifen wird, muss die Zukunft zeigen.

Massive Verschärfung der Krise

Ein globaler Zusammenbruch des Finanzsystems hätte also die Folge, dass mehr oder weniger weltweit die Kontinuität des kapitalistischen Reproduktions- und Akkumulationsprozesses unterbrochen würde, was eine sehr heftige Verschärfung der Krise des Kapitals nach sich ziehen würde. Dieses mögliche Szenario spiegelt sich in der Baisse der Börsen. Die koordinierten Zinssenkungen der Zentralbanken sind als Gegengift gegen diese Form des Kriseneinbruchs gedacht. Tritt sie in der hier skizzierten Form auf, ist das natürlich viel zu wenig.

Eine offene Frage ist, ob und wie lange die Staaten kreditwürdig bleiben, um alle diese Massnahmen tragen zu können. Wird es zur massiven Entwertung von Schlüsselwährungen kommen, also zu Währungskrisen wie z.B. in den 1920er Jahren in Deutschland? Oder eher zu einer Grossen Depression wie in den Dreissiger Jahren? Oder „bloss“ einer Phase der Deflation wie im Japan der 1990er Jahre?

Wir sind die Letzen, die sich gegen Enteignungen aussprechen würden. Aber nicht durch den bürgerlich-kapitalistischen Staat, sondern durch die Produzenten, das Proletariat. Enteignet die Enteigner!

Fussnoten:

 1  Schritt G –W im kapitalistischen Reproduktionsprozess, der mit der Formel G – W – P … W’ – G’ ausgedrückt wird.
2  Der chinesische Staat hält ca. 30% der Hypothekenkredite von Fannie und Freddie und zwang die US-Regierung ebenfalls zur vollen Übernahme dieser halbstaatlichen Institute, die ursprünglich der staatlichen Wohneigentumsförderung dienten.
3  Zum Vergleich der hier genannten Grössenordnungen: Das Bruttoinlandprodukt der Schweiz eines Jahres beträgt rund 500 Mrd. (0.5 Bio.) sFr.