Gianni Frizzo zur Vorgeschichte des Streiks

Der Streik der Officine-Belegschaft in Bellinzona im März 08 hat mit seinem Erfolg und der seltenen Entschlossenheit erstaunt. Ein solcher Kampf fällt nicht aus heiterem Himmel, sondern gründet auf dem kontinuierlichem Aufbau von Gegenmacht. Die These der Revolutionären Aufbau Schweiz, dass einem Kern von entschlossenen und kämpferischen Leuten in Belegschaften diesbezüglich eine grosse Bedeutung zukommt, bestätigt sich auch hier. Wir empfehlen deshalb ein Interview mit dem Streikführer Gianni Frizzo, welches rund ein Jahr nach dem Streik im Rahmen eines Video-Projektes des Kollektivs „Visions of Labor“ geführt wurde. Die Videos sind hier downloadbar: 1 / 2 / 3 / 4. An der Untertitelung wird gearbeitet. Das PDF des Internview stellen wir hier zur Verfügung:

Interview mit Gianni Frizzo
Bellinzona, 5. April 2009

Was hat den Streik ausgelöst? Wie ist es dazu gekommen, dass der Funke gesprungen ist, um diesen nicht unbedeutenden Schritt zu tun?

Hier erleben wir eine Situation, die sich mit vielen anderen Betrieben vergleichen lässt, wo seit Jahren Personal abgebaut wird und mit Restrukturierungen die Arbeitsbedingungen verschlechtert werden. Innerhalb der Officina gab es ein Komitee einer Gewerkschaftssektion, der ich angehörte. Von 1985 bis 1993 war ich Sekretär und von 1993 bis Ende 2007 Präsident dieser Gewerkschaftssektion.

Später, bist Du dann allein ausgetreten oder gab es noch andere?

Genau darum kann man von einem Funken sprechen, der den Streik ausgelöst hat. Seit Jahren vertraten wir eine andere gewerkschaftliche Linie als unsere Zentrale. Unsere Linie unterschied sich von jener der Gewerkschaftsspitzen, die sich zwar jeweils ein wenig auflehnten. Dem ganzen Restrukturierungsprozess aber stellten sie sich nicht wirklich entgegen. So hatten wir zwei Konflikte: einen mit der Firmenleitung und einen internen mit der Gewerkschaftsführung. Während Jahren versuchten wir innerhalb der Gewerkschaft zu arbeiten. Wir versuchten, die Haltung der Gewerkschaftsspitzen zu ändern. Es ist uns nie gelungen. Und die Lage verschlechterte sich immer mehr. Im Jahre 2005 setzten wir die Gewerkschaftsspitzen unter Druck, indem wir als Sektion des Eisenbahnerverbandes SEV eine Übereinkunft mit der Gewerkschaft Unia unterzeichneten. Das war zu einem Zeitpunkt, als wir noch nicht den Austritt aus dem SEV gegeben hatten. Wir standen vor der Wahl, entweder aus dem SEV auszutreten oder diesen Zusammenarbeitsvertrag mit der Unia abzuschliessen. Gleichzeitig hatten wir bereits im Jahre 2000 ein übergreifendes Komitee „Giù le mani dalle Officine” („Hände weg von unseren Werkstätten“) gegründet, dessen Präsident ich war und das für alle gewerkschaftlichen und politischen Kräfte offen war. Wer immer wollte, konnte sich an diesem Komitee beteiligen.

Waren in diesem Komitee nur Arbeiter der Officina oder gab es auch andere?

Das Komitee wurde von der Gewerkschaftssektion geleitet, von den Arbeitern der Officina, ich war Präsident und meine Freunde…

… gab es denn auch Aussenstehende?

Es gab auch Externe, und die Entscheidungen, die Abstimmungen wurden vorgenommen, ohne darauf zu achten, wer berechtigt war und wer nicht. Das heisst, alle, die an den Zusammenkünften teilnahmen, konnten ihre Meinung sagen. Wer teilnahm, konnte mitentscheiden. Wenn wir eine Zusammenkunft organisierten, gaben wir ein kleines Zeitungsinserat auf. Alle, die kommen wollten, waren eingeladen. Und wer kam, hatte das Recht zu sprechen und sich an den Beschlüssen zu beteiligen.  

… und kamen denn auch Externe?

Ja, es kamen auch Externe. Es war ein Komitee, das den Gewerkschaftsspitzen ziemlich hinderlich war. Denn mit diesem Komitee haben wir verschiedene Aktionen durchgeführt. Im Dezember 2006 gab es bereits einmal eine Arbeitsniederlegung. Morgens um halb sieben haben wir eine Kundgebung durchgeführt, und während der Arbeitszeit haben wir einen Umzug durch die Fabrik gemacht. Das alles wurde von diesem Komitee „Giù le mani“ organisiert. Wir haben Unterschriften gesammelt, wir haben verschiedene tolle Sachen gemacht, die den Gewerkschaftsspitzen natürlich überhaupt nicht gefielen.

Deswegen wussten wir, als dann die Schliessungspläne bekannt wurden, mehr oder weniger bereits um den 20. Februar herum, was passieren würde. In der Zwischenzeit – um auf die Frage zurückzukommen – haben fast alle Mitglieder des Komitees den Austritt aus dem Eisenbahnerverband gegeben. Fast alle, ich als Präsident, der Sekretär, der Vizepräsident und zwei weitere, fünf von sieben sind zusammen mit vierzig andern Kollegen aus dem SEV ausgetreten und der Unia beigetreten. Dies auf den 1. Januar 2008.

Deshalb hatten wir um den 20. Februar herum bereits alles gut vorbereitet. Und dann – auf den 28. Februar – haben wir im Volkshaus eine Versammlung für alle Arbeiter der Officine organisiert. Dort haben wir dann beschlossen, innerhalb der Officine eine Urabstimmung durchzuführen, um darüber abzustimmen, wer bereit sei, falls  gravierende Umstrukturierungen angekündigt würden, sich auch an radikalen Kampfmassnahmen zu beteiligen. An allen Eingängen zur Officina haben wir auf die Arbeiter gewartet und eine geheime Abstimmung durchgeführt. Gleichzeitig haben wir von allen auch die persönlichen Daten aufgenommen, mit Natelnummer, um dann später SMS versenden zu können.

War das in den Tagen nach dem 28. Februar?

Ja, ich erinnere mich nicht mehr genau wann, aber es war in dieser Woche.

Die Abstimmung habt Ihr also schriftlich durchgeführt?

Ja, drinnen und alle… etwa 98 % haben Ja gestimmt und waren mit dem Komitee einverstanden. Dann am Montag, 3. März von ein Uhr am Nachmittag an, haben wir während der Arbeitszeit eine Versammlung durchgeführt. Und dabei kam es zu einem ersten Zusammenprall mit der Direktion, welche diese Versammlung nicht zulassen wollte. Es waren alle Arbeiter versammelt… wirklich eine wunderschöne Sache.

Aber dann wurde wieder gearbeitet bis am Freitag?

Nachher, am Mittwoch haben wir gearbeitet. Aber wir hatten bereits ein Flugblatt verteilt, dass sich am Donnerstag um 9.30 Uhr alle einzufinden hätten, in Erwartung eines wichtigen Entscheids des SBB-Verwaltungsrates zu einem Restrukturierungsplan, den wir offiziell noch nicht kannten.

Und das war am Donnerstag?

Also, am Mittwoch haben wir gearbeitet. Die Direktion hat nochmals versucht, Druck auszuüben und alles zu verhindern. Mich als Präsidenten der Personalkommission haben sie zu sich gerufen, sowie die beiden Sekretäre der Sozialpartner. Und dort war dann die Wende, als ich der Direktion erklärte, dass von nun an die Leiter der Officine nicht mehr sie, sondern die Arbeiter seien.

Das geschah am Mittwoch?

Am Mittwoch, 5. März. Die andern beiden mussten still sein, denn ich war weder Transfair, noch SEV, sondern Unia. Deshalb war die Sache klar.

Könnte das nicht eine Idee sein, um den Arbeitsfrieden zu umgehen, auch für Deutschland?

Ja, es war eine perfekte Lösung. Trotzdem habe ich mich sehr schlecht gefühlt, ich war am 1. März 1979 dem SEV beigetreten, und 1985 war ich bereits Sekretär der Sektion und 1993 Präsident, mit andern Worten: Es bleibt eine grosse Verbundenheit. Dennoch spürte ich, dass ich so handeln musste. Und tatsächlich, ich hatte es erraten und den Nagel auf den Kopf getroffen.

Dann, am 5. März haben wir weitergearbeitet und die Direktion hat alle Arbeiter zusammengerufen – nicht in die grosse Halle der „Pittureria“, es war an einem andern Ort – und sie hat versucht, sie unter Druck zu setzen.

Alle zusammen?

Alle zusammen. Die Direktion wollte ihnen klarmachen, dass es einen Gesamtarbeitsvertrag gäbe, der zu respektieren sei, dass noch gar nichts beschlossen sei, dass sie nicht an der Versammlung teilnehmen dürften, die vom Komitee auf den Donnerstag um 9.30 Uhr einberufen worden war. Sie begannen die Leute einzuschüchtern, und als ich das Wort verlangte und sie mich nicht einmal mehr reden lassen wollten, habe ich gesagt: „Aber hören Sie mal, Sie wollen doch nicht etwa dem Präsidenten der Personalkommission den Mund verbieten,“ Auf eine freundliche Art, aber als dann die Leute allmählich wütend wurden, habe ich den Aufruf für die Versammlung wiederholt. Dennoch war mir klar: die Gewissheit, dass am Donnerstag alle in die „Pittureria“ kommen würden, hatte ich nicht.

Das waren sehr heikle Momente…

Sehr heikle Momente, denn auch als Personalkommission konnte ich nicht auf die innere Geschlossenheit aller zählen … Nun, am Donnerstagmorgen haben wir angefangen, zu arbeiten, und dann haben wir auf der Nordseite des Werks eine rechte Anzahl Leute zusammengezogen. Wir haben auf der Nordseite, wo auch ich arbeite und alle sehr gut kenne, begonnen. Dann sind wir allmählich nach Süden gezogen und haben alle mitgenommen. Zum Glück war auch die grosse Halle der „Pittureria“ auf der Südseite. Und bereits am Donnerstag haben wir sogleich Tische und Bänke aufgestellt, so dass sich alle bequem hinsetzen konnten und nicht lange unschlüssig und vielleicht eingeschüchtert herumstehen mussten.

Gab es auch solche – temporär Beschäftigte vielleicht – die Angst hatten, den Arbeitsplatz zu verlieren, oder war das nicht von Bedeutung? Wieviele waren zum Zeitpunkt des Streiks fest angestellt und wieviele temporär?

Zum Zeitpunkt des Streiks waren etwa 340 fest angestellt und mehr oder weniger 70 temporär beschäftigt. Es war eine einmütige Beteiligung, wir haben keinerlei Unterschied festgestellt, weil wir selber diese Unterscheidung auch nicht machten. Wir haben versucht, jener Kategorie, die schwächer und grösseren Risiken ausgesetzt war, auch eine grössere Unterstützung zu geben. Deswegen haben wir spezielle Treffen nur für die Zeitarbeiter organisiert und versucht, ihnen zu erklären…  

Bereits vor dem Streik?

Nicht vorher, aber während der Streikphase. Auch weil der Streik spontan ausgebrochen ist. Vom 3. März an haben alle an unseren Zusammenkünften teilgenommen, und dann war klar, dass zum Kampf aufgerufen wurde, dass an die Solidarität und die Einheit appelliert wurde. Es gab Ansprachen und wir versuchten, die Einheit zwischen den Festangestellten und den Zeitarbeitern zu verstärken.  
Klar gab es auch Ängste und Schwierigkeiten…

Auch die Frage der Wahl des Streikkomitees kam ganz spontan, die Ernennung erfolgte unmittelbar, beispielsweise von mir als Präsident des Streikkomitees, und dann Donatello Poggi, Iwan, Mauro Beretta… das waren Kollegen, die seit Jahren im Komitee waren. Deshalb erfolgte die Ernennung ganz unmittelbar, und niemand hat je diese Köpfe in Frage gestellt. Es gab auch nie einen internen Kampf, auch unter uns war alles klar, und das war eine sehr positive Sache.

Und wie habt Ihr ausgehend vom 7. März nach aussen kommuniziert?

Die Kommunikation war das, was wir die Nabelschnur nannten, die uns mit der Bevölkerung verband und die sehr wichtig war. Die Kundgebungen, dann die Präsentationen, die Geldsammlungen, die Konferenzen. In den verschiedenen Ortschaften haben wir lokale Komitees gegründet. Unterstützungskomitees, die von Leuten ausserhalb der Officina gebildet wurden. Wir gingen nur als Gäste hin. Wir gingen auch in die Gemeinden und in die Schulen, um den Streik zu erklären. Überall gingen wir hin, um zu klären, was wir taten, weshalb wir es taten usw. Und dann ist auch eine Unterstützung für die Gemeinden entstanden. Es waren ja über 400 Personen, die keine Beschäftigung hatten. Deshalb bildeten wir Arbeitsgruppen und fragten bei den Gemeinden an, ob sie jemanden bräuchten, um Wege zu säubern, ob sie dazu unsere Leute brauchen könnten. Wir waren bereit zu helfen. Das war gewissermassen unsere Visitenkarte nach aussen.

Drinnen organisierten wir Konzerte, Theater, Aktivitäten für die Kinder. Wir machten geführte Rundgänge durch die Officine, um den Leuten unsere Tätigkeit näher zu bringen. Auf diese Weise haben wir eine wirklich sehr enge Beziehung zwischen uns und der Bevölkerung geschaffen. Alle wohnten um die Officine herum, aber niemand wusste wirklich genau, was hier drinnen gemacht wird. Wir haben auch eine Werkskantine geschaffen, wo wir gekocht haben. Um die Mittagszeit kamen die Studenten und assen für fünf Franken.

Nun zu einem anderen wichtigen Thema: Bei BSH in Berlin gab es zwei Jahre vorher auch einen Streik, der allerdings in den Händen der Gewerkschaftsspitze blieb. Von rund 600 Arbeitsplätzen konnten nur ungefähr 400 gerettet werden, die andern mussten gehen. Es wäre darum wichtig, eine Verbindung zwischen den beiden Belegschaften herzustellen, weil auch für die übrig gebliebenen Arbeitsplätze die Garantiefrist bald einmal ablaufen wird. Auch die Kollegen dort haben einen Moment lang an eine Betriebsbesetzung gedacht, als die Gewerkschaftsführung den Streik abgebrochen hatte. Die Wut der Arbeiter war sehr gross, weil zwei Drittel das Verhandlungsresultat abgelehnt hatten und den Streik fortführen wollten. Doch sie zögerten ein wenig, und drei Stunden später war es nicht mehr möglich. Die Erfahrungen, die Ihr gemacht habt, sind darum auch für andere Betriebe von grosser Bedeutung.

Wir haben natürlich schon vor dem Streik begriffen, dass wir es uns nicht leisten konnten, die Entscheidungen den Gewerkschaftsspitzen zu überlassen. Wenn wir zugelassen hätten, dass die Gewerkschaftsspitzen die Sache an die Hand nähmen, wäre das für uns das Ende gewesen. Denn wir haben von gewissen Erfahrungen gehört… und dann haben wir diese ja auch selber gemacht: die Sozialpartnerschaft, der Arbeitsfriede. Es gibt immer einen Grund, um nie einen wirklichen Kampf auszulösen. Wichtig ist, innerhalb des Betriebes zwei oder drei Persönlichkeiten zu schaffen, zwei oder drei Bezugspunkte für die Arbeiter, die eine Legitimität und eine Glaubwürdigkeit erlangen, die stärker ist als jene der Gewerkschaftsspitzen.

Es ist klar, man muss etwas aufs Spiel setzen und auch schwierige Momente durchstehen, in denen man sehr leidet. Ich habe viele Niederlagen erlebt, wie auch meine Kollegen. Oft kommst du nach Hause und bist wirklich von allem enttäuscht. Jetzt ist es einfach zu reden, weil es den Streik gab und es für uns ein grosser Sieg gewesen ist, auch vom moralischen und persönlichen Gesichtspunkt aus. Aber vor dem Streik haben wir sehr schwierige Momente erlebt. Niemand hörte auf dich, die Firmenleitung machte, was sie wollte, die Gewerkschaftsführung ging ihren Weg, und du wusstest nicht mehr, was tun. Dann ist es ganz wichtig, seinen Ideen treu zu bleiben und konsequent zu sein. Das heisst, du darfst nie den Versuchungen nachgeben, die sie dir anbieten, und nur so gelingt es dir, etwas aufzubauen. Es hätte auch bis ans Ende meines Lebens weitergehen können, ohne dass es je einen Streik oder sonst was gegeben hätte. Doch jetzt kann ich sagen: „Schaut, versucht es! Ihr werdet zuerst leiden, aber dann werdet Ihr etwas erreichen.“ Das heisst, wenn du deinen Idealen treu bleibst und nicht von gewissen Werten abrückst und unter keinen Umständen bereit bist, um diese zu feilschen, dann spüren das die Leute. Und wenn du Unterstützung brauchst, dann wirst du Unterstützung bekommen. Und genau das ist geschehen.

Bis zu welchem Punkt war es den Arbeitern klar, dass es neue Kampfformen waren, die weit über die vertraglichen Aktivitäten der Gewerkschaft hinausging? Waren sich alle von Anfang an dessen bewusst? Oder wie ist es zu dieser Bewusstseinsbildung seitens der Arbeiter gekommen?

Es gab verschiedene Faktoren. Vor allem denke ich, dass es sehr wichtig war, einen Bezugspunkt zu haben. Zweitens, das Vertrauen in das während der Versammlungen Gesagte. Sie vertrauten dem, was gesagt wurde und glaubten daran. Ein weiterer Faktor war die Einheit. Die Leute waren nicht mehr isoliert, sondern alle waren eine Masse. Auch wegen diesem „Giù le mani dalle Officine“, alle vierhundert zusammen. Das heisst, sie fühlten sich beschützt und waren ein einziger Körper. Darin, glaube ich, war es ein wenig wie die Strategien, welche die Heere benutzten, wenn sie die Kriegstrommeln rührten. Alle zusammen fühlten sie sich als Einheit, und mit dem Schlachtruf „Giù le mani“ liessen wir sie an etwas teilhaben. Anfänglich trauten einige sich vielleicht gar nicht „Giù le mani“ zu rufen, aber dann haben sie diese Hemmungen überwunden. Und da war es wirklich viel einfacher, wenn du keine Vorurteile mehr hast, nichts mehr, das dich zurückhält…

Und vor allem auch die Tatsache, dass diese Nachricht des Verrats gekommen ist. Sie fühlten sich verraten. Leute, die sich sagten: Dein ganzes Leben hast du in den Arbeitsplatz investiert, du hast alle deine Energie gegeben und alles, was du hattest. Und dann eines schönen Tages sagen sie dir: „Wir brauchen Dich nicht mehr“, und sie spucken dir auf diese Art ins Gesicht. Diese Sichtweise – das heisst: die Würde – das hat man da sehr gut sehen können. Wenn du die Würde der Leute antastet, dann schnappt bei ihnen eine Feder ein, dann macht es „klick“. Ich denke, dass das sehr wichtig ist.

Denkst Du, dass so etwas schon in den 80er Jahren möglich gewesen wäre, als die Gewerkschaft noch stärker war, oder definierst Du das als „Kampfform des 21. Jahrhunderts”?

Meiner Meinung nach haben die Gewerkschaften schon Mitte der 90er Jahre oder sogar ab 1985 begonnen, diese Konzepte neuer Produktionsphilosophien zu übernehmen, mit welchen per Stoppuhr die Arbeitszeiten erfasst, das Arbeitstempo beschleunigt und verschlechtert wurde. Seitens der Gewerkschaftsspitzen fehlte die wichtigste Eigenschaft, die meiner Meinung nach eine Gewerkschaft haben müsste, nämlich analysieren zu können, was abläuft. Mit andern Worten: Diese Prozesse, die begonnen haben, wohin könnten sie führen? Oder welche Folgen könnten sie für das Personal haben? Angesichts dieser Produktivitätssteigerung, die nicht nur mit der Einführung neuer Maschinen oder durch Automation erzielt wurde, sondern auch mit der Isolierung des Arbeiters, mit dem Individualismus, mit dem Verlust anderer wichtiger Dinge, da haben sie sich lieber auf den wirtschaftlichen Aspekt konzentriert und einzig mit Lohnforderungen gearbeitet und sich nicht um andere, grundlegendere Gesichtspunkte gekümmert, die meiner Meinung nach wichtiger sind: die Lebensqualität und viele andere Aspekte.

Der Streik in der Officina hat grosse Beachtung gefunden, auch im Ausland. Wie siehst du die internationale Bedeutung dieses Streiks?

Nachdem wir gesehen haben, dass die Globalisierung etwas ist, das uns seit längerem beschäftigt, ist das ein guter Grund, um endlich auch den Kampf zu globalisieren. Oder anders gesagt: das Problem, das wir haben, besteht darin, wie wir über diesen Kampf diskutieren. Wir wollen nicht Klassenbeste sein, wir wollen nicht jene sein, die andern etwas beibringen. Denn es besteht auch diese Gefahr, dass jemand sagen könnte: „Ihr habt besondere Voraussetzungen gehabt, Ihr seid eine Ausnahme.“ Und wir wollen nicht herumreisen und überall von dieser Besonderheit erzählen: „Beklatscht uns, weil wir so toll gewesen sind!“ Nein, darum geht es nicht.

Ich sage nicht, man könne alles übernehmen und eins zu eins kopieren, aber es gibt Elemente, die hilfreich sein könnten, um jemand anderem – vielleicht auch auf eine andere Art – die Kraft und die Gelegenheit zu geben, diesen Streik zu wiederholen. Denn nach meiner Meinung sind die Schwierigkeiten in der Arbeitswelt, die Schwierigkeiten in der Gesellschaft, überall die gleichen, ob in der Schweiz, in Deutschland, in Italien und sonstwo auf der Welt. Deshalb, entweder überwinden wir diese Schwierigkeiten gemeinsam und es gelingt uns, ein „Rezept“ zu finden, und dann werden wir eben den Kampf globalisieren. Das, denke ich, ist grundlegend und nützlich. Ich glaube nicht an die Besonderheit des Streiks in den Officine. Daran glaube ich nicht. Wer versucht, eine solche Botschaft zu vermitteln, der will jemand anderem die Möglichkeit nehmen, sich zu verteidigen. Und die ersten, die das tun, das sind unsere Gewerkschaften. Das sage ich in aller Deutlichkeit.

Kommen wir nochmals auf das Thema der Enttäuschungen und Niederlagen zurück. Gab es eine persönliche Erfahrung, einen Beweggrund, der Dich dazu gebracht hat, nicht aufzugeben und während all dieser Jahre immer weiterzumachen? Gab es da einen besonderen Umstand?

Vielleicht tönt das banal, ich weiss nicht, aber es ist… die Gerechtigkeit. Ich bin ein Starrkopf. In meinem Leben wurde mir immer wieder gesagt: „Denk an deine Gesundheit! Siehst du nicht, dass du mit dem Kopf gegen die Wand schlägst?“ Aber ich bin stets ein Widder gewesen und… – ich weiss nicht, wie ich es sagen soll: Ich bin einer, der nicht mehr locker lässt, wenn er sich einmal in etwas verbissen hat. So ist das, und vor allem habe ich immer alle Angebote und Möglichkeiten zurückgewiesen. Auch hier, sie haben mich in Kaderkurse geschickt, um etwas zu werden. Ich habe immer abgelehnt. Vielleicht war ich ein Dummkopf, denn sie sagten mir: „Bist du blöd! Denk doch an deine Karriere! Denk an dich!“ Aber wenn ich morgens aufstehe und in den Spiegel schaue, dann kann ich sagen, dass ich zwar grau geworden bin, aber wenigstens mit dem Gewissen bin ich im Reinen. Vielleicht ist es die Erziehung, die ich als Kind genossen habe. Ich mag keine Ungerechtigkeiten, ich mag nicht als Angsthase leben. In meinem Leben habe ich immer etwas aufs Spiel gesetzt, aber ich bin glücklich damit. Ich beklage mich nicht, ganz im Gegenteil…

Ich möchte noch anfügen, dass ich sehr zufrieden bin und alles, was ich in meinem Leben gemacht habe, noch einmal tun würde, dass ich eine Ehefrau habe, die mir das nie übel genommen und meine Ideen immer unterstützt hat. Und zweitens habe ich zwei wunderbare Kinder im Alter von 31 und 26 Jahren, die in dieser Hinsicht eigentlich noch besser sind als ich. Sie bringen mir viele Dinge bei über Gesellschaftlichkeit und wie die Gesellschaft aufgebaut werden sollte. Sie haben vielleicht noch klarere Vorstellungen als ich, darauf bin ich deshalb stolz. Und ich spüre, dass ich etwas Gutes im Leben verwirklicht habe, wenigstens in dieser Hinsicht.

Noch etwas anderes, ich habe grosses Vertrauen in die Jugendlichen. Auch während des Streiks sind sie gekommen, ich kann sagen, zu Tausenden. Tausende von Jugendlichen. Und noch heute werde ich in Gymnasien und Schulen eingeladen, um über diesen Streik zu diskutieren. Kurzum, ich habe grossen Respekt vor der Jugend und denke, dass man sehr stark auf diese Jugendlichen bauen kann. Sie haben meine ganze Bewunderung, denn es ist nicht wahr, dass alle Materialisten sind. Im Gegenteil, es gibt Jugendliche mit guten Eigenschaften. Ich denke, dass der grösste Teil von ihnen gute Eigenschaften hat.

… (Hier fehlt die Frage!)

Vor allem ist es ein Slogan, der kein Slogan ist, sondern eine Tatsache, ein Beweis, der meiner Meinung nach weiterverbreitet werden kann: Kämpfen lohnt sich! Und hier haben wir ein Beispiel dafür. Wenigstens sollte man nicht aus Angst, eine Niederlage zu erleiden, auf den Kampf verzichten. Niederlagen gehören zum Leben und – wie wir festegestellt haben – dienen sie dazu, daran zu wachsen. Deswegen macht es nichts, wenn der Kampf in einer Niederlage endet. Wichtig ist vor allem, dass er mit Würde geführt wird und mit Respekt seinem Nächsten gegenüber. Denn ein Kampf wird auch geführt, indem der Gegner respektiert wird, und deshalb mittels einer Verteidigung der eigenen Rechte. Es lohnt sich zu kämpfen und sich zu verteidigen. Und vor allem sollte man nicht zu sehr auf irgendwelche Vorwände der Gegenseite hören, die einem weismachen wollen, was sie tun, das sei notwendig. Es ist meine Verteidigung, die… (Das Interview endet mitten im Satz!)

Mitwirkende des Interviews: Constanze Altmann, Wilfried Dressel, Oliver Schulz, Rainer Thomann