„Ich bin stolz auf die streikenden Sekretäre“

STREIKENDE FUNKTIONÄRE Die Unia-Sektionen Bern und Oberaargau-Emmental bestreiken die Unia-Geschäftsleitung. Damit bringen sie etwas aufs Tablett, was schon lange rumort. Wir haben mit Jörg Studer (Präsident der Unia Nordwest-Schweiz und Personlakomissions-Präsident bei Clariant) über die Situation gesprochen. Weitere Hintergründe gibt es unter www.aufbau.org.

Die streikenden SekretärInnen protestieren seit dem 16. Februar in erster Linie gegen die Absetzung des Sektionsleiters und gegen die Verwarnung der Personalkomissionsvertreter der SekretärInnen durch die nationale Unia-Geschäftsleitung. Hinter dem Konflikt stehen aber auch unterschiedliche Vorstellungen über die Gewerkschaftspolitik. Die Streikenden fordern eine „Gewerkschaft von unten“.Du warst gestern in Bern, die Streikenden besuchen. Wie war das für Dich?J: Ich muss sagen, ich war begeistert, als ich die erste Meldung gelesen haben. Ich haben dann sofort alle Kontaktadressen durchtelefoniert und wusste „Dort muss ich hin“. Ich bin mit einer riesen Freude nach Bern gefahren. Endlich entwickelt sich dieser Apparat, das sind für die Gewerkschaft revolutionäre Zeiten. Schon viel zu lange hat die Basis nichts mehr zu sagen. Jetzt stehen Leute auf gegen die Direktiven von oben, gegen die Apparatschicks. Ich unterstütze Herzog und den Personlakomissions-Vertreter voll und ganz,In Bern habe ich gestaunt. Die Sache ist dort super organisiert. So wie die Kollegen, Sekretäre und Leute von der Basis, miteinander diskutiert haben, Streikposten und Medienmitteilungen zusammen besprochen haben, niemand fällt dem anderen ins Wort. Ich habe endlich wieder das Gefühlt gehabt „Das ist wieder meine Gewerkschaft“. Das hat mir saumässig gut getan.Als ich ankam, sah ich an der Türe einige Basler Sekretäre. Sie waren auch schon dort. Das, was die Berner machen, betrifft viele in der ganzen Schweiz. Viele Leute sind extrem sauer auf die nationale Leitung der Unia. Und ich kann das verstehen. Es hat lange gedauert, aber jetzt ist diese Wut ausgebrochen. In jeder Sektion werden jetzt Versammlungen einberufen. Ich hoffe, dass der Kampf überschwappen wird auf andere Sektionen. Ich habe die Hoffnung, dass sich die Gewerkschaft wieder zurückorientiert zur Basis.Ich muss sagen, ich hätte nicht gedacht, dass so etwas noch passiert in der Unia. Endlich bewegen sich die kritischen Leute nicht mehr alleine.Wieso hättest Du das nicht gedacht?J: Ich bin seit ich 16 Jahre alt bin ein Gewerkschaftsmitglied. Bei der GBI hat man noch gespürt, dass die Basis etwas zu sagen hat. Aber heute bin ich in der Unia in Basel das einzige Basismitglied in der Geschäftsleitung. Das ist ein gefährliches Zeichen, das spüre ich, das kommt nicht gut. Am letzten ausserordentlichen Unia-Kongress in Laussanne hätten die Vertrauensleute gestärkt werden sollen. Mir persönlich war es ein grosses Anliegen, dass zum Beispiel der Zentralvorstand wieder mit Milizleuten besetzt wird. Das ist heute nur noch ein Profiapparat. Aber wir haben die Abstimmung verloren. Nun, es ist klar, „Demokratie“ kann man steuern. Für mich persönlich war das noch mal ein weiteres sehr schlechtes Zeichen für den Apparat und ich war der Überzeugung „Shit. Da wird sich nichts mehr bewegen, da geht nichts mehr“. Deshalb bin ich jetzt so erfreut, ja ich bin voller Emotionen, dass plötzlich doch noch Leute aufstehen und etwas ändern wollen.Die Sekretäre in Bern wollen, dass die Basis wieder das Sagen hat und nicht vom Apparat alles vorgespurt bekommt. Dass die Vorstände und Delegiertenversammlungen, welche die Basis repräsentieren, wieder ernstgenommen werden. Wir, die Milizleute, kommen aus den Betrieben heraus. Ich verstehe schon, dass wir deshalb nicht immer das Know-How haben, vielleicht nicht so gut im Schreiben sind, etwas länger haben, um Abläufe zu verstehen. Das ist klar. Für die Profis im Apparat ist es dann mühsam, mit der Basis noch Extrasitzungen zu machen. So übergehen sie uns. Aber es geht nicht, dass dann die Profis im Apparat und einfach auf die Seite schieben. Für mich ist klar, dass es zu Job von Sekretären gehört, eben die Basis zu schulen, damit wir eben solche Sachen lernen. Man kann doch nicht einfach mit einer Erwartungshaltung an die Basis herantreten, die müssten alles schon können, und wenn nicht, dann übergeht man sie.Die Gewerkschaft muss wieder zurück zur Basis. Es ist höchste Zeit. Wenn wir das jetzt nicht schaffen, dann ist die Unia bald ein Scherbenhaufen wie in England. Nur mit dem Unterschied dann, dass nicht eine Thatcher uns kaputt gemacht hat, sondern die eigene Leitung.Die streikenden Sekretäre sprechen von allgemeineren Tendenzen gegen die sie protestieren. Kannst Du uns das erklären?J: Ja, ich war gestern dabei, als wir den Brief zum Solidaritätsaufruf besprochen haben. Dort wurden die Unia-Methoden als neoliberal bezeichnet. Da bin ich erschrocken und habe gemerkt „Ja, da stimmt, so wie das zur Zeit in der Gewerkschaft funktioniert, das ist neoliberal“. Die Streikenden sagen, man müsse zurück zur Basis. Dann muss man aber aufhören mit der Wunschvorstellung, dass jeder Funktionär 400 Mitglieder pro Monat werben soll. Ich weiss schon, dass die Mitgliederzahl zentral ist. Aber man darf nicht alles darauf setzen. Wenn wir eine gestärkte Basis haben, die eben glaubwürdig ist, dann gibt es automatisch auch richtige Aufnahmen.Und natürlich geht es auch um Machtkämpfe in Bern. Die kennen wir auch von uns, bei Clariant. Dort hätten wir eigentlich einen klaren Gegner, nämlich den Unternehmer, gehabt. Aber die internen Machtkämpfe im Apparat haben mich persönlich aufgerieben. Das hätte ich vorher nie gedacht, da war ich blauäugig. Der Apparat hat nicht mitgekämpft. Was da abgelaufen ist, war und ist ein Skandal und hanebüchern.Sobald wir mit Basisleuten mehr machen wollten, wurden wir von oben gestoppt. Und wenn man als Basismitglied es dann wagt, die Führung zu überspringen, dann wird man knallhart kaltgestellt und ins Offsite gedrängt. Das haben wir selber erfahren müssen, als wir das Konsultationsverfahren bei Clariant anfechten wollten. Wir haben dann sogar im Betrieb Unterschriften gesammelt, um unsere Interessen als Unia-Mitglieder gegen das Regionalsekretariat der Unia Nordwestschweiz durchzusetzen. Das ist hart für ein überzeugtes Gewerkschaftsmitglied. Aber wir müssen auch intern kämpfen. Wir müssen am Morgen in den Spiegel schauen können, und deshalb müssen wir immer alles geben.Und deshalb bin ich sehr stolz auf die streikenden Sekretäre in Bern. Sie riskieren bewusst ihre Kündigung, aber sie ziehen es durch. Das sind top Leute. Ich sage immer „Man kann viele Sitzungen und Verhandlungen machen, aber wenn es dampft, dann muss man den Willen haben, auch gegen den eigenen Chef vorzugehen“.Es sei mal dahingestellt, wie dieser Kampf ausgeht. Aber sicherlich schützt die Öffentlichkeit zur Zeit die Streikenden. Was ist nachher, wie können sie sich vor der nationalen Geschäftsleitung schützen? Wir erinnern daran, dass das Streikkomitee GiuLeMani – kaum war es nicht mehr im Fokus der Öffentlichkeit – auch abgesägt und bestraft wurde. Da ist die Leitung kaltblütig.Die Sekretäre lassen sich jetzt von der VPOD vertreten. Das Risiko besteht natürlich immer, dass nach dem Erfolg die Leute kaltgestellt werden. Vielleicht sitzt die Geschäftsleitung den Streik mal aus, gibt nach und in einem werden dann die Leute versetzt oder gekündet. Dann müssen sie einfach wieder von vorne starten. Aber die Sache hat jetzt schon hohe Wellen geworfen und etwas bewirkt. Nur schon bei mir. Es ist für mich das erste Mal, dass so etwas passiert, und das gibt Leuten wie mir wieder Hoffnung.Die Leitung wäre wirklich gut beraten, wenn sie jetzt die Chance nutzt und mit offenen Ohren und ohne jegliche Sanktionen mit den Leuten zusammenhockt und gemeinsam schaut, was für Fehler gemacht worden sind. Das muss echt und transparent geschehen, nicht nur einfach zum Schein. Und wir alle müssen natürlich ein Auge darauf behalten, dass es jetzt wirklich mal eine Änderung gibt.Seit es die Unia gibt, wird von „Stärkung der inneren Demokratie“ gesprochen. Wieso kommt dieses Thema immer wieder auf, wenn doch von der Führung ganz offensichtlich kein Interesse daran besteht?J: Wie gesagt, Demokratie kann man leicht steuern. Das Problem liegt tiefer. Es gibt Sekretäre, denen ist die Basis wichtig. Die fördern die Vertrauensleute, kritisch zu sein und mitzudenken. Das sind auch die, die dann wirklich die funktionierendsten und stärksten Sektionen haben. Aber ganz vielen Sekretären ist das nicht wichtig. Die suchen einfach irgendeinen einen Job und finden ihn bei der Unia. Die sind dann gar nicht politisch und haben auch keine Ahnung. Natürlich könnte man das auch lernen in der Unia, aber das scheint nicht gewollt von oben. Vor allem aber braucht ein ein gewisses Mass an politischem Grundverständnis, wenn man Sekretär werden will. Und da muss ich als Basis-Mann feststellen, dass der Mix nicht mehr stimmt. Früher hat man Leute aus dem Betrieb, aus der Basis aufgebaut und als Sekretäre angestellt. Die hatten dieses Grundverständnis. Heute stellt man irgendwelche Leute ein. Natürlich bruacht es auch Studierte und Intellektuelle, aber es braucht eben auch Leute, die mal im Betrieb gearbeitet haben und wissen, wovon sie sprechen. Dieser Mix stimmt schon zu lange nicht mehr. Ich habe das Gefühl, bei der GBI war das noch besser, das kann ich aber nicht belegen.Schon immer sehen wir ja gute Leute in der Gewerkschaft, die verheizt werden und dann gehen. Deshalb haben wir immer wieder Ansätze unterstützt, dass sich kritische Funktionäre vernetzen. Das letzte grössere Projekt war das „Netzwerk für eine kämpferische ArbeiterInnenbewegung“, welches aus dem Officine-Streik entstanden ist. Könnte dieser Kampf jetzt eine solche Vernetzung voranbringen?Ansätze von Vernetzung gibt es ja. Überall wird gesprochen. Aber ob die dann halten, ist die Frage. Die Führung wird schauen, dass es den kritischen Sekretären nicht gelingt, sobald sie zu mächtig werden. Sie werden dann die Leute in Einzelgesprächen bearbeiten. Und wenn sich ein Sekretär versucht, auch mit Leuten ausserhalb der Gewerkschaft, zu vernetzen, dann wird er an die Kandarre genommen und diszipliniert. Mir kommt das alles vor wie in einer ganz normalen Firma. Aber die Gewerkschaft kann man nicht einfach leiten wie eine Firma. Aber in Bern wurde gestern ein Signal gesetzt. Und wenn ich es vergleiche mit den Revolten in den arabischen Ländern, so denke ich auch hier: Viele sagen „Es längt“. Die Berner tun, was wir uns schon lange wünschen. Und ich hoffe, dass sich das ausdehnt auf andere Sektionen.