London Calling

AUFSTAND Im August entlud sich die Wut eines Teil des englischen Proletariats in verschiedenen Städten. Was im August in London als direkte Antwort auf einen rassistischen Mord durch die Polizei begann, entwickelte sich zu tagelangen Aufständen und Strassenkämpfen. 

(az/agkk) Auf die Kämpfe antwortete die bürgerliche Gesellschaft medial mit Entpolitisierung des Aufstandes und vor allem mit dem Versuch, Spaltungslinien und Entsoldarisierung innerhalb der Klasse zu provozieren. Es erstaunt deshalb nicht, dass auch viele linke Organisationen zwar Verständnis für die Aktivitäten zeigen, sich jedoch wegen teilweise falschen Angriffszielen auf eine vorsichtige, „bedingte“ Solidarität zurückziehen. Damit von dieser Haltung nicht nur der moralische Zeigfinger übrigbleibt, müssten jedoch konkrete Vorschläge für eine revolutionäre Praxis in solchen proletarischen Brennpunkten und Quartieren gemacht werden. Deshalb haben wir am 15. August ein Interview mit Jonty, von der trotzkistischen Workers Revolutionary Party, und mit Latica, einer Jugendlichen der Young Socialists, geführt. Diese haben wir durch die Unterstützung der Streikenden Gate-Gourmet-ArbeiterInnen 2006 kennengelernt und konnten ihre praktische Arbeit in der proletarischen Jugend in Hackney/London mitverfolgen. In ihren Voten kommt eine Gegenposition zur medialen Hetze zum Ausdruck, welche die Einheit innerhalb des Proletariats stark betont.

RAS: Wie sieht die Situation zurzeit bei Euch in Hackney aus?

J: Anfangs war die Polizei völlig unvorbereitet und überhaupt nicht anwesend. Nach den Riots tauchten sie schliesslich auf und markierten Präsenz.

Die Massnahmen der Polizei waren äusserst befremdlich für die BewohnerInnen der Viertel. Hubschrauber kreisten über den Köpfen und gepanzerte Fahrzeuge sollten die Jugendlichen davon abhalten auf die Strasse zu gehen.

Der Plan war auch, die Bilder der Überwachungskameras im öffentlichen Raum (CCTV) zu nutzen, um die Leute später festzunehmen und Hausdurchsuchungen durchzuführen. Seitdem patrouilliert die Polizei ständig in den Vierteln, bewacht diverse Shops und markiert Präsenz in ArbeiterInnensiedlungen. 

Im Moment blockiert die Polizei Strassen und verweigerte den Zugang. Alle die passieren wollen, müssen den Grund angeben, wohin sie wollen und weshalb.

 

RAS: Wie habt ihr von den Riots erfahren? Wie wurde kommuniziert? 

L: Es wurde eigentlich nicht gross kommuniziert, es war mehr ein spontaner Ausbruch. Die Leute haben die Schnauze voll von der Regierung und sagten sich: also, gehen wir auf die Strasse und machen Radau. Ich glaube es brauchte gar keine wirkliche Organisierung einer Kommunikation, alle wussten einfach davon.

  

RAS: Es heisst hier, dass die Unruhen von Jugendlichen sind. Ist das so?

L: Das stimmt so nicht. Es waren auch ältere beteiligt. So zerschlugen viele Jugendliche die Fensterscheiben von Shops, aber zumeist Ältere raubten diese dann aus.

RAS: In den Medien wird von Gangs gesprochen. Waren die relevant?

L: Nein, das ist nicht so relevant. Das Ganze formierte sich sehr spontan, alle beteiligten sich und es gab eine hohe Einheit. Wahrscheinlich gab es schon Gangs, die sich an den Krawallen beteiligten, aber es war nicht so, dass die führend waren.

J: Unterschiedliche Jugendliche nahmen teil. Unter den Verhafteten waren Leute aus der ArbeiterInnenklasse, der Mittelschicht, gut Ausgebildete oder auch junge Leute aus der Armee. Das ist eine Bewegung von jungen Leuten, die die Schnauze voll haben vom kapitalistischen System.

RAS: Sind viele Frauen beteiligt an den Unruhen?

L: Ich weiss nicht so recht, ich würde sagen etwa gleich viele Frauen wie Männer. Aber es ist ein wenig schwierig das einzuschätzen, weil die Leute vermummt waren. Aber Frauen haben sicher mitgemacht.

RAS: Die Riots sind also ein Ausdruck eines spezifischen jungen Teils der Proletariats. Gibt es Anzeichen einer Spaltung innerhalb der Klasse aufgrund dieser Initiativen?

L: Ja, Kritik gab es schon auch, meistens von Leuten der älteren Generation. Aber sonst zeigten eigentlich viele Leute in den Vierteln Verständnis dafür, denn sie wissen warum das passiert und warum viele Jugendliche diese Form wählen. Die Medien stellen andauernd die Frage, warum diese Proteste stattfinden. Aber ich denke das ist ein Ausdruck davon, dass die Medien und auch die oberen Klassen den Kontakt zu uns hier verloren haben.

Und bei den Protesten der Studierenden zu Beginn des Jahres, die eigentlich ziemlich friedlich waren, wurden die Leute auch geschlagen und verhaftet. Also war jetzt der Zeitpunkt wo sie sich dachten: Scheiss drauf, jetzt gibts Riots!

  

RAS: Wie reagierten linke Organisationen auf die Riots?

J: Die meisten “linken” Organisationen reagierten ähnlich wie die Labour Party – die Jugendliche wurden als Plünderer abgestempelt und moralisch verurteilt,

während die wahren Plünderer und Räuber, die PolitikerInnen, die Hunderttausende Pfund gestohlen haben, nie zur Rechenschaft gezogen wurden.

RAS: Es wurde berichtet, dass es auch Kritik innerhalb der Communities gegenüber den Riots gibt, da die falschen Ziele angegriffen wurden. Was waren die unmittelbaren Ziele der Riots?

L: Es wurden gezielt Job-Zentren und Büros der Regierung angegriffen. Aber es gab auch die Angriffe gegen grosse Ladenketten, wo das Geld ist. 

Mir persönlich gefiel es auch nicht, dass zum Beispiel die Häuser angezündet wurden. Aber andererseits muss man sagen, dass die Riots wohl ohne diese Aktionen niemals eine solche Aufmerksamkeit bekommen hätten. Ich war gegen die Sachen mit Feuer, aber gleichzeitig überhaupt nicht gegen die Proteste.

Die Politiker reagieren auf die Proteste mit einer Kommission, die sich „Cobra“ nennt und die hat jetzt vorgeschlagen, die Jugendlichen von 14 Jahren aufwärts wieder mehr zu unterstützen. Ich denke es war wichtig, dass die Proteste stattfanden.

RAS: Es wurde auch von ethnischen Konflikten berichtet.

J: Die Medien haben völlig übertrieben. Es gab keine Gewalt, die sich auf ethnische Konflikte beziehen. Es gab allgemein wenig Gewalt, ausser einiger abgefackelter Shops; dies war aber unabhängig davon.

Die Hauptsache war, dass die Leute in die Shops gingen und sich die Sachen nahmen, die sie wollten – Trainer, Handys, TVs, etc. Es war eine Umverteilung des Wohlstandes!

RAS: Wie würdet ihr die Riots einordnen im Kontext der kürzlichen Sparmassnahmen bei Bildungseinrichtungen und Sozialprogrammen?

L: Ich sage dir: Es gibt keine, echt keine berufliche Perspektiven. Es gibt ein staatliches System, wo man ungefähr 50 Pfund alle zwei Wochen bekommt und dabei bei der Suche nach Arbeit unterstützt wird. Aber es gibt sehr viele Leute, die schon ewig in diesem System drin sind und nie mehr rausgekommen sind.

Der Abbau ist ein wichtiger Punkt. Viele Jugendliche haben jetzt nicht mehr die sozialen Zentren, wo sie hingehen können, da diese aufgrund der Sparmassnahmen geschlossen wurden. Jetzt hängen sie halt auf der Strasse rum. Das war also sicher auch ein Grund für die Ausschreitungen. 

J: Die Riots sind eine revolutionäre Antwort auf die Krise des kapitalistischen Systems. Junge Leute und ArbeiterInnen haben die Schnauze voll von den PolitikerInnen, die davon reden, dass wir alle im gleichen Boot sitzen, während sie sich von Medienmogulen zum Essen einladen, um schliesslich ihre Interessen zu vertreten. Und die Polizei dringt mit der Überwachung in das Privatleben der Leute ein. Dies nährt die Wut der Jugendlichen und der ArbeiterInnenklasse; sie haben genug von den Heucheleien und Lügen der PolitikerInnen.

  

RAS: Was für Strafen haben die Verhafteten zu erwarten? Was ist sonst zu erwarten?

J: Es wurden äusserst harte Strafen gesprochen. Die Justiz war Tag und Nacht, auch sonntags, damit beschäftigt über 1500 Jugendliche in London und sonst im Land zu verurteilen. Eine junge Person kassierte sechs Monate für das Klauen von Wasserflaschen; ein 11-jähriger etwa wurde verhaftet beim Mitnehmen eines Abfalleimers. Die Regierung spürte den Hauch einer Revolution und sie haben Angst davor.

Cameron ist nun in einen Wettlauf gegen die Zeit und gegen die eigenen Polizeikräfte getreten. So kündigte er an, einen ehemaligen Superbullen aus den USA, Bratton, zu holen, als Berater für eine Verschärfung der Justiz (z.B. Schnellverfahren). Die Polizei war damit übrigens überhaupt nicht einverstanden. 

RAS: Wie ordnet ihr die Riots historisch ein in Grossbritannien (im Vergleich mit denen in den 80er Jahren) und international, insbesondere Frankreich? Die Riots in Frankreich 2005 waren überhaupt nicht spontan und dauerten über drei Wochen. Es waren alle auch sehr diszipliniert (fast keine verletzten Leute). Die Angriffe gingen ganz klar gegen Einrichtungen des Staates (Schulen, Polizeistationen, etc.). Inwiefern ist dies vergleichbar mit den Riots in Grossbritannien heute?

J: Die Riots können nur verstanden werden im Kontext der wachsenden Krise des kapitalistischen Systems. Heutzutage erhebt sich in den meisten Ländern der Welt die Jugend.

 In Frankreich eskalierte die Lage weil junge Menschen angegriffen wurden. Dies führte zu einer Massenbewegung von Jugendlichen, die zurückschlugen. 

 Der Aufstand in Grossbritannien folgte auf Grossdemonstrationen von hunderttausenden jungen Leuten an Schulen und Universitäten letzten Herbst. Die Regierung kündigte damals Sparmassnahmen an und eine immense Erhöhung der Studiengebühren.

 Was in Ägypten, Algerien, Griechenland, usw. passierte, geschah auch in Grossbritannien. Es geht um dieselben Probleme: Massenarbeitslosigkeit, massive Angriffe auf staatlich finanzierte (Aus-)Bildung, Wohnmöglichkeiten, Jobs und Zuschüsse, sowie ein Auflehnen gegen die Polizeigewalt.

 Die Regierung zettelt einen Krieg gegen die jungen Leute an; sie sollen für die ökonomische Krise bezahlen. Was wir letzte Woche gesehen haben, ist der Widerstand der Jugendlichen.

 Und es müssen weitere Aktionen von Jugendlichen erwartet werden. Die heutigen Riots sind ein Schritt in Richtung eines revolutionären Aufstandes, den wir auf der ganzen Welt entstehen sehen.