Kaum eine Debatte wird so verlogen geführt wie jene über die Frage der Gewalt, welche gleich einer Naturgewalt, gleich einer Strafe Gottes die Menschen geisselt, und zugleich Teufels Werk sein muss.1
In der öffentlichen Gewaltdiskussion brodelt der Begriff der »Gewalt« als Einheitsbrei vor sich hin. Dabei konnte sich in den letzten Jahren ein Diskurs durchsetzen, welcher den hegemonialen Ansprüchen der Bourgeoisie beinahe vollständig entspricht. Denn, obschon wir in umfassenden Gewaltverhältnissen leben, diese tagtäglich erleben »dürfen«, bleibt die Debatte um Gewalt beinahe ausschliesslich auf unmittelbare, physische Gewalt gerichtet. Strukturelle Gewalt wird, wenn überhaupt, nur in einem klar begrenzten Rahmen thematisiert, und die Gewaltförmigkeit der kapitalistischen Produktionsverhältnisse wie auch die Mittel ihrer Ausweitung und Aufrechterhaltung werden gar nicht erst unter dem Begriff Gewalt gefasst. Was übrig bleibt, ist die unmittelbare, physische Gewalt nicht staatlich legitimierter AkteurInnen. Ob Hooligan oder Vergewaltiger, Demonstrantin, renitenter Rentner oder Pausenhofschlägerin, im herrschenden Gewaltdiskurs werden sie zu einem einzigen Begriff von Gewalt verschmolzen, deren allgemeine Ächtung zum guten Ton gehört.
Doch eben diese »Gewalt an sich« gibt es nicht und so stellt die Begriffsdefinition selber eine grundlegend politische Frage dar. Unter Ausblendung von Politik und gesellschaftlichem Kontext fokussiert der bürgerliche Gewaltdiskurs an den Kernfragen vorbei.
Der Kapitalismus ist an seine strukturellen Grenzen gelangt und befindet sich in einer Krise, welche sich nicht ausschliesslich durch gesteigerte Ausbeutung überwinden lässt. Wo es unmöglich geworden ist, Kapital gewinnbringend zu investieren ohne der Konkurrenz und der sie vertretenden Staaten Teile des Kuchens zu entreissen, zeigt sich die Aggression des historisch überholten Wirtschaftssystems. Krieg steht längstens auf der Tagesordnung, verschärfte Ausbeutung der ArbeiterInnen und Angestellten und elende Arbeits- und Lebensbedingungen prägen den Alltag eines Gros der Bevölkerung. Wichtiger Pfeiler der bürgerlichen Herrschaft ist ihr Staat und das von ihm ausgebaute Gewaltmonopol. Der bürgerliche Staat ist kein unabhängiger Vermittler zwischen den Klassen, er ist Akteur im Klassenkampf und bedient sich dabei verschiedenster Formen von Gewalt, von subtiler und nur angedrohter bis zu handfester und tödlicher Gewalt. Doch auch wenn die kapitalistischen Produktionsverhältnisse genau so historisch überholt sind wie ihre Vorgänger, stellt sich ihr Ende nicht automatisch ein. Die Kapitalistenklasse klammert sich genauso an ihre Macht und ihren Profit wie ihre Vorgänger, die unterdessen gestürzten und enthaupteten Könige, die erschlagenen Sklavenhalter.
Für kommunistische Organisationen ist es essentiell aus der Analyse der bestehenden Verhältnisse Strategien und Methoden ihrer Überwindung zu entwickeln. Der Aufbau proletarischer Gegenmacht und das Stellen der Machtfrage sind dabei von zentraler Bedeutung. Auch wenn die Machtfrage keinesfalls gleichbedeutend ist mit Gewalt, so kommt der Position zu dieser Frage doch eine wichtige Bedeutung zu. Die »Gewaltfrage« selber kann es so nicht geben, sondern einen Positionsbezug zur gesellschaftlichen Praxis, wie gewaltförmig diese auch immer sein mag. Vielleicht besteht genau im Versuch einer allgemeingültigen Verdammung der Gewalt die Lackmusprobe, an der sich zwischen Verwaltung des Bestehenden und Politik, oder zwischen reformistisch und revolutionär unterscheiden lässt.
Bewusste Vermischung verschiedenster Kategorien
Gerade die strukturelle Gewaltförmigkeit der kapitalistischen Gesellschaft produziert soziale Unsicherheiten und viele Ängste. Das gesellschaftliche Bedürfnis nach Sicherheit ist vor allem ein Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und physischer wie psychischer Integrität. In dieser manifesten oder latenten Stimmung allgemeiner Angst und Unsicherheit trifft der herrschende Gewaltdiskurs ins Schwarze. Indem Gewalt unabhängig von ihren Kategorien, also unabhängig davon, mit welchem Zweck sie sich gegen wen oder was richtet, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung und ihrer Qualität zu einer einzigen, nicht unterscheidbaren Bedrohung verschmolzen wird, zeigt sich der Gewaltdiskurs als Mittel zur Verteidigung des Status Quo. Denn Gewalt im Sinne des oben beschriebenen Diskurses hat immer etwas Aufbrechendes, Änderndes, und steht so dem unmittelbaren Bedürfnis nach Sicherheit entgegen; der herrschende Gewaltdiskurs schürt vorhandene soziale Ängste und fokussiert sie auf eine Angst vor Veränderung.
Dass diese Politik der Angst ihre Wirkung entfaltet, zeigt sich auch daran, wie weit verbreitet die allgemeine, entpolitisierte Ächtung der Gewalt ist; wie schwer es selbst vielen politischen Organisationen, Gruppen und Zusammenhängen der Linken fällt, sich dem bürgerlichen Diskurs zu entziehen und eigene, politische Antworten zu entwickeln. Die herrschenden kapitalistischen Verhältnisse und die sich daraus ergebenden, verschiedensten Formen der Gewalt müssen in ihrer Differenziertheit betrachtet und dazu ebenso differenzierte Positionen formuliert werden. Mit einer pauschalisierten Ablehnung jeglicher Gewalt mag sich eine moralische Erhabenheit einstellen. Angesichts antagonistischer Klassenverhältnisse kann dies aber nur zur völligen politischen Lähmung führen. Die indifferente, pauschale Gutheissung jeglicher Gewalt und ihre Verklärung zum Ausdruck der Revolte wiederum verkennt die realen Ängste und Bedürfnisse auch der proletarischen Bevölkerung. Mit klaren, differenzierten Positionsbezügen tun sich selbst weite Teile der ausserparlamentarischen Linken angesichts des Drucks, sich der allgemeinen Distanzierung von jeglicher Gewalt anzuschliessen, äusserst schwer. Doch genau das tut Not, denn der Kampf um die Köpfe wird verbreitet über den Gewaltdiskurs geführt.
In der bürgerlichen Propaganda hat sich als Kriterium der Politik nicht ihr Inhalt, sondern die Frage der »Gewaltlosigkeit« durchgesetzt. Revolutionäre Inhalte werden in den bürgerlichen Medien grundsätzlich nicht wiedergegeben. Erklärungen zu Demonstrationen oder Propagandaaktionen werden systematisch verschwiegen; dort wo revolutionäre Gewalt auftritt, wird sie als sinnentleert dargestellt.2 Dabei werden griffige Bilder wie das des »Schwarzen Block« mythologisiert und zur Gewalt schlechthin empor stilisiert. Die Ausschlachtung dieses Gewaltbegriffs kulminiert in der These, nach der sich »linke« und »rechte«, sprich sogenannt »radikale« Positionen berühren.3 »Gewalt« eint somit alle: Taliban, Nazis, Kommunisten, Terroristen4. Die Antwort auf eine solche Gleichschaltung kann nicht im beschämten Rückzug einer revolutionären Linken liegen. Im Gegenteil müssen über die politische Analyse der bestehenden kapitalistischen Gewaltverhältnisse Positionen formuliert werden, welche zwingend eine offensive Praxis zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise beinhalten.
Prävention
Es wäre eine Selbstüberschätzung zu denken, die revolutionäre Linke, ihre Demonstrationen und Propagandaaktionen stellten zur Zeit für einen bürgerlichen Staat in Europa oder Nordamerika eine ernsthafte Bedrohung dar, welche die massive polizeiliche (und teilweise auch militärische) Aufrüstung rechtfertigen würde. Dennoch scheint der Hegemonieanspruch der Bourgeoisie mit immer härteren Bandagen durchgesetzt zu werden. Neben der entpolitisierenden Wirkung des Gewaltdiskurses rechtfertigt er den Ausbau der Überwachung des öffentlichen Raumes sowie die uneingeschränkte Ausweitung des Gewaltmonopols des Staates, zum Beispiel durch eine ins Absurde5 gehende Verschärfung des Waffengesetzes6 und die Kriminalisierung politischer Organisierung und Propaganda. Mit der ideologischen und repressiven Offensive ist nicht in erster Linie die revolutionäre Linke gemeint, sondern jegliche Form von Widerstand und Perspektive, welche sich auf die eine oder andere Art gegen die sich verschärfenden Ausbeutungsverhältnisse zur Wehr setzt. Auch reformistischen Parteien und Gewerkschaften wird so der Tarif durchgegeben.
1 Dieser Artikel ist eine starke Zusammenfassung eines längeren Artikels des revolutionären Aufbaus, welcher in der Ausgabe 02/2011 – Gewalt, Angst und Politik des Zeitbuchs »Respektive« erschienen ist. Der vollständig erschienene Artikel kann untenstehend als Anhang heruntergeladen werden.
2 Dazu passt die Anordnung des Grünen Polizeivorstehers der Stadt Zürich sämtliches am 1. Mai 2011 beschlagnahmtes Propagandamaterial sofort zu vernichten, siehe dazu: »Linke Politik auf dem grünen Scheiterhaufen« Artikel vom 13.6.2011 hier.