Die Gedanken der herrschenden Klasse

Artikel aus aufbau Nr. 66: Reaktionäre Mobilisierungen wie die SVP Kundgebung die für den 10.September angesagt ist, sowie die Hardcore-Christen-Mobilisierung gegen Abtreibungen (ent)stehen nicht in einem leeren Raum. Vielmehr stehen sie auf einem Boden reaktionärer Entwicklungen und sollen diesen weiter festigen.

(gpw) Das Klima der Angst und Unsicherheit, hervorgerufen durch die anhaltende ökonomische Krise, ist längst umgeschlagen in die Gewissheit dass, der Kapitalismus nur für wenige eine lebenswerte Perspektive zu bieten hat. Nach rund dreihundert Jahren ist das kapitalistische System an die Grenzen seiner Entwicklungsfähigkeit gestossen. Die umfassende Vergesellschaftung der Produktion steht in einem unlösbaren Widerspruch zur privaten Aneignung und Bestimmung über das gesellschaftlich erarbeitete Produkt. Kapital- und Warenüberproduktion auf der einen Seite, Arbeitslosigkeit, soziale Verelendung und Krieg auf der anderen Seite sind der perverse Ausdruck dieser Situation.

Das heisst aber nicht, dass eine Perspektive jenseits des Kapitalismus als einzige Alternative ins Bewusstsein der Mehrheit eingegangen ist. Viel mehr wird versucht die Krise möglichst auf dem Rücken anderer zu lösen, für jedes Teilproblem werden Schuldige gesucht. (Siehe Kasten auf dieser Seite.)

Während die UnternehmerInnen einen wirtschaftlichen Vorteil aus den MirgantInnen ziehen, missbrauchen sie diese zur gleichen Zeit als Sündenböcke. Denn wenn die Mehrheit der Bevölkerung täglich mit Sozialabbau, Entlassungen und Sparprogrammen konfrontiert ist, entsteht Frustration und Aggression.

Rechte und Reaktionäre wissen mit Geschick und sehr viel Geld daraus politisches Kapital zu schlagen indem sie so genannten Randgruppen die Schuld an Armut, Arbeitslosigkeit oder Wohnungsnot sowie am so genannten «Wertezerfall» geben. An der Lohndrückerei sind die ausländischen ArbeiterInnen schuld, nicht das Streben nach Profit der Bourgeoisie, am Staatsdefizit die «Scheininvaliden» und selbst an den Atomkraftwerken in der Schweiz sind laut SVP die hier wohnhaften AusländerInnen schuld.

Die bürgerlichen Parteien

Der Erfolg dieser Partei und ihr «Verdienst» innerhalb des bürgerlichen Machtapparates ist es denn auch praktisch alle relevanten Kräft Rechts ihrer selbst aufgesogen und die Schaffung eines reaktionären politischen Klimas vorangetrieben zu haben. Damit rutscht die gesamte bürgerliche Herrschaft nach rechts und Angriffe gegen das Proletariat oder Teile davon lassen sich einfacher durchsetzen.

Die Rechtsentwicklung ist aber nicht nur Sache der SVP, sie sticht dabei vorallem mit ihrer offenen Hetze gegen AusländerInnen, IV BezügerInnen oder Arbeitslose ins Auge. Andere Parteien ziehen mit anderen Schwerpunkten mit. Nicht umsonst beginnt ein Werbefilm der SP Stadt Zürich damit: «In den neunziger Jahren war Zürich eine Stadt für Arme, Alte und Ausländer […]»1. Eine klare Ansage, wen und wen nicht, die SP als legitime EinwohnerInnen einer Stadt sieht und an der Umsetzung des «Versprechens» auf eine Stadt ohne Arme, Alte und Ausländer wird kein Zweifel gelassen. Weiter geht es dann auch damit, dass dies dem «Lokalen Gewerbe jährlich 800 Millionen Franken an Aufträgen» eingebracht hat. Dies wird bei den aus den Quartieren vertriebenen ProletarierInnen sicher besser ankommen als bezahlbarer Wohnraum.

Eher peinlich mutet der Versuch der FDP an, mit dem Wahlslogen «Aus Liebe zur Schweiz» auch noch auf den Zug der Vaterlandsliebenden aufzuspringen. Ihr Steckenpferd liegt dann auch in einem anderen Bereich, Angriffe gegen das Arbeitsrecht oder Sozialleistungen. Ihr Klientel, hauptsächlich die imperialsistische Bourgeoisie, macht dann ihren Profit auch nicht nur in der Schweiz sondern eben international.

Tatsache ist, dass jede bürgerliche Partei, ob SVP, SP, FDP oder jede andere, die Interessen des Bürgertums vertritt, einfach mit verschiedenen Strategien und in verschiedene Fraktionen. Diese Fraktionen der Bourgeoisie können ihren Profit, nebst dem dass sie versuchen die Folgen der ökonomischen Krise auf das Proletariat abzuwälzen, nur auf Kosten der andern Fraktionen der Bourgeoisie halten oder ausbauen. Zu tief ist die strukturelle Krise des Kapitalismus, als dass Kompromisse zwischen den verschiedenen Interessengruppen die Lage grundsätzlich noch ändern könnten.

Kampf ums Bewusstsein

Diese verschiedenen Fraktionen der Bourgeoisie2 ringen um Einfluss und Vorherschaft und müssen dazu Bündnisse mit anderen Fraktionen und gar anderen Klassen eingehen. Letztlich sind die Bourgeois eine kleine Minderheit und die einzelnen Fraktionen innerhalb können die Machtansprüche nicht stellen ohne diese Bündnisse. Im Gegensatz zum Proletariat hat die Bourgeoise ein Bewusstsein als Klasse, was ihnen die Aufrechterhaltung ihrer Macht erst ermöglicht.

Somit versuchen die bürgerlichen Parteien die Klassengrenzen und damit die Klasseninteressen zu negieren und damit Klassenübergreifend Mitglieder und WählerInnen zu mobilisieren.

Das Bewusstsein über die eigene Klassenzugehörigkeit spielt dabei die entscheidende Rolle, das Bewusstsein, dass keine Partei, keine Institution, keine Interessenvertretung und schon gar nicht der Staat ausserhalb der Klasseninteressen besteht.

Der kapitalistische Produktionsprozess hat in den letzten Jahrzehnten zu einer Zersplitterung der Klasse und einer differenzierten Klassenzusammensetzung geführt. Dadurch ist ein Klassenbewusstsein schwieriger zu erlangen, jedoch genau dieses ist der erste Schritt um die eigenen Interessen wahrzunehmen und dafür kämpfen zu können.

«Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche herrschende Gedanken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht.»

(Karl Marx / Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie)

Dies heisst für uns nichts anderes, als dass wir uns darauf konzentrieren müssen die herrschende Ideologie als das zu diffamieren, was sie ist, die Ideologie der Herrschenden.Aus diesem Grund müssen wir alle Kämpfe, die die Entwicklung eines proletarischen Klassenbewusstseins vorantreiben, unterstützen. Jeder Streik, jeder Widerstand gegen die Offensiven der Bourgeoisie und jeder Angriff gegen die Klasseninteressen der Herrschenden trägt dazu bei, die Perspektivlosigkeit ein Stück zu durchbrechen.

Entschiedenes Entgegentreten

Die Rechtsentwicklung steht dieser Bewusstseinsentwicklung diametral gegenüber, sie ist der Inbegriff von Entsolidarisierung und Spaltung innerhalb des Proletariats und spielt damit den Interessen der Bourgeoisie direkt in die Hände.

Diesen Angriffen, den ideologischen wie den, diesen auf den Fuss folgenden, sachlichen Angriffen, ist unser Widerstand entgegenzustellen. Mit der Konzentration darauf dass das Klassenbewusstsein gestärkt wird. Nur mit einer klaren Klassenposition und eine entsprechende politische Praxis, nur damit ist es möglich die fortschritlichsten Kräfte anzusprechen und proletarische Kämpfe zu unterstützen, was zur Entwicklung des Klassenbewusstseins zwingend notwendig ist.

Dass fortschrittliche Kräfte von der Strasse als Kampfterrain gedrängt werden sollen, war in den letzten Jahren nicht zu übersehen und wurde auch schon mehrfach thematisiert. Auf die Spitze getrieben wurde dies am 1. Mai dieses Jahres als ein ganzes Quartier militärisch besetzt wurde und am 2.Mai sämtliches konfisziertes politisches Material vernichtet wurde.

Diese Entwicklung steht jedoch auch nicht für sich alleine, auf der anderen Seite haben die Vertreter der reaktionären Tendenzen die Strasse für sich auch wieder als Kampfgebiet entdeckt und nutzen dieses auch. Nichts darf uns davon abhalten dieser Entwicklung entgegenzutreten, mit welchen Formen auch immer, um unsere eigene Seite zu stärken.

Denn die SVP-Spitze, so wagen wir zu behaupten, findet ganz im Gegenteil im Sinne der wirtschaftsliberalen Interessen, die sie vertritt, der Preis der Ware Arbeitskraft solle vom Markt bestimmt werden und nicht durch Gesamtarbeitsverträge oder derlei «linke Regulationsdiktate».

Die Sorge um die Löhne ist für die Parteispitze also nicht mehr als ein Werbe-Schachzug, für viele Mitglieder und WählerInnen hingegen mit Sicherheit ein sehr ernsthaftes Anliegen. Das hingegen ist ein Punkt, in dem die SVP anderen Parteien weit überlegen ist. Sie hat die Fähigkeit, Widersprüche in sich aufzuheben und unter einer einfachen ideologischen Klammer zu vereinigen. Arm und reich gemeinsam, Hauptsache Schweizer!

Kampf um den Kopf

Es wäre aber falsch, nur kurzfristige Wahltaktik hinter dieser Initiative zu vermuten, denn die SVP hat weitreichende Ziele. Sie will die Hegemonie über die Köpfe und als einzige Kraft dastehen, die im Gegensatz zu den Linken die Interessen aller – gemeint ist «das Volk» – verteidigt. Die SVP will dafür eine Massenpartei sein und die Massen zu kontrollieren traut sie sich dank grosser finanzieller Ressourcen auch zu. Dies zeigt sich unter anderem in der Initiative zur direkten Wahl des Bundesrates. Das bisherige behäbige Wahlsystem im Parlament hat sich für die Bourgeoisie sehr wohl bewährt. Das vorgeschlagene neue System ist für die SVP nur deshalb sinnvoll, weil sie ohnehin den permanenten Wahlkampf plant und sich gerne und behende auf dem öffentlichen Parkett bewegt und eben, dafür auch Geld auszugeben willig ist. Die Rechte bemüht sich im Moment ebenfalls erfolgreich um die Vormachtstellung in der Medienlandschaft und investiert Kapital in finanziell ruinierte Printmedien. Auch das geschieht nicht, weil das Geschäft dermassen profitabel ist, sondern ist eine politische Investition.

Der SVP-Spitze geht es deshalb immer stark um die mediale Aufmerksamkeit – diese ist ihr mit der Einwanderungsstopp-Initiative gewiss. Wie bei der EWR-Abstimmung 1992 wird sich die SVP als David gegen den Goliath Rest-Schweiz präsentieren können, denn alle Wirtschaftsverbände und anderen Parteien werden gegen sie antreten und behaupten, die Annahme dieser Initiative würde die Schweiz in den wirtschaftlichen Ruin führen. Die economiesuisse wird wortreich belegen, dass die Ablehnung der Personenfreizügigkeit den Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen zur Folge haben werde und schlicht nicht denkbar sei, FDP und CVP werden sich ihr anschliessen. Die Krise der EU hat sogar in der SP zur Einsicht geführt, dass die EU im Moment keine Option ist, im Gegenteil würde das Beharren auf einen Beitritt alle WählerInnen vergraulen. So steht die SP nackt da, ohne Position oder Programm in einer der zentralen Fragen der Zeit.

Auch 1992 hatten sämtliche Wirtschaftvertreter den Niedergang prophezeit, sollte der Beitritt zur EWR abgelehnt werden. Nur die SVP hatte chauvinistisch und selbstbewusst den Sonderweg vorgeschlagen. Die bilateralen Verhandlungen haben sich aber im Nachherein als Erfolgskurs erwiesen und heute will niemand mehr diesen Weg verlassen. Jene, die noch der EU beitreten wollen, sind zu Rufern in der Wüste geworden, die keine ernstzunehmende Kraft repräsentieren. Ganz im Gegensatz zur SVP. Sie wagt wieder als einzige den beschrittenen bilateralen Weg anzugreifen, indem sie 100% chauvinistisch auftritt und erklärt, die EU brauche die Schweiz und nicht umgekehrt. Ihre Chancen auch diesmal den Kampf zu gewinnen sind intakt, was deshalb störend ist, weil es sich in der breiten Bevölkerung tatsächlich so darstellt, als könnten Arbeitsstellen und Löhne ausschliesslich reaktionär verteidigt werden. Der Schutz der Arbeitsstelle verbindet sich mit dem allgemeinen Kampf gegen «Ausländer», die gemäss Propaganda in die Schweiz einfallen, um hier auf der faulen Haut zu liegen und die Sozialwerke zu missbrauchen. Nicht einmal die Gewerkschaften können einen starken Gegenstandpunkt markieren, sie mobilisieren nicht ihre Basis, sondern fordern weiterhin flankierende Massnahmen, einen Papiertiger. Die Kontrollen der flankierenden Massnahmen haben bisher vor allem dazu gedient aufzuzeigen, dass die flankierenden Massnahmen nicht greifen, weshalb das Vertrauen in sie klein ist. Alle anderen grösseren Verbände und Parteien finden die Personenfreizügigkeit einfach optimal für die Wirtschaft, der Lohndruck sei das notwendige Übel, welches das Proletariat halt zu ertragen habe, denn die Industrie brauche ein Reservoir an Personal.

Widerstand, der keiner ist

Also bleibt den ProletarierInnen in ihrer berechtigten Sorge nur die SVP-Initiative. Diese ist aber eine rassistische Kampagne, welche auf dem Mythos der völkischen Souverenität aufbaut: Der Mythos der wehrhaften Schweiz und der Schweizer – die Frauen werden nicht erwähnt – wird als positiver Gegenpol zur Fremdbestimmung durch die Vögte aus Brüssel aufgebaut. An Stelle der internationalen Solidarität und des Klassenstandpunkts tritt Entsolidarisierung und klassenübergreifende nationale Borniertheit.

Die EU ist ein Projekt der Bourgeoisie, ArbeiterInnenrechte und Sozialwerke sollen abgebaut und das Militär aufgebaut werden, um nur wenige Punkte zu erwähnen. Die kapitalistische Schweiz, das hat die SVP hinlänglich bewiesen, braucht die EU nicht, um tiefe Steuersätze und Sozialabbau voranzutreiben. Sie braucht die EU hingegen dringend als Absatzmarkt für ihre Exportprodukte und als Produzentin der Importprodukte. Die SVP als Vertreterin der Bourgeoisie wird dieses vitale Interesse der Wirtschaft nicht aufs Spiel setzen. Sie ist keine Feindin der EU, sondern hält die Schweiz für wirtschaftlich mächtig genug, Sonderbestimmungen einzufordern. Tatsächlich kann sie davon ausgehen, dass die krisengeschüttelte EU im Falle einer Annahme dieser Abstimmung nicht auf stur schalten und den offenen Konflikt mit der Schweiz vermeiden wird. Und sollte sie es dennoch tun, so würde die Schweizer Exekutive in Sorge um die Interessen der Wirtschaft Wege finden, das Abstimmungsresultat zu umgehen, also alles daran setzen, dass der Markt weiter funktionieren kann. Das würde der SVP dann reichlich Stoff für lautstarkes Lamento bieten, sie könnte sich in der Opferrolle gebärden, was sie unabhängig von den wirklichen Machtverhältnissen immer gerne tut und die Interessen der Wirtschaft wären dennoch gewahrt.

Unter dem Strich ist also davon auszugehen, dass die Abstimmung nichts ändern wird. Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes wurde durch die Annahme der Personenfreizügigkeit losgetreten, sie wird in der gegebenen Krise sicher nicht gebremst werden, am wenigsten durch die SVP. Diese wird aber behaupten, sie habe für das Volk gekämpft. Das ist der wirklich schädliche Aspekt bei dieser Kampagne: Die Rechte punktet auf einem Kerngebiet der Linken mit deftigen Schlagwörtern. Diese tönen manchmal gut, sind aber bei genauer Betrachtung Ablenkungsmanöver einer streng antiproletarischen, wirtschaftsliberalen Politik.