Schritt für Schritt zur Privatisierung

aus aufbau 76:

Die Spitäler geraten ins Fadenkreuz der Privatisierung. Doch es steckt mehr dahinter als der altbekannte Sozialabbau in Zeiten der Krise. Es handelt sich um eine sogenannte produktive Umgestaltung des Gesundheitswesens, wie das Beispiel Winterthur zeigt.

(agw/az) Das Kantonsspital Winterthur (KSW) ist eines der zehn grössten Spitäler der Schweiz und im Grossraum Winterthur ein wichtiger Faktor in der gesundheitlichen Erstversorgung. Beinahe 3‘000 MitarbeiterInnen behandeln dort im Jahr über 180‘000 PatientInnen. Das KSW bietet seit über 100 Jahren umfassende und hochspezialisierte medizinische Versorgung an. Betrieben wurde es während dieser Zeit durch den Kanton Zürich, der die Defizite deckte und bei betrieblichen Entscheiden mitredete. Im Zuge der allgemeinen Liberalisierung wurde im Jahre 2007 das KSW in eine «selbständige öffentlich-rechtliche Anstalt» umgewandelt. Der Regierungsrat versprach sich davon eine Entflechtung der kantonalen Verwaltung und mehr unternehmerischen Spielraum für das Spital. Das Begehren wurde an der Urne angenommen, auch dank der stetigen Beteuerungen, dies sei sicher kein Schritt in Richtung Privatisierung. Dass diese Aussage nur eine Farce war, und dass einmal mehr die beliebte Salamitaktik auch beim Privatisieren angewendet wird, zeigt sich heute überdeutlich.

Der Staat gibt gerne ab – die Privaten freut’s 

Schon 2012 befasste sich der Kanton erneut mit der Privatisierung des KSW. Der Regierungsrat stört sich am Rollenkonflikt als Besitzer und gleichzeitigem Marktregulator. Bei dieser Kritik wird das Pferd wohl bewusst von hinten aufgezäumt, denn in den Rollenkonflikt kommt der Kanton erst durch die Tatsache, dass in den öffentlichen Sektoren die Privatwirtschaft immer mehr eindringt. So soll das Spital bis Mitte 2014 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt werden, um im Konkurrenzkampf weiter bestehen zu können. Doch die MitarbeiterInnen berichten über ein totales Stillschweigen bezüglich konkreter Pläne – gut möglich, dass da was im Busch ist. Denn es haben bereits private Firmen Interesse gezeigt. Genolier, zweitgrösstes privates Spitalunternehmen der Schweiz, quittierte die Privatisierungspläne des Regierungsrates mit folgendem Satz: «Die Grösse des KSW wäre für uns ideal.» Was es heisst, wenn Genolier privatisiert, haben wir in Neuchâtel am Spital La Providence gesehen: Sie kündigten den Gesamtarbeitsvertrag, planten Personalabbau und Auslagerungen und die Streikenden, die gegen diesen massiven Angriff auf ihre Arbeitsbedingungen kämpften, wurden kurzerhand fristlos entlassen. Warum diese Privatisierungsschritte im Gesundheitsbereich? Sind diese Angriffe zu verstehen als Teil der Antwort des Kapitals auf die Krise, als Sozialabbau und Lohndrückerei für den Profit? Ganz bestimmt, aber wir denken, dass im Gesundheitswesen noch ein weiterer – fürs Kapital hochinteressanter – Aspekt dazu kommt. Die Credit Suisse (CS) hat kürzlich eine Studie über die Investitionsmöglichkeiten in der Schweizer Spitallandschaft veröffentlicht. «Das Gesundheitswesen ist eine der grössten Branchen der Schweizer Volkswirtschaft und ein ausserordentlicher Wachstumssektor mit zunehmender Bedeutung», heisst es darin. Das Gesundheitswesen, als riesiger Wachstumsmarkt, ist ein Lichtblick für das Kapital. Die CS-Studie zeigt auch geografisch, wo sich die Investition in Krankenhäuser lohnt: in Gebieten mit einer geringen Versorgungsdichte und einem hohen erwarteten Bevölkerungswachstum. Das KSW und auch das Spital Affoltern – das im November einen ersten Privatisierungsversuch erfolgreich abwehrte – befinden sich in solchen Regionen.

Die produktive Umgestaltung des Gesundheitswesen

Wir erleben eine sogenannte «produktive Umgestaltung des Gesundheits- und Krankenhaussektors», wie der Fribourger Soziologe Maurizio Coppola es nennt. Der Begriff «produktiv» bezieht sich nach Marx nicht auf die stofflichen Kriterien der Arbeit (also nicht auf die Frage, ob eine Arbeit sinnvoll ist oder nicht), sondern rein auf die ökonomische Form, in der sie verrichtet wird. Produktiv ist im Kapitalismus allein die Arbeit, die Mehrwert schafft und so zur Kapitalakkumulation beiträgt. Es geht beim Gesundheitswesen um die Öffnung für den Markt in einem Bereich, der seit je stark staatlich reguliert wird. In diesem Sektor arbeiten hierzulande rund 541 000 ArbeiterInnen, 30% davon in Krankenhäusern. Betrachten wir die Spitallandschaft genauer, wird die Privatisierungstendenz klar sichtbar. Heute gibt es 300 Spitäler, 153 öffentliche und 147 private. 2005 waren es noch 337 Spitäler, 208 öffentliche und 129 private. In den Spitälern arbeiten 140’000 Angestellte, davon 45% in der Pflege. Die Personalkosten sind hoch und belaufen sich auf 63% der Gesamtkosten. Wir können an dieser Stelle nicht auf die Organisierung der Care-Arbeit eingehen, doch die Tatsache, dass sich die Produktivität der Care-Arbeit schlecht steigern lässt, kann problematisch sein für das Kapital, wenn es eine «produktive Umgestaltung» in diesem Bereich vorantreiben wird.

Fallpauschalen als Hebel der Umgestaltung

Damit das Kapital diesen Bereich erobern kann, muss der Staat zurückgedrängt und die Regulierung so verändert werden, dass Konkurrenz und Profite winken. Immer schon gab es mit dem medizinischindustriellen Komplex, zu dem die Pharma und medizinischen Gerätehersteller zählen, eine gewichtige kapitalistische Industrie im Gesundheitswesen. Doch mit den aktuellen Veränderungen geraten die Spitäler als ganze Institution ins Blickfeld des Kapitals. Für die Umgestaltung wurden die Rahmenbedingungen der Krankenhäuser verändert. Die entscheidende Revision war die Fallkostenpauschale, die 2012 in der Schweiz eingeführt wurde. Mit ihr wurde die Tagespauschale im stationären Bereich durch eine Fallpauschale ersetzt. Das bedeutet, dass nicht die effektive Leistung des Spitals bezahlt wird, sondern eine durchschnittliche Pauschale pro Krankheitsfall. Das ermöglicht es dem Spital, Profit zu erwirtschaften. Zweitens wurden die öffentlichen und privaten Spitäler gleichgestellt. Neu bezahlen die Kantone beiden 55% der Kosten (die Krankenkassen zahlen die restlichen 45%), während die privaten Spitäler früher nicht durch die Kantone mitfinanziert wurden! Drittens gibt es durch diese Gleichstellung keine kantonale Defizitgarantie mehr, die die öffentlichen Spitäler vor dem Konkurs schützen würde. All diese führt zu einer massiven Konkurrenz unter den Spitälern.

Deutschland ist die düstere Zukunft

In Deutschland sind die Folgen dieser Ökonomisierung bereits deutlich sichtbar, denn dort gibt es die Fallpauschalen schon seit 2004. Mit fatalen Auswirkungen für das Personal: Der Anteil der Vollkräfte in der Pflege sank in Deutschland zwischen 1995 und 2010 um 13.2%, während im selben Zeitraum die PatientInnenzahlen um 11.8% zunahmen. Das bedeutet eine massive Arbeitsverdichtung! Während beim Personal gespart wird, versuchen die Spital-Chefs zugleich, die Fallzahlen bei lukrativen, technisch aufwändigen Eingriffen – wie Herzkatheter oder Hüftprothesen – zu steigern. Nadja Rakowitz vom Verein demokratischer Ärzte und Ärztinnen formuliert diese paradoxe Situation treffend: «Es gibt eine Überversorgung mit technischen Prozeduren und mit aufwändigen Massnahmen, indessen jedoch oft auch eine Unterversorgung der Patienten, was die Zeit und die humane Betreuung betrifft – und zu prekäre Bedingungen für das Personal.» Genau das ist die Folge der produktiven Umgestaltung durch das Kapital: Die hochtechnisierte, geräteintensive Medizin wird ausgebaut, weil das Mehrwert generiert, während die Kosten der schwer rationalisierbaren Pflegearbeit auf ein Minimum gedrückt wird. Zudem ist die Unterfinanzierung von einem Teil der Krankenhäuser durch die Fallkostenpauschalen vorprogrammiert, denn schliesslich werden die Pauschalen immer wieder neu berechnet. Somit wird es immer Spitäler geben, die «zu wenig effizient» arbeiten.

Profit für die Firmen, Kosten für die Bevölkerung

Und in der Schweiz? Mit den Fallpauschalen wurde die Grundlage für den Eintritt des Kapitals in das Gesundheitswesen geschaffen. Das ist ein wichtiger Wachstumsmarkt für das Kapital. Aber andererseits hören wir täglich das Gejammer über die «Kostenexplosion» im Gesundheitswesen. Ein Widerspruch? Eben nicht. Denn hier kommt der zweite Aspekt der «produktiven Umgestaltung» ins Spiel. Wachstum ist erwünscht, ja sogar notwendig, aber nur, wenn die Kosten von der Allgemeinheit getragen werden und als private Profite eingesteckt werden können! VerliererInnen dieser Entwicklung sind die Arbeitenden im Gesundheitssektor und die PatientInnen, kurz: Die ArbeiterInnenklasse. So heisst es ständig, das Spitalpersonal solle gefälligst schneller arbeiten und bei den PatientInnen ist die «Selbstverantwortung» das Wunderwort. Prämien werden laufend erhöht und zugleich wird versucht, den obligatorischen Leistungskatalog der Krankenkassen zu kürzen. Wo solche Angriffe stattfinden, ist Widerstand vorprogrammiert. In letzter Zeit häufen sich die Arbeitskämpfe im Gesundheitsbereich. Stimmen werden laut, die nicht gewillt sind, als geschliffenes Rädchen diese produktive Umgestaltung fürs Kapital kampflos zu ermöglichen. Die Umgestaltung bringt schliesslich auch eine Produktionsmacht im Gesundheitswesen hervor, von der wir hoffen, dass sie sich in Zukunft dem Kapital mit Streiks und Kämpfen entgegenstellen wird.