Türkei fördert IS-Terror

Zahlreiche Tote bei neuem Angriff des »Islamischen Staats« auf die syrisch-kurdische Stadt Kobani. Kriegsgeschrei in Ankara

Bei einem neuen Angriff der Terrororganisation »Islamischer Staat« (IS) auf die syrisch-kurdische Stadt Kobani wurden am Donnerstag mindestens 22 Zivilisten getötet und über 50 verletzt. Die Attacke erfolgte in den frühen Morgenstunden mit mehreren mit Sprengstoff präparierten Fahrzeugen nahe dem Grenzübergang zur Türkei. In die Stadt eingesickerte IS-Gruppen, die sich zur Tarnung rasiert hatten und türkische Uniformen trugen, eröffneten rund um das von der Hilfsorganisation »Ärzte ohne Grenzen« eingerichtete Krankenhaus und das Kulturzentrum das Feuer auf Zivilisten, meldete die Nachrichtenagentur Firat. Angehörige der kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ lieferten sich anschließend schwere Gefechte mit den IS-Zellen in der nach viermonatiger Belagerung im Januar befreiten, aber weitgehend zerstörten Stadt. Zeitgleich massakrierten IS-Kämpfer mindestens 20 Bewohner des 30 Kilometer südlich von Kobani gelegenen Dorfes Berxbotan.

Der Gouverneur der an Kobani grenzenden türkischen Provinz Sanliurfa dementierte Meldungen kurdischer und syrischer Fernsehsender, wonach die Angreifer aus der Türkei eingedrungen seien. Die Dschihadisten seien aus der 40 Kilometer von Kobani entfernten Stadt Jarablus jenseits des Flusses Euphrat gekommen, so der Gouverneur. Doch auch in diesem Fall müssen die IS-Kämpfer über türkisches Territorium gefahren sein, da es in Syrien keine intakte Brücke mehr über den Euphrat gibt. Dafür, dass der Angriff für die türkische Regierung nicht überraschend erfolgte, spricht die erstaunliche Tatsache, dass die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu die Explosionen um vier Uhr morgens gefilmt hatte. Nach Angaben des Kurdischen Zentrums für Öffentlichkeitsarbeit »Civaka Azad« hielten die türkischen Behörden die Grenze nach den Anschlägen geschlossen, so dass Schwerverletzte nicht versorgt werden konnten. Dagegen konnten sich mehrere IS-Kämpfer wieder in die Türkei zurückziehen, wo sie das Feuer auf Bewohner eines Dorfes eröffneten und ein Kind töteten. »Die Bundesregierung muss sich dafür einsetzen, dass das türkische AKP-Regime die Grenze für humanitäre Hilfe statt für den IS-Terror öffnet«, forderte daher die Sprecherin für internationale Beziehungen der Linksfraktion, Sevim Dagdelen.

Die YPG und mit ihnen verbündete Einheiten der Freien Syrischen Armee (FSA) hatten in der vergangenen Woche mit der Einnahme der syrischen Grenzstadt Tell Abjad die wichtigste Versorgungsroute des IS aus der Türkei gekappt und stehen jetzt rund 40 Kilometer vor dem vom IS als Hauptstadt beanspruchten Rakka. Hier hatten die Terroristen den verbliebenen kurdischen Einwohnern ein am Donnerstag abgelaufenes 72stündiges Ultimatum zum Verlassen der Stadt in Richtung der mesopotamischen Wüste gestellt. Die Begründung dafür war, die Kurden würden »aktiv mit den Kreuzfahrern, den westlichen Staaten« kollaborieren. Flüchtlinge in Richtung Tell Abjad wurden von den Dschihadisten beschossen.

Obwohl inzwischen zahlreiche vor den Kämpfen in die Türkei geflohene Zivilisten nach Tell Abjad zurückgekehrt sind, beschuldigt die türkische Regierung die YPG weiterhin ohne jeden Beleg, syrische Turkmenen zu vertreiben. Selbst der Kolumnist der zur Gülen-Bewegung gehörenden Tageszeitung Today’s Zaman, Emre Uslu, sieht darin Stimmungsmache zur Vorbereitung einer Militärintervention.

Nick Brauns / Junge Welt vom 26. Juni 2015