Erdogan sucht Eskalation

Eine Tote und Hunderte Verhaftete nach Razzien in der Türkei
Mit mehr als 5.000 Beamten ist die Polizei in der Türkei am Freitag morgen bei großangelegten Razzien in mehreren Städten des Landes sowohl gegen linke Gruppierungen als auch gegen Sympathisanten der Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) vorgegangen. Helikopter und gepanzerte Fahrzeuge kamen zum Einsatz, Spezialeinheiten stürmten Wohnungen und Vereinsräumlichkeiten in Bursa, Istanbul, Antalya und Izmir. Ersten Erkenntnissen zufolge befinden sich unter den Verhafteten auch 37 Ausländer. In Istanbul wurde ein Mensch während der Razzien getötet. Die türkischen Behörden behaupten, die junge Frau habe bewaffnet Widerstand gegen ihre Verhaftung geleistet. Das linke Anwaltsbüro Halkin Hukuk Bürosu (HHB) schreibt dagegen, es habe sich um eine »Hinrichtung« gehandelt.

Hintergrund der Repressionen, die sich hauptsächlich gegen die marxistisch-leninistische Volksbefreiungsfront (DHKP-C) und die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) richteten, ist das Massaker von Suruc. In der südosttürkischen Stadt hatte am vergangenen Montag ein mutmaßlicher IS-Selbstmordattentäter 32 Menschen mit in den Tod gerissen, die auf dem Weg in die zerstörte syrisch-kurdische Stadt Kobani waren. Dort wollten sie Hilfe beim Wiederaufbau leisten. Unmittelbar nach dem Anschlag erklärten kurdische und türkische linke Gruppierungen, dass die Regierungspartei AKP eine Mitschuld an dem Tod der 32 sozialistischen Aktivisten trage und man sie zur Verantwortung ziehen werde. »Die AKP unterstützt nicht nur den IS, sie führt auch selbst Massaker durch«, ließ das Exekutivkomitee der Arbeiterpartei Kurdistans, PKK, verlauten.

Nach der Bluttat kam es in der gesamten Türkei zu – teilweise bewaffneten – Massenprotesten, bei denen sich eine erstaunliche Einigkeit zwischen den ansonsten zerstrittenen Fraktionen der kurdischen und türkischen Linken zeigte. Der militärische Arm der PKK, die Hêzên Parastina Gel (HPG), tötete bei »Strafaktionen« in der Stadt Ceylanpinar zwei Polizisten. Die Jugendorganisation der PKK, YDG-H, bekannte sich zur Tötung von zwei IS-Sympathisanten. Der sogenannte Friedensprozess zwischen der AKP-Regierung und der kurdischen Befreiungsbewegung, den das türkische Militär ohnehin immer wieder verletzt hatte, dürfte nach den neuesten Entwicklungen endgültig gescheitert sein.

Ankara ist nun bemüht, die Razzien verschwörungstheoretisch als einen Schlag gegen einen vermeintlichen »Parallelstaat« darzustellen. »Worum es tatsächlich geht, ist, dass die Regierung sich vor der Dynamik der linken Bewegung nach Suruc fürchtet. Sie will die Eskalation. Erdogan will den Bürgerkrieg«, erklärte ein linker Aktivist aus Istanbul, der anonym bleiben wollte, gegenüber junge Welt. Unmittelbar nach den Razzien kam es erneut in mehreren Stadtteilen Istanbuls zu Auseinandersetzungen zwischen der Bevölkerung und der Polizei.

Thomas Eipeldauer / Junge Welt vom 25. Juli 2015