Krieg an drei Fronten

Die »Antiterroroperation« der türkischen Regierung richtet sich angeblich gegen den Islamischen Staat. Die wirklichen Ziele sind aber andere
Mit dem Bombenanschlag in der türkischen Grenzstadt Suruc am 20. Juli, der 32 sozialistischen Aktivisten das Leben kostete, begann eine neue Phase türkischer Außen- und Innenpolitik. Von Ankara als »Antiterroroperation« deklariert, finden seitdem Massenverhaftungen im Land statt, während die türkische Luftwaffe Angriffe auf Ziele im Nordirak und in Syrien fliegt. In den Mittelpunkt der propagandistischen Rechtfertigung dieses Politikwechsels wurde von der AKP-Regierung der Kampf gegen die Terrormiliz »Islamischer Staat« (IS) gestellt, westliche Regierungen und Medien folgten diesem Narrativ.

Sieht man sich die bereits umgesetzten und die geplanten Maßnahmen etwas genauer an, wird schnell klar, dass die Aktionen gegen den IS nicht den Kern der neuen Strategie bilden. Schon quantitativ sind die Angriffe, die nun gegen die kurdische Befreiungsbewegung und ihren militärischen Rückhalt, die Guerilla, durchgeführt werden, auffällig. Die Luftangriffe gegen Stellungen der Arbeiterpartei Kurdistans PKK in Kandil dauerten länger und waren zahlreicher als die gegen den IS in Syrien, die Mehrheit der über 1.000 Verhaftungen der letzten Tage betraf kurdische und linke türkische Aktivisten, nicht IS-Sympathisanten.

Schon das ist ein Anhaltspunkt dafür, dass es um anderes geht, als den Kampf gegen den IS: Die Zerschlagung oder Entwaffnung der PKK, den Regime-Change in Syrien und die Schwächung der revolutionären Linken in der Türkei.
Das »neue Syrien«

Was den Krieg in Syrien angeht, besteht die entscheidende Neuerung in einem Abkommen mit dem NATO-Bündnispartner USA. In einem Telefonat sprach Barack Obama ausgerechnet dem türkischen Staatspräsidenten sein »Beileid« für den Anschlag von Suruc, der 32 konsequenten Gegnern des Erdogan-Regimes das Leben kostete, aus. »Die USA und die Türkei stehen Seite an Seite«, hieß es aus Washington. Der Deal, der sodann zwischen der US-Administration und Ankara abgeschlossen wurde, beinhaltet Maßnahmen, die eine neue Phase im Krieg um Syrien einleiten könnten.

Im Gegenzug für die Etablierung einer Flugverbots- und Pufferzone auf syrischem Territorium, zunächst in einem Gebiet zwischen Mare und Dscharablus, wurde zunächst den USA die lange verwehrte Nutzung der Luftwaffenbasis Incirlik zugesichert. Für die nun entstehende »sichere Zone« hat der türkische Premier Ahmet Davutoglu weitreichende Pläne. Zum einen soll hier ein Teil der fast zwei Millionen syrischen Flüchtlinge, die sich in der Türkei aufhalten, untergebracht werden. Zum anderen sollen, unter türkischem und amerikanischem Schutz, »moderate Rebellen« zu einer relevanten Kraft im syrischen Bürgerkrieg aufgebaut werden.

Ahmet Davutoglu betonte in mehreren Reden der vergangenen Tage, man sei nun zwar auch gegen den »Islamischen Staat« angetreten, aber die »Wurzel« des Problems sei die Regierung Baschar Al-Assads in Damaskus. In einem »neuen Syrien«, wie der türkische Premier formuliert, könne dessen Regierung keinen Platz haben. Wer hingegen die »moderaten« Kräfte sind, die in der Pufferzone aufgebaut werden sollen, bleibt unklar. Zu erwarten steht, dass es sich zum einen um islamistische Milizen handeln könnte, die nicht in den IS integriert sind, wie etwa die »Islamische Front« oder Dschabhat Al-Schamiyya. Zum anderen könnten turkmenische Milizen hier ihre Operationsbasis erhalten, die offen von der Türkei unterstützt werden und ebenfalls sowohl gegen die Assad-Regierung wie auch gegen die kurdische Selbstverwaltung in Rojava kämpfen.
Ende des Friedensprozesses

Letztere war Ankara immer ein Dorn im Auge, fürchtete man doch die Vorbildwirkung, die das Autonomieprojekt auf die in der Türkei lebenden Kurden haben könnte. Die syrische Schwesterpartei der PKK, die Partei der Demokratischen Union (PYD) wurde von den USA nun den veränderten geostrategischen Bedingungen geopfert. Die Volksverteidigungseinheiten YPG, der militärische Arm der Revolution in Rojava, melden erste Angriffe der türkischen Streitkräfte.

Entscheidender für Davutoglu und Erdogan ist im Moment allerdings die Schwächung der PKK. Der Friedensprozess, der ab Ende 2012 zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Arbeiterpartei begonnen hatte, wurde endgültig beendet. Mit den Angriffen auf Rojava und Kandil erscheint eine Rückkehr zu der Periode relativer Ruhe äußerst unwahrscheinlich.

Denkbar ist, dass die AKP-Regierung anstrebt, der kurdischen Bewegung ihren legalen Arm, die Demokratische Partei der Völker (HDP), zu nehmen. Diese hatte bei den Parlamentswahlen im Juni die Zehn-Prozent-Hürde genommen und so der AKP die absolute Mehrheit verunmöglicht. Die Schwächung der Partei oder gar ihr Verbot könnten Erdogan in die Lage versetzen, die von ihm gewünschten Mehrheitsverhältnisse wiederherzustellen. Erste Forderungen, die Immunität der HDP-Abgeordneten im Parlament aufzuheben, sind bereits laut geworden.
Linke und Aleviten

Die dritte nun eröffnete Front richtet sich gegen jenen Teil der türkischen Linken, die weiterhin am militanten Kampf gegen den türkischen Staat festhalten. Vorrangiges Ziel hier ist die Revolutionäre Volksbefreiungsfront (DHKP-C), die zuletzt durch die spektakuläre Geiselnahme eines Staatsanwalts in Istanbul auf sich aufmerksam gemacht hatte. Eine ihrer Aktivistinnen, Günay Özarslan, wurde gleich zu Beginn der Verhaftungswelle am 24. Juli von der Polizei erschossen, das linke Anwaltsbüro Halkin Hukuk Bürosu spricht von einer »Hinrichtung«. Nach dem Tod Özarslans gingen in den linken alevitischen Vierteln Istanbuls Tausende auf die Straße. Die Behörden reagierten mit weiteren Provokationen, die sich nunmehr nicht allein gegen die revolutionäre Linke richteten, sondern gegen die gesamte alevitische Bevölkerung in den betroffenen Bezirken.

In Gazi Mahallesi wurde das Gebetshaus der Aleviten, das Cemevi, angegriffen, erneut kam es zu Straßenschlachten. Die Aleviten in der Türkei haben eine blutige Geschichte der Verfolgung durch den Staat und sunnitische Extremisten hinter sich. Einer der Orte dieser Verfolgung war Gazi Mahallesi, wo 1995 ein Massaker an Aleviten stattfand. Wenn jetzt Scharfschützen der Polizei in Gazi postiert werden und schwer bewaffnete Sondereinheiten durch die Straßen ziehen, weckt das Erinnerungen im kollektiven Gedächtnis.
Solidarität mit Rojava

Das Kurdistan-Solidaritätskomitee Berlin verbreitete am Dienstag eine Erklärung, die jW auszugsweise dokumentiert

Die spannende Frage nach den türkischen Parlamentswahlen vom Juni 2015, bei denen die HDP mit 13 Prozent ins Parlament einzog und die AKP ihre absolute Mehrheit verlor, war, ob Staatspräsident Erdogan diese persönliche Niederlage akzeptieren und politisch in die zweite Reihe zurücktreten würde, die das Amt ähnlich wie in Deutschland vorsieht. Diese Antwort hat er nun in den letzten Tagen gegeben. (…) Durch einen in Telefongesprächen mit US-Präsident Obama verabredeten Deal gelang es ihm, sich aus der außenpolitischen Isolation zu befreien, in die sich die Türkei durch ihre offen sichtbare Unterstützung des »Islamischen Staats« (IS) gebracht hatte. Dagegen erhielten die Kurdinnen und Kurden in Rojava, aber auch die PKK für ihren konsequenten Kampf gegen den IS in Syrien und Nordirak zunehmend internationale Anerkennung. Mit der Zusage, nun an der Seite der von den USA geführten Koalition den IS zu bekämpfen, erkaufte sich die türkische Regierung von den USA den diplomatischen Beistand, den seit Ende 2012 geführten Dialog mit der kurdischen Freiheitsbewegung zu beenden und im Nordirak deren Guerillalager anzugreifen. Es ist davon auszugehen, dass dabei auch vereinbart wurde, dass die USA ihre punktuelle militärische Zusammenarbeit mit den Kämpferinnen und Kämpfern von YPG und YPJ (kurdischen Volksverteidigungsmilizen in Syrien, jW) beenden und auch politisch auf Distanz zur PYD gehen. (…)

Nach der Eroberung des Grenzübergangs Tal Abjad durch YPG und YPJ mit Unterstützung der US-Luftwaffe und der damit erreichten Brücke zwischen den Kantonen Cizire und Kobani erhöhte sich die Gefahr einer internationalen politischen Aufwertung von Rojava. Dies wäre für die türkische Regierung der GAU ihrer Außenpolitik in Syrien gewesen. Da die Unterstützung des IS durch die Türkei im Krieg gegen Rojava nicht die erhoffte militärische Wirkung zeigte, fiel es der türkischen Regierung nicht schwer, diesen fallen zu lassen. Umso mehr, als für ihr zweites Ziel, den Sturz Assads um jeden Preis, sogenannte »gemäßigte Islamisten« zur Verfügung stehen, die jetzt geschützt durch eine Flugverbotszone im Norden Syriens ihre Angriffe verstärken können. (…)

Es ist nicht auszuschließen, dass nach einer gewissen politischen Schamfrist sich auch PYD und YPG auf den einschlägigen Terrorlisten wiederfinden und ihre Betätigung auch in Deutschland verboten wird. Das Ausreiseverbot gegen eine Genossin am Düsseldorfer Flughafen, die sich den Wiederaufbaubrigaden für Kobani anschliessen wollte, bildet hier einen Vorgeschmack. Die vielen Menschen, die sich im letzten Jahr weltweit mit der Verteidigung von Kobani solidarisiert haben, sind aufgefordert, sich in ihrer Solidarität nicht einschüchtern zu lassen.

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Peter Schaber / Junge Welt vom 29. Juli 2015