Der türkische Staat führt Krieg gegen die kurdische Bewegung. Ein Gespräch mit Mawa Tolhildan
Mawa Tolhildan ist Aktivist der Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi (YDG-H), der illegalen Jugendorganisation der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)
Der Name der kurdischen Arbeiterpartei PKK ist in Deutschland weithin bekannt, weniger bekannt sind ihre Teilorganisationen und Untergliederungen. Können Sie kurz erklären, was die YDG-H ist? Welches sind die Ziele Ihrer Organisation?
Wir sind eine Jugendorganisation der PKK in den Städten, deren Hauptziel der Selbstschutz der kurdischen Bevölkerung ist. Wir verteidigen uns gegen das Patriarchat, gegen die kapitalistische Moderne, gegen den Imperialismus. Wenn militante Selbstverteidigung gefordert ist, sind wir da – etwa in der Auseinandersetzung mit der Staatsmacht auf der Straße.
Als Organisation folgen wir der Ideologie von Abdullah Öcalan. Vor 2013 gab es ähnliche kurdische Organisationen mit anderen Namen, nach Beginn des Friedensprozesses wurde die YDG-H ins Leben gerufen. Die Abkürzung steht für Yurtsever Devrimci Gençlik Hareketi, Patriotische Revolutionäre Jugendbewegung. Wir haben auch eine Frauenorganisation, in der ausschließlich junge Frauen kämpfen.
Die HPG (Hêzên Parastina Gel, der militärische Arm bzw. die »Volksverteidigungskräfte« der PKK, jW) sind in den eher ländlichen Gebieten aktiv, wir indes in den Städten. Das ist der einzige Unterschied. Wir folgen den gleichen Ideen, wir bekämpfen denselben Feind, wir stehen unter derselben Führung.
Der Feind versucht seit Hunderten Jahren, das kurdische Volk physisch zu vernichten. Dagegen kämpfen wir. Außerdem gibt es aber noch einen anderen Kampf, den gegen den inneren Feind. Hier geht es um die Zerstörung unserer Lebensräume durch Prostitution, Drogen, Gangs, das Spitzelwesen. Wenn wir über Selbstverteidigung reden, heißt das, gegen alle diese Phänomene vorzugehen.
Wie sieht die Arbeit der YDG-H im Alltag aus? Wo liegen die Schwerpunkte ihrer Arbeit?
Zunächst muss ich betonen: YDG-H ist eine illegale Organisation. Wir haben legitime Gründe zu kämpfen, aber in den Augen des Staates sind wir illegal. Speziell in unseren Stadtorganisationen legen wir viel Wert auf eine diesen Bedingungen angemessene Arbeit. Das heißt, dass wir sehr darauf achten, im Verborgenen zu bleiben. Wir sind keine offene Organisation, wir können nicht viel öffentlich arbeiten. Für uns steht die Selbstverteidigung im Zentrum, allgemeine Bildungsarbeit gehört zum Arbeitsbereich legaler Gruppen.
Wir sind in Zellen organisiert, und innerhalb dieser Zellen treffen wir uns, wenn es nötig ist, jeden Tag. Da gibt es dann auch ideologische Bildung. Aber in der Illegalität gibt es – wie bei den HPG in den ländlichen Gebieten – andere Aufgaben der Ausbildung: Handhabung von Waffen, Kampf auf der Straße. Die ideologische Erziehung geht mit dem Erlernen dieser Fähigkeiten Hand in Hand.
Mitglied einer unter den Bedingungen der Illegalität arbeitenden Organisation zu sein ist sicher keine leichte Sache. Was treibt junge Menschen dazu, diesen Schritt zu gehen?
Das kurdische Volk blickt auf eine lange Geschichte der Unterdrückung zurück. Angriffen des Staates ausgesetzt zu sein ist eine Art Tradition. Wir müssen uns selbst verteidigen, die kurdische Bevölkerung weiß das. Wir erfahren deshalb große Unterstützung. Hätten wir diese nicht, könnten wir gar nicht leisten, was wir leisten.
Unsere Wirkung geht nicht allein in den Angriffen auf den Staat auf. Den Feind zu schlagen ist wichtig, aber es geht auch darum, Neues aufzubauen. Was wir tun, gibt den Menschen Selbstbewusstsein.
Sicher ist es hart, für die YDG-H zu streiten, nicht nur wegen der permanenten Konflikte und Kämpfe auf der Straße. Das hat aber auch Vorteile: Wir leben unter harten Bedingungen, und für die Spione des Staates ist das oft nicht durchzuhalten. Sie können sich nicht mit der Bewegung entwickeln und verraten sich dadurch.
Die jungen Leute kommen zu uns, weil sie Wahrheit in unserer Organisation sehen; weil sie die Morde an Kurden sehen und die Geschichte der Unterdrückung. Schauen Sie nur, was in den vergangenen Tagen geschah. Da gab es einen Übergriff von Soldaten auf einen Mann in Silopi, der mit einem Gewehr sexuell missbraucht wurde. Diese Dinge geschehen dauernd. Das schafft Hass.
Wenn es demokratische Möglichkeiten gäbe, sich auszudrücken und für seine Interessen einzustehen, sähen wir keine Notwendigkeit, uns illegal zu organisieren. Erinnern Sie sich an die Gezi-Proteste: Das war kein Guerillakrieg, es gab nicht einmal eine Organisation, die das anführte. Es war eine gemeinsame Aktion unterschiedlicher Menschen. Aber Sie haben gesehen, wie der Staat reagierte, wie er Menschen verletzte und tötete. Man sieht, wie der türkische Staat auf demokratischen Protest reagiert.
In den vergangenen drei Jahren hat der Staat Zugeständnisse an die Kurden gemacht. Nach dem Attentat von Suruc zeigt sich, dass dieser sogenannte Lösungsprozess von Ankara nie ernst gemeint war. Wie wird es weitergehen?
Das Massaker von Suruc muss gerächt werden. Es war eine Botschaft an unsere Freunde in der türkischen Linken: Wir werden gegen die Kurden kämpfen, haltet euch raus, solidarisiert euch nicht mit ihnen.
Zum Lösungsprozess: Mit der Newroz-Deklaration 2013 begannen wir, unserer Kräfte nach Südkurdistan zurückzuziehen. Der bewaffnete Kampf wurde gestoppt. Aber sogar während dieses Prozesses gab es Angriffe und Morde des türkischen Staates, zum Beispiel in Sirnak und Gever.
Die Kurden haben sich vor der letzten Wahl der Demokratischen Partei der Völker (HDP) angeschlossen. Diese demokratische Arbeit hat zu etwas geführt: Die Partei hat bei den Wahlen 13 Prozent erreicht. Doch der Staat sagte: bis hier hin und nicht weiter.
Schon vor den Wahlen ist der türkische Präsident Tayyip Erdogan gegen die Kurden vorgegangen, weil er seine Ambitionen für ein neues Präsidialsystem gefährdet sah. Er zog nun die Reißleine und begann den Krieg. Als Stadtorganisation der PKK werden wir Rache nehmen für die Attacken auf das kurdische Volk, die auf die Wahlen folgten.
Der Grund für die gegenwärtige Eskalation sind nicht wir. Erdogan hat nichts zu verlieren, und deshalb spielt er dieses Spiel. Er sagte: Wir werden unsere Kinder in den Krieg schicken, wenn nötig. Aber wo sind seine Kinder? Seine Kinder sind nicht einmal in der Armee. Seine Verwandten sind vom Wehrdienst befreit.
Sie denken also, der Weg des Parlamentarismus ist mehr oder minder vorbei?
Was wir auf dem parlamentarischen Weg erreichen können und was nicht, wird sich noch zeigen. Aber eines können wir klar sagen: Wir werden unsere Waffen nicht niederlegen. Als wir uns unter Premier Bülent Ecevit 1999 zurückzogen, bombardierte die Türkei unsere Kämpfer. Jetzt ist es das zweite Mal, dass wir angegriffen werden, obwohl wir uns zurückgezogen haben. Eine Bewegung, die derartige Erfahrungen macht, wird dem Staat kaum noch einmal vertrauen.
Es gibt einen kollektiven Willen des kurdischen Volkes, und es gibt eine gemeinsame Führung des kurdischen Volkes, Abdullah Öcalan. Der Staat sagt: Bevor ihr nicht eure Waffen aufgebt, könnt ihr nicht mit Öcalan sprechen. Wir antworten: Bevor er nicht frei ist, werden wir unsere Waffen nicht aufgeben. Wir werden unseren Serhildan, unseren Widerstand, aufrechterhalten bis zu diesem Tag.
Im Moment scheinen wir am Anfang einer neuen Periode der Gewalt zu stehen. Der Staat setzt seine Angriffe fort, die PKK und die kurdische Bewegung üben Vergeltung und lassen nicht nach in ihrem Widerstand. Wo ist ein Endpunkt dieser Gewalt? Müssen die kurdischen Gebiete als eigener Staat von der Türkei losgetrennt werden, oder geht es um eine andere Form von Autonomie?
Die kurdische Bevölkerung hat ihre Loyalität zu ihrer Führung immer wieder bewiesen. 1999, als Öcalan verhaftet wurde, 2006 bei den Aufständen in Ahmet, den Hungerstreiks 2011, danach der Hilfe für Kobane – in all diesen Fällen suchte der Staat den Kontakt mit Öcalan, um den Konflikt beizulegen. Sie sehen, dass sie die kurdische Bevölkerung nicht stoppen können. Also müssen sie zu Öcalan laufen, um mit seiner Hilfe die Konflikte wieder beizulegen.
Jetzt, auch mit der gegenwärtigen Eskalation, wird die Bewegung für eine demokratische Autonomie weitergehen, die sich am Rojava-Modell orientiert. Wir sind keine Bewegung, die einen neuen Staat schaffen will. Wir sind generell gegen Staaten, also wollen wir auch innerhalb der kurdischen Geographie keinen.
Was wir aber wollen, ist Autonomie. In sieben Verwaltungsbezirken in Kurdistan wurde jetzt bereits die Autonomie ausgerufen. Sie werden nichts vom Staat nehmen und ihm auch nichts geben, sie werden keine Beziehung zu ihm unterhalten. Wir nennen es »freie Identität durch Selbstregierung«.
Das ist der Prozess, der in jedem Fall weitergehen wird. Wir wollen diesen Prozess nicht nur auf die gesamten kurdischen Gebiete ausdehnen, sondern sehen das als ein Projekt für den gesamten Mittleren Osten und für die ganze Welt.
Das Interview führte Peter Schaber, Istanbul / Junge Welt vom 21. August 2015