Gegen Staatsterror

Großdemonstration gegen Erdogans Kriegspolitik in Düsseldorf. Erfolge im Kampf gegen IS in Syrien
Mörder Erdogan« schallte es am Samstag aus Tausenden Mündern durch Düsseldorf. Bis zu 20.000 mehrheitlich kurdische Demonstranten waren aus dem ganzen Bundesgebiet in der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt zusammengekommen, um gegen die Kriegspolitik des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zu protestieren. Der Protest, zu dem der kurdische Dachverband Nav Dem gemeinsam mit linken türkischen und alevitischen Verbänden aufgerufen hatte, richtete sich auch gegen das Schweigen der Bundesregierung über den Staatsterror in der Türkei in Erwiderung von Erdogans Diensten bei der EU-Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge.

Während eine über das Altstadtviertel der kurdischen Metropole Diyarbakir verhängte Ausgangssperre in die vierte Woche geht, hält die Belagerung der an der Grenze zu Syrien gelegenen Städte Cizre, Silopi und Nusaybin seit zwei Wochen an. Durch Panzer- und Artilleriebeschuss wurden hier zahlreiche Wohnhäuser zerstört, rund 200.000 Menschen sind auf der Flucht.

Deutsche Medien übernahmen am Wochenende weitgehend unhinterfragt Propagandameldungen der staatlichen türkischen Agentur Anadolu, wonach bei der laufenden Offensive über 200 »PKK-Kämpfer« getötet wurden. In Wahrheit handelt es sich bei den meisten Toten um Zivilisten, da die Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) bislang nicht in den Städten aktiv ist. So wurde am Samstag in Cizre ein altes Ehepaar von der Polizei beschossen, als es unter Schwenken einer weißen Fahne versuchte, seine drei Monate alte Enkelin in ein Krankenhaus zu bringen. Das Kind war zuvor verletzt worden, als die Polizei das Haus der Familie unter Feuer nahm. Das Baby und sein 73jähriger Großvater erlagen ihren Verwundungen, die Großmutter wurde schwer verletzt. Am Samstag abend erschossen Sondereinsatzkräfte in Silopi einen 75jährigen angeblichen »Terroristen«.

Örtliche Selbstverteidigungsgruppen meldeten am Sonntag in Cizre die Zerstörung von zwei Panzerfahrzeugen. Mehrere Polizisten und Soldaten seien bei dem Versuch ums Leben gekommen, in mit Barrikaden und Gräben geschützten Stadtbezirke einzudringen. Lag die Verteidigung der selbstverwalteten Viertel bislang in der Hand der PKK-Jugendorganisation YDG-H, so wurde am Wochenende in Cizre und Nusaybin die Bildung von sogenannten Zivilverteidigungseinheiten (YPS) verkündet. Vorbild dieser den örtlichen Volksräten unterstellten YPS, denen nach eigenen Angaben insbesondere Frauen und Jugendliche angehören sollen, sind die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ im jenseits der Grenze gelegenen Selbstverwaltungsgebiet Rojava.

Dort im Norden Syriens konnten derweil die von der US-Luftwaffe unterstützten »Syrischen Demokratischen Streitkräfte« Geländegewinne im Kampf gegen die Milizen des »Islamischen Staates« (IS) erzielen. Das von den YPG geführte Bündnis mit arabischen und christlich-assyrischen Milizen eroberte am Samstag den 70 Kilometer südwestlich der Stadt Kobani gelegenen Tischrin-Damm am Euphrat. Damit wurde die Versorgungsroute des IS zwischen seiner Hauptstadt Al-Rakka und der Grenzstadt zur Türkei Dscharabulus abgeschnitten. Nach der Einnahme des Dammes überschritten die YPG den Fluss. Die türkische Regierung hatte es zuvor als rote Linie für ein militärisches Eingreifen in Syrien bezeichnet, sollten die kurdischen Kämpfer in das Territorium westlich des Euphrat vordringen.

Nick Brauns / Junge Welt vom 28. Dezember 2015