Am World Economic Forum in Davos wird nicht nur über die «vierte industrielle Revolution» debattiert, sondern auch am Grenzregime Europa gefeilt. Sieht man sich die bisherigen Veröffentlichungen und die diesjährige Gästeliste an, dann zeigt sich, dass es in Davos vor allem darum gehen wird, ein weltweites Migrationsmanagement zu etablieren. Insbesondere mit Mitteln der «vierten industriellen Revolution» soll dabei die Kontrolle über die gegenwärtigen Migrationsbewegungen wiedergewonnen werden.
Wenige Tage vor dem Treffen in Davos veröffentlichte das WEF seinen «Global Risk Report». Darin werden seit 2006 einmal jährlich einzelne WEF-Mitglieder dazu befragt, wo sie für die kommenden Jahre die grössten Risiken für die weltweite politische Stabilität sehen und wo sie Probleme für ein profitables Wirtschaften erahnen. Galten bisher vor allem Finanzkrisen als das wichtigste Problem, bekunden die 750 Manager und WirtschaftswissenschaftlerInnen in diesem Jahr, dass ihnen kurzfristig vor allem die Migrationsströme Sorgen bereiten. So führt die Angst vor einer «Large-scale involuntary migration» (eine unfreiwillige, grossflächige Migrationsbewegung) die Liste der globalen Risiken an. Auf Platz zwei und drei folgen die Ängste vor extremen Wetterphänomenen und vor fehlenden Anpassungsmöglichkeiten an den anhaltenden Klimawandel.
Bis zu 60 Millionen Menschen seien weltweit, so der WEF-Bericht, durch Krieg, Zerstörung und Verfolgung zur Flucht gezwungen. Dass die WEF-TeilnehmerInnen für einen Grossteil dieser Probleme selbst mitverantwortlich sind, wird dabei natürlich gerne verschwiegen. Dennoch befinden sich das WEF und seine Mitglieder in einem Feld von Widersprüchen, welche ihnen durchaus bewusst sind. Denn einerseits ist auch den Herrschenden klar, dass die gegenwärtige Weltlage Migrationsbewegungen hervorruft, die sich gerade dann noch einmal verstärken wird, wenn die imperialistischen Mächte in Krisenregionen ihre Kontrolle zurückerlangen wollen – wie dies beispielsweise aktuell durch die Stabilisierungsversuche in Afghanistan geschieht. Gleichzeitig erscheint die «grossflächige Migrationsbewegungen» in den Augen der WirtschaftsführerInnen aber als Problem für die innere Stabilität der westlichen Länder. Dennoch wird die wirtschaftsliberale Elite nicht Müde, ihren (noch immer) vorhandenen ideologischen Widerspruch zu dem sich durchzusetzenden so genannten „Rechtspopulismus“ in den peripheren europäischen Staaten und seinen Massnahmen auszudrücken – zumindest erwecken die meisten der aktuellen Veröffentlichungen des WEFs diesen Eindruck. Denn auch dieser bringt, wie aktuell in Polen, eine politische Unsicherheit mit sich, die sich negativ auf langfristige Investitionen auswirken kann. Das heisst nicht, dass die WEF-Mitglieder sich einem repressiven Migrationsregime verwehren oder diese in den Grenzländern gar ablehnen würden – man beachte beispielsweise, wie die EU der Türkei freie Hand dafür gegeben hat, wie diese mit MigrantInnen umgehen darf. Der Unterschied liegt einzig in der beständigen Betonung des humanitären Aspektes der Migrationsfrage und im Versuch, der Lage in den eigenen Ländern durch einen nach aussen bürgerlich legitimierten Rechtsstaat Herr zu werden.
So geht es dem WEF und der sich öffentlich präsentierenden Fraktion der Bourgeoisie – dass es dabei auch in Davos andere Positionen gibt, die auch ideologisch weit näher am so genannten „Rechtspopulismus“ sind, ist klar – gegenwärtig vor allem um die Wiedergewinnung der Kontrolle über die als unkontrolliert wahrgenommenen weltweiten Migrationsbewegungen. Denn nicht die Migration an sich ist das Problem – wie sehr das Kapital beispielsweise auf günstige Arbeitskraft aus dem Ausland angewiesen ist, zeigt nur schon die Wirtschaftsgeschichte der Schweiz – sondern vor allem deren unkontrollierter Vorgang. Um was es also geht, ist der Versuch ein Migrationsmanagement zu etablieren, das politische und wirtschaftliche Stabilität bieten kann und eine verbesserte Auslese an der Grenze garantiert.
Globaler Arbeitsmarkt und Migrationsregime Europa
Dabei muss ein funktionierendes Migrationsmanagement einen Ausgleich zwischen einem geordneten globalen Arbeitsmarkt und der weltweiten Fluchtbewegung finden. Die Lage ist dabei insofern komplex, als dass es sich bei migrierenden Menschen um unterschiedliche beteiligte soziale Gruppen handelt, an welche die Herrschenden verschiedene Ansprüche zu stellen pflegen. So gibt es erstens die gut ausgebildeten, international ausgerichteten Fachkräfte, die unbedingt angelockt werden sollen. Zweitens existiert eine grössere Gruppe migrierender ArbeiterInnen im Tieflohnsektor, die einerseits migrationstechnisch möglichst reguliert, das heisst ausgestattet mit geregelten Aufenthaltsbewilligungen, andererseits wirtschaftsrechtlich möglichst dereguliert, das heisst ausgestattet mit maximal temporären Arbeitsverträgen, leben sollen. Dem hinzu kommt die Gruppe Menschen ohne gültige Aufenthaltsbewilligung, die ebenfalls im Tieflohnsektor Arbeit finden müssen. Drittens gibt es die Gruppe durchaus anerkannter Flüchtlinge, welche, wenn es nach gewissen Parteien und Wirtschaftsvertretern geht, in der Zukunft ebenso zu Niedriglöhnen arbeiten sollen, beispielsweise in der Landwirtschaft. Viertens schliesslich existieren diejenigen migrierten Menschen, die von den Herrschenden nicht als Flüchtende anerkannt werden und möglichst schnell zurückgeschoben beziehungsweise aufgrund ihres Aufenthaltsstatus kriminalisiert werden.
Weil die widersprüchlichen Interessen an diesen unterschiedlichen Gruppen nicht homogenisiert werden können, manifestiert sich in Davos der Wunsch nach einem oberflächlich liberalen und doch repressiven Migrationsregime, das sich zu einem globalen Migrationsmanagement zusammenschliessen soll. Das heisst, einerseits wird immer wieder bekräftigt, dass man gewisse Migrationsbewegungen zulassen will, sich für Flüchtlinge einsetzen möchte und hierfür auch Geldbeträge gesprochen werden sollten. Beispielsweise wird der kanadische Premierminister Justin Trudeau in Davos darüber sprechen, wieso sich sein Land so stark für Flüchtlinge eingesetzt habe und was diese für Kanada bedeuten. Dass dieser dabei eine geschlechterspezifische und familientechnische Auslese forderte, die aufgrund einer bekannten kolonialrassistischen Dämonisierung vor allem alleinstehenden Männer die Flucht nach Kanada verwehrte, ist dann der zweite, nicht immer offen erwähnte Aspekt dieser in Davos verhandelten Migrationspolitik. Denn gleichzeitig zum liberal-ideologischen Aspekt feilt man am repressiven Migrationsregime, dessen Durchlässigkeit und dessen fehlende Auslese beständig kritisiert wird. So geht es in Davos ebenso darum, wie die europäische Aussengrenze besser bewacht und geschützt werden kann und auf welche Partnerstaaten Europa dabei zurückgreifen darf.
Die politische Tendenz, die sich in Davos also abzeichnet, ist der Versuch das Migrationsmanagement nicht einfach auf die Arbeitsmigration zu beschränken, sondern auf die gesamte Migrationsbewegung auszuweiten. So sollen die Grenzüberquerungen letztendlich selektiver gestaltet und kontrollierbarer gemacht werden. Damit trifft das WEF den Geist der europäischen Staaten, die ihrerseits damit begonnen haben einzelnen sozialen und ethnischen Gruppen den Zugang nach Europa zu verwehren bzw. zu gewähren, versucht dabei aber in globalerem Ausmass zu denken und die Interessen des Kapitals zu bündeln. Dazu passt auch, dass in diesem Jahr ein erstes Mal eine konservative Gewerkschaftlerin als Co-Vorsitzende am Weltwirtschaftsforum auftritt. Denn das Migrationsmanagement soll künftig vermehrt schon in den Ausgangsländern ansetzen und dafür braucht es die Zusammenarbeit aller staatstragenden Kräfte.
Migrationsdebatte in Davos zwischen Schein und Sein
Das Migrationsregime mit repressivem Charakter und liberalem ideologischem Geist lässt sich auch anhand der immensen Kluft zwischen äusserem Schein und eigentlichem Inhalt des Treffens beobachten. Denn nach aussen hin werden sich auch in diesem Jahr wieder prominente VertreterInnen aus der Wirtschaft, der Politik und der Unterhaltungsbranche kräftig für humanitäre Anliegen einsetzen und dabei wohl auch einiges an Geld sammeln können. So will Sänger Bono in Davos zum wiederholten Male die gegenwärtigen humanitären Probleme thematisieren und Schauspieler Leonardo DiCaprio will sich öffentlichkeitswirksam der Umweltproblematik annehmen. Auch das WEF selbst publiziert auf seiner Website zahlreiche Artikel mit humanitären Tipps, wie der aktuellen Lage im Migrationsbereich begegnet werden kann. Darunter herzerwärmende Listicles wie «5 refugees who changed the world» (5 Migranten, welche die Welt verändert haben) oder «Three ways to help the Middle East’s refugees» (Drei Möglichkeiten, um den Flüchtenden im Nahen Osten zu helfen)
Gleichzeitig handelt es sich bei den Gästen in Davos um eine Horde von KriegstreiberInnen, welche die politische Verantwortung für einen Grossteil der weltweiten Ursachen der gegenwärtigen Fluchtbewegungen mittragen – dass diese nicht einfach deterministisch wirken, sei hier nur am Rande erwähnt. Der nach Davos pilgernde türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu beispielsweise ist mitverantwortlich für den andauernden Krieg gegen den kurdischen Landesteil, der aktuell die Lebensgrundlage hunderttausender Menschen vernichtet. Gleiches gilt ebenso, wenn auch geographisch verschoben, für den israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu. Und der in Davos anwesende amerikanische Verteidigungsminister Ashton Carter beklagte sich vor wenigen Monaten noch darüber, dass Deutschland sich nicht genügend an den Angriffen in Syrien beteilige. Dass schliesslich die Interessen der IWF-Vorsitzende Christine Lagarde ebenfalls nicht deckungsgleich mit den Lebensbedürfnissen eines grossen Teils der Weltbevölkerung sind, dürfte mittlerweile auch klar sein.
Doch es geht noch weit absurder. In diesem Jahr ist auch der republikanische Gouverneur Greg Abbott aus Texas zu Gast in Davos. Dieser versprach unlängst in den nächsten zwei Jahren 800 Millionen US-Dollar in die Grenzsicherung zu Mexiko zu investieren. Dies ist mehr als das doppelte davon, was sein Vorgänger in seinen 14 Jahren Amtszeit jemals in einer vergleichbaren Periode ausgegeben hat. Dabei investiert Abbott vor allem in die Militarisierung der Grenzbefestigung. So sollen nicht nur Hunderte neue Polizisten zur ständigen Grenzsicherung eingestellt, sondern auch neue Flugzeuge und Helikopter gekauft werden, um die Grenze besser überwachen zu können. Die Folge davon ist, dass sich MigrantInnen immer gefährlichere Routen aussuchen müssen und jedes Jahr bis zu 400 Menschen beim Versuch die Grenze zu überqueren zu Tode kommen. Vielleicht kann sich Abbott in Davos ja mit der ebenfalls anwesenden EU-Aussenbeauftragten Federica Mogherini austauschen, die ihrerseits für die Militarisierung der europäischen Ausgrenze verantwortlich ist. So war es Mogherini, die im Juni 2015 eigenständig die EU-Aussenminister zusammenbrachte, um den Militäreinsatz gegen Schlepper zu genehmigen.
Doch nicht nur einzelne PolitikerInnen und ihre Parteien sind mitverantwortlich für Fluchtursachen wie Umweltzerstörung, Kriege oder die Vernichtung von Lebensgrundlagen, sondern selbstverständlich auch die am WEF teilnehmenden Firmen. So sind in Davos einige der grössten Waffenhersteller der Welt, etwa Lockheed Martin oder BAE Systems, oder führende Umweltzerstörer, wie das Bergbauunternehmen Rio Tinto oder das Mineralölunternehmen BP, vertreten. Dass diese ebenso wenig Progressives zur Migrationsfrage zu bieten haben wie die genannten PolitikerInnen, liegt eigentlich nahe. Und trotzdem verkleidet sich das WEF nach aussen weiterhin in seinem humanitären Mantel.
Migration, Überwachung und die vierte industrielle Revolution
Doch das WEF diskutiert nicht nur darüber, wie die westlichen Staaten erfolgreicher vor der ihr unliebsamen unkontrollierten Migration geschützt werden können, sondern es versucht auch das Thema der Migration mit seinem diesjährigen Schwerpunkt der «vierten industriellen Revolution» zu verknüpfen. Beispielsweise veröffentlichte das WEF im Dezember einen Artikel darüber, wie neuste technologische Erfindungen zukünftig Flüchtenden und Menschen in Notsituationen helfen könnten. So sollen Roboter schwierige Bergungen von Verletzten unterstützen, mobile Plattformen dazu dienen, in Notsituationen Geld zu übermitteln oder Ortungsmöglichkeiten via Handys dabei helfen, Menschen in Notsituationen zu retten. Diese neue Welt vor Augen, sinniert der Autor Raj Kumar im genannten Artikel daraufhin darüber, wie zukünftig durch Big Data und Netzwerktechnologien die gesamte Menschheit miteinander vernetzt werden könnte: „Imagine a way for all that data to be stitched together automatically so that humanitarian agencies and governments could instantly see what’s happening and who is doing what.“ Dass der Autor dabei gleich selbst das Bild einer düsteren Dystopie der totalen Überwachung zeichnet, die vor allem den Herrschenden dient, nicht aber den Menschen in Notsituationen, ist dem Artikelschreiber freilich entgangen.
Doch darum geht es schlussendlich. Denn das WEF ist keine humanitäre Organisation, sondern eine Institution der Herrschenden. Dabei suchen die WEF-TeilnehmerInnen nach neuen globalen Kontrollmöglichkeiten, um dadurch die Sicherung der politischen Stabilität voranzutreiben, die wiederum dem Kapital dienlich ist. Wenn dabei das Thema der Migration gleich noch mit wirtschaftlichen Fragen und der Entwicklung neuer Technologien verknüpft werden kann, dann ist dies für das WEF und seine TeilnehmerInnen umso besser.