Ankara mordet weiter

Weiterhin keine Hilfe für Verletzte in Cizre. Neun Menschen in Wohnhaus verbrannt
Seit einer Woche gibt es keinerlei Kontakt zu einer Gruppe von Menschen, die am 23. Januar von türkischen Einsatzkräften beschossen worden waren und seitdem in einem Keller in Cizre eingeschlossen sind. Versuche, Rettungskräfte zu dem Haus zu schicken, in dem sich mehrere Verletzte befinden, wurden von Polizei und Militär unter Verweis auf angeblich anhaltende Kämpfe mit »Terroristen« verhindert, berichtete die kurdische Nachrichtenagentur ANF. Die zum Schutz der Bevölkerung gegründeten zivilen Verteidigungseinheiten (YPS) hatten jedoch bereits am 2. Februar betont, dass es in dem betreffenden Gebiet weder bewaffnete Kräfte noch Auseinandersetzungen gibt.

Die Attacken auf die Stadt gehen jedoch weiter. Am späten Donnerstag abend geriet ein mehrstöckiges Wohnhaus in Brand, nachdem es von Artillerie und Panzern beschossen worden war. Der Nachrichtenagentur ETHA zufolge wurden dabei neun Menschen getötet, 28 weitere sollen sich mit zum Teil schweren Brand- und Schussverletzungen noch in dem Gebäude befinden. Der Kovorsitzende des Volksrats von Cizre, Mehmet Tunç, der sich ebenfalls in dem brennenden Haus befindet, sagte in einem Telefoninterview mit dem Fernsehsender Özgür Gün: »Wir geben Zahnpasta auf die Wunden.« Die neun Todesopfer waren ihm zufolge bei lebendigem Leibe verbrannt. »Wir hatten etwas Wasser, wir haben versucht sie zu löschen, sie zu retten, aber wir haben es nicht geschafft«, berichtete er. Die Mörserangriffe der Staatsmacht, so Tunç, gingen derweil weiter, gepanzerte Militärfahrzeuge fuhren auf der Straße Patrouille. »Falls wir hier sterben sollten, dann war es eindeutig Mord.«

Unterdessen meldet die Nachrichtenagentur ANF, dass am Freitag in Cizre die Leichen dreier Zivilisten aus dem Kampfgebiet geborgen und zur Identifikation ins staatliche Krankenhaus gebracht werden konnten. Am Donnerstag ist zudem laut einer Erklärung der YPS-Einheiten in Sur der 13jährige Murat Menekse seinen Verletzungen erlegen. Er war am Donnerstag bei einem Angriff von Polizei und Armee durch eine Mörsergranate schwer verletzt worden. Seine Leiche konnte bisher nicht aus dem Kampfgebiet geborgen werden.

In Ankara, Istanbul, Izmir und zahlreichen weiteren Städten gab es am Donnerstag abend Protestdemonstrationen gegen das Vorgehen der Staatsmacht. Eine Kundgebung der Demokratischen Partei der Völker (HDP) auf dem Galatasaray-Platz in Istanbul wurde nach wenigen Minuten von der Polizei mit Gewalt aufgelöst. Dabei setzten die Einsatzkräfte laut ETHA Wasserwerfer, Tränengas und Hartgummigeschosse gegen friedliche Demonstranten und anwesende Pressevertreter ein. 13 Menschen wurden festgenommen und zahlreiche verletzt, darunter auch zwei Journalisten. Als Grund für den Einsatz nannte die Polizei ein Transparent, auf dem die Kriegspolitik der AKP-Regierung als »bestialisch« bezeichnet wurde. Auch in den kommenden Tagen soll es unter dem Slogan »Laut sein für den Frieden« in zahlreichen Städten der Türkei zu weiteren Solidaritätsaktionen kommen.

Kevin Hoffmann, Istanbul / Junge Welt vom 6. Februar 2016