BAKUR Ende März war eine Delegation des Revolutionären Aufbau Schweiz bei Newroz-Feiern in der Türkei. Die Situation dort ist extrem und wird sich kaum beruhigen.
Wir waren nur einige Tage im kurdischen Teil der Türkei, den man auf kurdisch «Bakur» nennt. Wir sprachen in der Zeit mit einigen über die politische Lage, nahmen an Feiern und Minibus-Konvois teil, erfuhren von den Erlebnissen anderer Delegationen, die mehr Probleme mit dem Militär und der Polizei hatten als wir, und erlebten, wie omnipräsent diese in der Altstadt von Diyarbakir sind.
Um die Situation jetzt zu verstehen, muss man kurz zurück blicken. Nach den Parlamentswahlen im Sommer 2015, in denen die AKP verhältnismässig schlecht und die HDP verhältnismässig gut abschnitt, begann eine Periode der Unsicherheit für die fortschrittliche Bewegung in der Türkei. Auf der einen Seite war die Freude über den parlamentarischen Erfolg gross. Auf der anderen Seite aber auch die Bedenken darüber, was Erdogan und seine Partei wohl tun werden, um an der Macht zu bleiben. Schnell zeigte sich, dass die AKP autoritär reagiert. Eine reaktionäre Stimmung wurde geschürt, polizeiliche und militärische Angriffe gegen die Bewegung häuften sich. Im zweiten Wahlgang im späten Herbst schnitt die AKP wieder besser ab, behielt den Druck gegen die Bewegung aber aufrecht. Es gab und gibt keine Beruhigung der Situation, im Gegenteil, Dörfer und Stadtquartiere werden weiterhin belagert, Hunderttausende verlassen ihr Zuhause, Hunderte sterben. Was der Staat lostritt, trägt faschistoide Züge.
Auf kurdischer Seite liessen die Antworten nicht lange auf sich warten. Die illegale Jugendorganisation der Bewegung, YDG-H, bildete im Winter 2015 zivile Selbstverteidigungseinheiten, YPS, und versuchte so, den Angriffen in den Städten entgegenzutreten. Während die Guerilla der PKK, die HPG, vorerst in den Bergen bleibt, weitet sich der Widerstand in den Städten aus. Quartiere werden zur No-Go-Area für Polizisten, Mitglieder von Sondereinsatzkommandos des Militärs sterben. Die Tatsache, dass der Kampf gegen den türkischen Staat derart in die Städte getragen wird, ist ein neuer Schritt in der Geschichte der dortigen Auseinandersetzung. Während des Kriegs in den 90er-Jahren trugen sich die Konflikte in der Regel auf dem Land aus, die Jugend derer, die damals in die Städte flohen, eröffnen nun hier eine neue Front. Selbstverständlich spielen die Erfahrungen aus dem Häuserkampf gegen den «Islamischen Staat» in Kobane eine Rolle, aber die Organisierung ist heute weitestgehend eigenständig.
Überall ist Kontrolle
Der Friedensprozess zwischen der PKK und dem türkischen Staat, der nie wirklich voranschritt, ist definitiv auf Eis gelegt, die Konfrontation hat sich massiv zugespitzt, es gibt Ausgangs- und Mediensperren. Und dann ist das Frühlings- und Neujahrsfest Newroz, welches traditionell in dieser Region begangen wird. Am Abend vor dem grossen Fest in Diyarbakir gingen wir nach Sur, der Altstadt Diyarbakirs. Umringt von einer alten Stadtmauer war dieser Teil der Stadt wochenlang Schauplatz bewaffneter Konfrontationen, niemand durfte rein, niemand raus. Erst kurz vor Newroz wird diese Sperre aufgehoben, wir passieren diverse Checkpoints der Polizei und immer wieder wird gefragt, was uns eigentlich einfalle, jetzt hierhin zu kommen. Im Vergleich zu den Erfahrungen anderer Delegationen, die beim Besuch Surs mit einer Kamera in der Hosentasche gleich stundenlang auf einen Polizeiposten geführt werden, ist das aber moderat.
Entgegen den Behauptungen des Gouverneurs der Region, welcher von Ankara eingesetzt wird, ist die Sperre nicht komplett aufgehoben. In den Teil des Quartiers, wo die Kämpfe am heftigsten waren, kommt man auch jetzt nicht rein. Grosse Vorhänge quer über die Strassen versperren den Einblick, immer wieder fahren Lastwagen an uns vorbei, die Schutt abtransportieren. Leute erzählen, dass sie immer noch nicht zu ihren Wohnungen können, andere davon, dass sie Gegenstände aus ihren Häusern dort gesehen haben, wo der Schutt zwischengelagert wird. Für alle ist klar, dass der Staat die Dimensionen des Militäreinsatzes verheimlichen will und Beweise offen vernichtet. Zeitgleich wird ein Enteignungs- und Aufwertungsprogramm der Regierung vorangetrieben, geplant ist ein «neues Toledo». Kurz nachdem wir in die Schweiz zurückkehren, wird bekannt, dass die AKP mehr als 90% der Fläche von Sur kurzerhand verstaatlicht hat, um ihr Projekt voranzutreiben. Alle, die in diesen Häusern lebten, sollen rausgeschmissen werden und Wohnungen ausserhalb der Stadt erhalten. Ein Angebot, auf welches niemand freiwillig eingehen will.
Als wir am Tag darauf zur Newroz-Feier fahren, erzählt man uns von vielen, die heute nicht kommen. Zum einen ist da die Furcht vor einem Anschlag des «Islamischen Staats» oder den Angriffen der Polizei, andere sagen, dass jetzt keine Zeit der Freude, sondern eine Zeit der Trauer und der Wut ist. Eine Lehrerin, mit der wir reden, erzählt uns, dass sie Angst um ihre Stelle hat, wenn sie ans Fest statt zur Schule ginge. Während dies bis anhin Usus war und jeweils rund die Hälfte der LehrerInnen und SchülerInnen an dem Tag der Schule fernblieben, hat die AKP-Regierung in den vergangenen Monaten die Schrauben massiv angezogen. Neu werden Listen derer erstellt, die an dem Tag abwesend sind, und wer drauf steht, darf mit einem Verfahren rechnen.
Beim Newroz-Gelände selber gibt es drei Ringe, die es zu passieren gilt. Zuerst durchsucht die Polizei alle, die aufs Gelände gehen, und beschlagnahmt alles, worauf die Logos illegaler Organisationen aufgedruckt sind. Danach gibt es Kontrollen, die vom Organisationskomitee durchgeführt werden, wo nochmals in jede Tasche geschaut wird und alle abgetastet werden. Einmal auf dem Areal wird dann gefeiert, es gibt Reden, Musik und Zusammenschnitte von gefilmten bewaffneten Operationen der Bewegung. Ein Neben- und Miteinander, das beeindruckt. Hunderttausende sind schliesslich gekommen, das ist weniger als in den Jahren zuvor, aber viel angesichts der Stimmung in der Türkei.
Zu Beginn sind wir darüber perplex, dass die Feier grösstenteils problemlos über die Bühne geht. Aber schnell wird uns erklärt, dass es dem Staat durchaus in den Kram passt, wenn es nur eine zentrale Newroz-Feier in Diyarbakir gibt, statt viele in verschiedenen Städten und Quartieren. So erklärt es sich denn auch, warum das Militär die Feier am Tag darauf in Cizre angreift und den Konvoi von Minibussen der internationalen Delegationen und der Co-Vorsitzenden der HDP auf der Strasse anhält. Rund zwei Stunden stehen sich dort das Militär und wir uns gegenüber, die stehende Autokolonne dies- und jenseits der Sperre wird mehrere Kilometer lang, aber niemand kommt durch.
Überall ist Widerstand
Für alle, mit denen wir sprachen, war klar, dass es jetzt erst losgeht. Die PKK hatte angekündigt, ihre Guerilla in die Städte zu schicken, wenn die Angriffe weiter anhielten. So warten jetzt viele darauf, dass der Frühling kommt und es der HPG möglich wird, von den Bergen in die Täler und Städte zu kommen, ohne von der türkische Armee aufgespürt zu werden. Der Umgang mit dieser Situation, also mit der, die ist, aber auch mit der, die sein wird, ist unterschiedlich. Als wir mit der Lehrerin, von der wir oben schrieben, in einer Bar sprachen, sagte sie uns: «Alle, die jetzt hier drin sitzen, werden kämpfen, wenn der Krieg kommt.» Sie erzählt, dass viele die Angriffe der TAK gut finden, weil so der Krieg im Westen der Türkei spürbar wird, auch wenn niemand zivile Opfer gutheisst.
Aber die relativ ruhigen vergangenen Jahre und der Erfolg der HDP haben auch dazu geführt, dass es Leute gibt, die Mühe mit dieser Zuspitzung haben. Wer heute besser da steht als in den 90ern, fürchtet nun darum. Versicherungen von einzelnen MitgliederInnen der HDP, dass die Zeit der Kämpfe vorbei seien, taten ihr Übriges. Ein Phänomen, das für die kurdische Bewegung eher neu ist. Ercan Ayboga (Mitautor des Buchs «Revolution in Rojava») erzählte uns, dass er sich darüber nicht Sorgen mache. Hauptsächlich werde die Bewegung von unten getragen, von Leuten, denen es auch in den vergangenen Jahren nicht besser ging. Eine starke Minderheit innerhalb dieser Basis habe sich in den vergangenen Monaten radikalisiert und organisiert. Der Rest der Basis treibe diese Entwicklung nicht direkt voran, werde sie aber unterstützen.
Niemand sagte uns, dass man sich den Krieg herbei wünscht. Aber angesichts der Entwicklung des Zentralstaats gibt es für sehr viele schlicht keine Alternative zu einer Stärkung des bewaffneten Kampfes. Dafür spricht auch der Zusammenschluss verschiedener illegaler Strukturen (darunter neben der PKK auch die MLKP, MKP und TKP/ML) am 12. März und die angekündigte Frühlingsoffensive derselben. In der gegenwärtigen Lage stellt sich nicht nur die Frage, wie man sich verteidigt, sondern auch, wie man eine revolutionäre Dynamik entwickeln und vorantreiben kann.