Würden die EU und die Schweiz proportional so viele Flüchtlinge aufnehmen wie der Libanon mit einem Flüchtlingsanteil von über 30%, müssten sie die Tore weit öffnen: für 100 Millionen Menschen. Stattdessen wurde das Bild einer drohenden „Überschwemmung“ propagiert. Nachdem die Mächtigen in der EU eine rassistische Stimmung mit entfacht haben, geben sie sich jetzt als von Ankara erpresst, da sonst „Millionen“ Flüchtlinge kämen. So ist die Türkei zum „sicheren Herkunftsland“ geworden – über Nacht.
Ergebnis: Die Leute, die es unter widrigsten Bedingungen bis auf europäischen Boden geschafft haben, können jetzt zurück in die Türkei verfrachtet werden, von dort weiter in die Zonen von Krieg und Elend, aus denen sie ursprünglich geflüchtet sind. Krieg und Elend, für die die westlichen Mächte inklusive der Schweiz eine zentrale Mitverantwortung tragen. Der Rest des Flüchtlingsdeals mit der Türkei – die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in Europa – wird grossenteils Makulatur bleiben, wie schon alle bisherigen diesbezüglichen Zusagen.
Die EU (samt Schweiz & Co.) hat als Türsteher vor dem Schengen-/ Dublin-Raum Erdogan für bisher 6 Milliarden Euro verpflichtet. Für Flüchtende ist dieses Abkommen mörderisch. Zuallererst für Kinder und für Frauen, dem westlichen Diskurs von Frauenrechten zum Trotz. Eigentlich sollte solcher Zynismus noch den Letzten die Augen öffnen. Tut er aber nicht. Denn dann müssten doch viele vom rassistischen Zeitgeist abrücken. Und die Medien könnten nicht mehr unbekümmert kolonialen Schleim absondern, sondern müssten das globale Terrorkommando der hiesigen Mächtigen hinterfragen. Undenkbar.
Frauen müssen fliehen, Frauen können kämpfen. Letzteres sehen wir eindrücklich in den Reihen der kurdisch-türkischen Bewegung. Während die einen von der EU/Schweiz erneut vertrieben werden, werden die anderen bekriegt. Dass der Kampf gegen die türkisch-kurdische Bewegung auch von Berlin, Bern oder Paris aus geführt wird, hat einen historischen Hintergrund. Zahlreich sind die finanziellen Verstrickungen und die wirtschaftlichen Abhängigkeiten zwischen hier und dort, bedeutsam ist die geopolitische Bedeutung des NATO-Partners Türkei. Die aktuelle Kollaboration mit Erdogan ist also nicht bloss einer Erpressung verschuldet. In das Konzept europäischer Regierungen passt die Bekämpfung von fortschrittlichen Bewegungen, da diese gerade auch ihr Fundament der Macht untergraben. Was die Bewegung in der Türkei, vor allem in Bakur, dem Südosten des Landes, zu erkämpfen versucht, würde auch hier, im Herzen der europäischen Bestie, vieles auf den Kopf stellen.
Die Flüchtlingspolitik Ankaras wird von der EU/Schweiz mitfinanziert und zur Bekämpfung der hiesigen fortschrittlichen Bewegung genutzt: Viele staatliche Flüchtlingscamps in der Türkei werden dort platziert, wo sie am ehesten latente ethnische und religiöse Spannungen wiederbeleben können, getreu dem Grundsatz „Teile und Herrsche“. Und im syrischen Grenzgebiet – in Rojava – errichtet Ankara mit der Platzierung von Flüchtlingslagern jenseits der Grenze faktisch die angestrebte „Schutzzone“, um zugunsten der protegierten islamistischen Kräfte zu intervenieren und die Vereinigung der kurdischen Kantone Kobane und Efrin verhindern zu können.
Es ist wichtig, die Zusammenhänge zwischen der Flüchtlingspolitik der EU, der Schweiz und der Türkei mit dem Krieg des türkischen Staats in Bakur aufzuzeigen und zu thematisieren. Dort, im Südosten der Türkei, wird eine Migrationspolitik vorangetrieben, die auch eine gezielte Aufstandsbekämpfung ist. Von hier wird diese Politik unterstützt. Auf welcher Seite der Barrikade stehen wir?
Rojava-Komitee Zürich, 27.4.2016