Brexit – Big Bang

Briten stimmen für Austritt aus der Europäischen Union. Arbeiter ­verweigern Labour und Gewerkschaften die Gefolgschaft. Schotten und Nordiren ­diskutieren Abspaltung vom Vereinigten Königreich
Entsetzen in Brüssel, Verluste an den Börsen, Kurssturz des Pfund Sterling, hilflose Kommentare in den Hauptstädten: Die Briten haben den Austritt aus der EU beschlossen, und Premierminister David Cameron hat seinen Rücktritt bis zum Parteitag der Konservativen im Oktober angekündigt. Im Referendum vom Donnerstag, das erst am Freitag morgen ausgezählt war, stimmten 52 Prozent für den »Brexit«, 48 Prozent votierten für den Verbleib in der EU. Die Beteiligung lag bei 72 Prozent.

Es waren vor allem Menschen aus der Arbeiterklasse, die wählen gegangen sind, um das verhasste Establishment abzustrafen. Wie tief das Misstrauen gegen den Staat und die politische Klasse inzwischen reicht, ließ sich schon am frühen Donnerstag nachmittag erkennen. In nordenglischen Städten brachten viele ihre eigenen Kugelschreiber in die Wahlkabinen mit, weil sie die bereitgelegten Bleistifte nicht nutzen wollten. Sie fürchteten, dass ihre Kreuzchen nachträglich ausradiert und die Wahlzettel so gefälscht werden könnten.

Viele von denen, die für den »Brexit« stimmten, sind klassische Wähler der sozialdemokratischen Labour-Partei. Sie folgten somit weder der Linie ihres Parteichefs Jeremy Corbyn noch der des britischen Gewerkschaftsbundes TUC. »Viele unserer Gemeinden fühlen sich aufgrund der Sozialkürzungen verschiedener aufeinanderfolgender Regierungen betrogen. Gerade die Ärmsten leiden am meisten. Ihre Gemeinden haben die meisten Kürzungen zu verkraften und sollen gleichzeitig viele Migranten aufnehmen, ohne dass ihnen dafür staatliche Ressourcen zur Verfügung gestellt werden«, fasste Corbyn das Ergebnis am Tag nach dem Referendum zusammen. In den kommenden Wochen und Monaten wird er sich mit Angriffen des rechten Parteiflügels auseinandersetzen müssen. Dieser wirft ihm vor, nicht energisch genug gegen den »Brexit« gekämpft zu haben. Um politisch überleben zu können, wird er jenen Radikalismus zurückgewinnen müssen, der ihn in die Position der Labour-Parteichefs katapultiert hatte.

Bei den Konservativen stehen Monate des Hauens und Stechens bevor, ihre künftige Handlungsfähigkeit steht auf dem Spiel. Cameron kündigte zwar seinen Rücktritt, aber keine Neuwahlen an. Letztere würden sehr wahrscheinlich Labour an die Regierung und den Tories eine Niederlage bringen. Einen sofortigen Urnengang forderte am Freitag Dave Nellist, der Sprecher des linken Wahlbündnisses TUSC (Gewerkschaftliche und sozialistische Koalition). Auch der rechtspopulistische UKIP-Führer Nigel Farage macht sich Hoffnungen und verlangte die Bildung einer »Brexit-Regierung«.

Mit der Entscheidung für den »Brexit« kehrt die nationale Frage auf die politische Tagesordnung zurück. In Schottland hat sich eine Mehrheit für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Damit steigt der Druck auf die Scottish National Party (SNP), ein neues Referendum für die Unabhängigkeit des Landes durchzuführen – um auf diese Weise in die EU zurückzukehren. Die Chefin der schottischen Regionalregierung, Nicola Sturgeon, sagte bereits, die Möglichkeit eines solchen Referendums bestehe definitiv. Auch in Nordirland votierte eine Mehrheit gegen den Austritt. Sinn-Féin-Parteichef Gerard »Gerry« Adams gab in einer Stellungnahme »englischen Wählern« die Schuld am Ergebnis und forderte ebenfalls eine Volksabstimmung über den Übertritt Nordirlands in die Republik Irland.

In der Bundesrepublik reagierte das Establishment geschockt und mit Schuldzuweisungen auf die Entscheidung der Briten. SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel sowie EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) erhoben Vorwürfe gegen die Staats- und Regierungschefs, die mit Alleingängen die »Europaskepsis« angefacht hätten. »Die EU-Technokraten und ihre neoliberale Austeritätspolitik haben Europaskepsis und Nationalismus den Boden bereitet«, erklärte die Partei- und Fraktionsspitze der Linken. »Mit dem heutigen Tag ist der Kampf um eine neue soziale und politische Idee für ein Europa des Friedens und der Weltoffenheit neu entbrannt«, teilten Sahra Wagenknecht, Dietmar Bartsch, Katja Kipping und Bernd Riexinger mit. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einem »Einschnitt für Europa«. Es komme jetzt darauf an, den Menschen zu vermitteln, wie sehr die EU dazu beitrage, ihre Situation zu verbessern. Dem entgegnete der Vorsitzende der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Patrik Köbele, die arbeitenden Menschen in Europa spürten konkret, »wie das imperialistische Staatenbündnis EU dazu beiträgt, ihr Leben zu verschlechtern«. Deshalb begrüße die DKP die Entscheidung der britischen Wähler, die Union zu verlassen. »Dabei sehen wir natürlich auch die rechten Kräfte im ›Brexit‹-Lager. Sie haben die sozialen Probleme benutzt, um Angst vor Flüchtlingen zu schüren. Diese Kräfte sind und bleiben unsere Gegner«, betonte Köbele.

Christian Bunke, Manchester / Junge Welt vom 25. Juni 2016