Communiqué zum negativen Entscheid des Obergerichts wegen der schweren Augenverletzung beim StandortFUCKtor 2013 in Winterthur
Am 21. September 2013 nahmen mehrere hundert Jugendliche und Erwachsene aus Winterthur und Umgebung an einer Tanz-Veranstaltung namens „StandortFUCKtor“ teil, um tanzend ein Zeichen gegen die massiven Einschränkungen im öffentlichen Raum und die vertreibende Stadtaufwertung zu setzten. Immer wieder wurde zur Teilnahme an der Veranstaltung aufgerufen per Flyer, Internet und auch per Radio. Eine Durchsage von Radio Stadtfilter Winterthur am selben Tag lautete: „Macht es richtig, seid gut, bleibt vernünftig, voller Hoffnung, voller Frieden, seid menschlich, emotional, gewaltfrei und respektvoll, seid intelligent, seid freundlich, seid bestimmt… seid lieb zueinander… und denkt an die Sache und nicht an Euch selbst! Und passt gut auf Euch auf!“
Was dann folgte, hinterliess die TeilnehmerInnen in einer erschütterter Fassungslosigkeit. Der Abend begann am Bahnhofsplatz, eingezäunt mit Absperrgittern in jede Richtung. Ein Grossaufgebot an Polizei in Kampfmontur, Kasten- und Gitterwagen und Wasserwerfer empfingen die Teilnehmenden. Als sich die Veranstaltung zum Salzhaus verschob, wurde sie durch dieses riesige Aufgebot eingekesselt. Das hinderte die Leute jedoch nicht daran, ausgelassen in der Menge zu kleinen Konzerten und Musik von DJ’s zu tanzen, und sich mit FreundInnen zu amüsieren.
Von Anfang an sollte die Veranstaltung offenbar im Keim erstickt werden. Dabei scheute sich die Stadt nicht, mit massiver Gewalt vorzudringen und Verletzte in Kauf zu nehmen. Es ging um das Statuieren eines politischen Exempels, das mit allen Mitteln durchgesetzt werden sollte: Es wurde eine grosse Zahl Polizeibusse mit mehreren dutzend StadtpolizistInnen und KantonspolizistInnen, Polizeihunden, Wasserwerfern und zahlreiche Gitterwagen aufgeboten; im Vorfeld wurden hohe Absperrgitter in allen Strassen und Unterführungen in der Umgebung installiert; auch waren die Bahnhofspolizei der SBB und die Securitrans im Einsatz.
Als der Ring der Gitterwagen immer enger geworden war, brauchte es für die Polizei einzig das Ablassen eines einzelnen Knallers als Vorwand, um die Menge anzugreifen: Die eingekesselte Menge von mehreren hundert TeilnehmerInnen und unbeteiligten PartygängerInnen wurde in einen Kessel, aus dem es keine Fluchtmöglichkeit gab, mit dem Wasserwerfer wie eine Vieherde in die schmale Gasse zwischen Salzhaus und Theater am Gleis gedrängt und von dort aus mit Gummischrot, Reizstoff-Granaten und Pfefferspray beschossen.
Nachdem zwei Wasserwerfer zuerst die Musikanlage zerstörten und sich danach direkt der Menge zuwandten, wurde der Befehl zum Gummischroteinsatz erteilt. Die Polizisten schossen von beiden Seiten des Kessels auf Kopfhöhe auf die teils panischen Leute und verletzten dabei mehrere Personen an Kopf und Augen. Unter den Schwerverletzten befand sich eine 19-Jährige Frau, die am Auge durch Gummischrot getroffen wurde als sie Schutz hinter einem Auto suchte. Das Gummigeschoss verletzte sie so schwer, dass ihre Sehkraft nur noch 5% (Stand Mai 2016) beträgt.
Entgegen der Behauptungen der Staatsanwaltschaft, war ein Verlassen des Kessels während des gesamten Einsatzes nicht möglich. Personen, die sich direkt zur Polizeireihe begaben, um den Kessel zu verlassen, wurden zurückgeschickt oder geschlagen oder mit Pfefferspray eingedeckt. Erst nach mehreren Stunden wiederholtem Gummischrot- und Wasserwerferbeschuss wurden die Leute einzeln kontrolliert, herausgelassen oder verhaftet.
Die verletzte Frau reichte Anzeige ein betreffend schwerer Körperverletztung und Amtsmissbrauch. Daraufhin entschuldigte sich der Polizeikommandant Fritz Lehmann mit Pralinen und einem Hausbesuch medientauglich bei der Verletzten für den Einsatz, der offenbar aus den Fugen geraten sei. Anstatt der vom Kommandanten versprochenen Hilfe, traf kurz darauf eine Busse von mehr als tausend Franken aufgrund der Teilnahme am StandortFUCKtor bei ihr ein.
Eine Voruntersuchung durch die Zürcher Stadtpolizei, ob der Fall der Verletzten überhaupt zu einem Strafverfahren führen sollte, begann. Ein Büroangestellter der Stapo Zürich, der sonst für häusliche Gewalt zuständig ist, verfasste einen seitenlangen Bericht mit Argumenten, weshalb eine Untersuchung nicht zu erwägen sei. Dies wurde aufgrund einer Beschwerde der Betroffenen in einem Urteil des Obergerichts zu Recht vehement abgelehnt.
Beispielsweise fanden sich auf dem Videomaterial der Tanzveranstaltung, das die Polizei herausgerückt hatte, keine Zeitangaben, wodurch die Untersuchung erheblich erschwert wurde. Denn der Zeitpunkt der Verletzung war bekannt, das Filmmaterial jedoch liess sich kaum zuordnen. Im Bericht der Staatsanwaltschaft erschienen plötzlich Zeitangaben beim Filmmaterial. Zahlreiche ähnliche, fragwürdige Hindernisse mussten durch die Betroffene überwunden werden und dies alles in einem Verfahren, in der ein Polizeikorps das andere untersuchen soll und fast ausschliesslich Beweismaterial verwendet wurde, welches die Polizei, gegen die das Verfahren lief, zur Verfügung stellte.
Die Untersuchung wurde ein zweites Mal durch den Staatsanwalt eingestellt. Dagegen erhob die Betroffene einmal mehr Beschwerde und nun wurde diese durch das Obergericht abgewiesen.
Gegen die Polizei soll endgültig kein Strafverfahren geführt werden, denn dazu reiche laut Obergericht das Videomaterial der Polizei nicht. Keine der vielen kurz geschnittenen Videos zeigten die Verletzte oder die schiessende Polizei zum Zeitpunkt der Verletzung. Die eindeutigen Aussagen von ZeugInnen, die berichteten, dass Gummigeschosse in diesem Moment reichlich verschossen wurden, reichten auch nicht. Trotz der rechtsmedizinischen Untersuchung, die besagte, dass Gummigeschoss sehr wohl ein plausibler Grund für eine solche lebenslange Verletzung sei, hielt die Staatsanwaltschaft an der phantastischen Behauptung fest, ein Schirm oder Ellenbogen wären ein wahrscheinlicherer Grund. Das, obwohl Zeugenaussagen (u. a. durch eine Reporterin von SRF) und Filmaufnahmen belegen, dass sich in der unmittelbaren Nähe der verletzten Frau keine Person befand und die Polizei unbestrittenermassen zum gleichen Zeitpunkt Gummischrot einsetzte.
Drei Jahre dauerte die Untersuchung, die für die Betroffene sehr belastend war und alles was dabei herauskommt, ist ein erfundener Ellenbogen- oder Stockstoss eines Unsichtbaren. Vielleicht hätte das Videomaterial des SRF den Beweis gegen die Polizei erbringen können, da sie die Verletzte zum Zeitpunkt der Verletzung filmten. Die Bitte, das Videomaterial verwenden zu dürfen, wurde jedoch vom SRF strikt abgelehnt, mit der Begründung, als Fernsehanstalt sei man der Neutralität verpflichtet.
Die Enttäuschung und Wut über dieses Urteil ist bei der Betroffenen und allen, die den Kessel erlebten, sehr gross. Viele freuten sich über den Mut der verletzten Frau, dass sie es wagte, sich auf ein solches Verfahren gegen diesen übermächtigen Gegner einzulassen. Das vorliegende Ergebnis wurde von vielen befürchtet.
Die Justiz ist in ihrem Alltag engstens mit Polizei und Staatsanwaltschaft verbunden und beide Institutionen sind aufeinander angewiesen. Es ist die Funktion der Justiz, den Status Quo zu schützen und dabei schützt sie auch die Staatsgewalt mit Uniform oder ohne. Es gibt unseres Wissens leider niemanden, der oder die hierzulande jemals vor Gericht Recht bekam, nachdem ihnen durch Gummigeschosse ein Auge, Jochbein oder anderes Körperteil schwer und bleibend beschädigt worden ist. Es gibt bis heute auch keine tatsächlich neutrale oder unabhängige Stelle, die bei den immer wieder auftretenden Fällen von Polizeigewalt eine Untersuchung führen könnte, die ihren Namen auch verdiente.
Alle, die an jenem Samstagabend im Kessel waren – an Euch ist diese Stellungnahme auch gerichtet – wissen, wie es wirklich war und werden es nie vergessen. Welche überbordende Gewalt von den unzähligen Polizisten in Vollmontur ausgegangen ist. Wie es sich anfühlte, sich nicht in Sicherheit bringen zu können, weil Wände von Polizisten, Gitterwagen, Wasserwerfer und sogar Polizeihunde den Weg versperrten. Die Stimme der Veranstaltung sollte regelrecht mit Gummischrot und Wasserwerfer zum Schweigen gebracht werden.
Auch wenn nun ein Gericht den Stadtbehörden die Definitionsmacht über den Abend in die Hände legen will, wissen wir, dass Papier geduldig ist und Gerechtigkeit oder Wahrheit nicht aus den Amtsstuben kommt. Daran ändert nun auch der nächste PR-Auftritt von Frau Günthard-Maier nichts.
Einige Betroffene des Polizeikessels und Antirep Winterthur, 4. Juli 2016