In Libyen gibt es zur Zeit zwei rivalisierende Regierungen. Nur die von Premier Fajes Sarradsch geführte »Einheitsregierung« gilt als international anerkannt. Sie wurde Anfang des Jahres unter Aufsicht der UNO gebildet und hat nicht die geringste demokratische Legitimation. Nachdem sie zunächst im tunesischen Exil residiert hatte, siedelte sie Ende März in die Hauptstadt Tripolis über. Dort hielt sie sich zunächst aus Sicherheitsgründen auf einem Marinestützpunkt auf. Erst vor etwa drei Wochen zog sie in die alten Regierungsgebäude im Stadtzentrum um.
Die Gegenregierung repräsentiert im wesentlichen nur Sonderinteressen ostlibyscher Stämme und anderer örtlicher Machtstrukturen. Ihr Sitz ist in Beida. Das sie unterstützende »Abgeordnetenhaus« (HOR) tagt – wenn überhaupt, was schon seit Monaten nicht mehr der Fall war – in Tobruk. Deshalb wird sie oft als »Tobruk-Regierung« bezeichnet.
Außerdem gab es früher auch noch die »Regierung der Nationalen Rettung« und ein mit ihr verbundenes Parlament in Tripolis. Beide haben sich aber seit der Übersiedlung der »Einheitsregierung« in die Hauptstadt praktisch aufgelöst. Das Parlament mit dem Namen »Allgemeiner Nationalkongress« wurde am 7. Juli 2012, weniger als ein Jahr nach dem Sturz von Muammar Ghaddafi, bei einer Beteiligung von 61,6 Prozent gewählt. Seine Amtszeit war jedoch von vornherein auf zwei Jahre befristet. Dieses Parlament wurde von fundamentalistischen Parteien unterschiedlicher Ausrichtung dominiert.
Über die Modalitäten der Durchführung von Neuwahlen kam es 2014 zum Streit. Moderate und laizistische Kräfte organisierten am 25. Juni 2014 eine Wahl, die jedoch nicht nur von den islamistischen Parteien, sondern auch von vielen Stämmen boykottiert wurde. Das Ergebnis war eine Wahlbeteiligung von nur 18 Prozent und das neue HOR fast ganz ohne Islamisten. Auf der anderen Seite beschloss der »Nationalkongress« eine unbegrenzte Verlängerung seiner Amtszeit.
Im August 2014 zwangen bewaffnete Islamisten, unter denen die Milizen aus Misrata die größte Rolle spielten, ihre Gegner zum Verlassen der Hauptstadt. Darauf ließ sich das HOR in Tobruk nieder. Es gewann sofort internationale Anerkennung, obwohl es offensichtlich alles andere als repräsentativ für die libysche Bevölkerung ist. Auch nach dem Einigungsplan, den die UNO im Dezember 2015 gegen den Willen beider Parlamente erzwang, bleibt das HOR die einzige legitime Volksvertretung. Genaugenommen hat die »Einheitsregierung« keine rechtmäßige Autorität, solange sie nicht vom HOR durch Abstimmung akzeptiert wird. Das ist bis jetzt nicht geschehen.
Großen Einfluss hat in Ostlibyen der ehemalige Ghaddafi-General Khalifa Haftar, ein langjähriger Vertrauensmann der CIA. Er unternahm im Mai 2014 unter der Bezeichnung »Operation Würde« einen erfolglosen Putschversuch gegen die islamistische Regierung und wurde kurz darauf Oberkommandierender der Streitkräfte der »Tobruk-Regierung«. Sie tragen den Namen »Libysche Nationalarmee« (LNA). Realistisch betrachtet, handelt es sich um die Privattruppe eines Warlords, der von Politikern keine Anweisungen entgegennimmt, aber auf dessen Schutz die »Tobruk-Regierung« nicht verzichten kann.
Haftar wird vom ägyptischen Militärregime und von den Vereinigten Arabischen Emiraten trotz eines 2011 verhängten UN-Embargos mit Waffen versorgt. Sein Hauptquartier befindet sich in der ostlibyschen Stadt Bengasi, die zum Teil aber immer noch von islamistischen Milizen kontrolliert wird. Diese haben sich zu »Bengasi-Verteidigungsbrigaden« zusammengeschlossen. Ihr Einfluss ist auch in Tripolis spürbar. Haftars Truppen kämpfen ausschließlich gegen sie und gegen Milizen in der von ihnen seit Monaten eingeschlossenen Stadt Derna. Am Kampf gegen den »Islamischen Staat« ist die LNA nicht beteiligt. Diesen führen hauptsächlich die Milizen aus Misrata, die fälschlich oft als Streitkräfte der »Einheitsregierung« bezeichnet werden. Zwar unterstützen sie diese zur Zeit, aber das ist kaum mehr als ein zerbrechliches Zweckbündnis.
Knut Mellenthin / Junge Welt vom 5. August 2016