Brutalstmögliche Realpolitik

Russland hat durch seine Syrien-Intervention die Lage im Nahen Osten umgekrempelt. Die Versöhnung mit der Türkei ist der zweite Akt
Russland hat dem syrischen Präsidenten Baschar Al-Assad zweimal das politische Überleben gesichert: das erste Mal 2013, als es Syrien überzeugte, seine Chemiewaffen der UNO zur Vernichtung zu übergeben, und den USA den Vorwand für den nächsten Regimewechselkrieg in letzter Minute aus der Hand wand. Der US-amerikanische private Nachrichtendienst »Stratfor« schrieb damals sinngemäß auf seiner Internetseite, es sei nun etwas viel »Machtprojektion« Moskaus im Nahen Osten gewesen, es habe seine Stärke und Durchsetzungskraft weit über Gebühr zur Schau gestellt. Es könne »für die USA reizvoll sein, Moskau an anderer Stelle Schwierigkeiten zu bereiten«. Zwei Monate später begann in der Ukraine der Euromaidan, ein, wie man inzwischen weiß, schon weit länger vorbereitetes Regimewechselszenario vor der russischen Haustür. Parallel dazu ließen die USA nicht davon ab, durch einen über ihre Verbündeten Saudi-Arabien, Katar und Türkei angefachten Stellvertreterkrieg Assad zu stürzen. Das zweite Mal rettete Russland Assad, indem es im letzten Herbst mit der Luftwaffe in die Kämpfe eingriff und damit einen Sieg des »Islamischen Staats« (IS) und der vom Westen gesponserten Rebellengruppen fürs erste verhinderte. Appelle der USA, die Offensive in Aleppo zu stoppen, wurden in der russischen Presse zuletzt schon gar nicht mehr kommentiert, sondern nur noch lächerlich gemacht.

Denn uneigennützig war Russ­lands Syrien-Einsatz natürlich nie. Moskau hat sich als Machtfaktor in einer Weltregion zurückgemeldet, über die USA und EU nach Belieben zu verfügen gedachten. Die mit einer geradezu atemberaubenden Geschwindigkeit ablaufende Normalisierung des türkisch-russischen Verhältnisses seit dem gescheiterten Militärputsch ist der zweite Schritt in diesem Prozess. Iran und Russland sollen Recep Tayyip Erdogan vor der drohenden Rebellion gewarnt haben, der türkische Präsident hat damit eine Dankesschuld gegenüber beiden, die er abzutragen beginnt.

Erdogan hat sich formell für den Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges im vergangenen November entschuldigt und die verantwortlichen Offiziere als vermeintliche oder wirkliche Putschisten verhaften lassen. Im Gegenzug hat Russland die Einfuhrsperren gegen türkisches Obst und Gemüse aufgehoben und den Tourismusboykott beendet. Wenn Erdogan heute in St. Petersburg mit Wladimir Putin zusammentrifft, ist das die symbolische Krönung dieses Prozesses. Aus russischer Perspektive ist damit die Einkreisungsfront an seiner Südflanke zumindest geschwächt.

Es ist dabei nachrangig, dass sich Russland in Syrien mit einem Präsidenten verbündet hat, der für ein säkulares Regierungsmodell steht, und in der Türkei mit einem, der genau jenen sunnitischen Islam an die politische Macht gebracht hat, der in Syrien den Anti-Assad-Rebellen als ideologische Fassade dient. Russland vertritt in beiden Fällen die Position der Zusammenarbeit mit der jeweils international anerkannten Regierung. Dieser Legitimismus ist der Strategie nicht unähnlich, die im 19. Jahrhundert das Zarenreich gegenüber dem damaligen »Regime-Change«, der bürgerlichen Revolution, verfolgte: Zusammenschluss der etablierten Monarchien in der »Heiligen Allianz«. Demokraten und Sozialisten haben das damalige Russland deshalb zum »Gendarmen der europäischen Konterrevolution« erklärt.

Einen Leidtragenden wird das türkisch-russische Tauwetter mit Sicherheit haben: die syrischen Kurden. Sie haben als erste den militärischen Kampf gegen die Barbaren des IS aufgenommen. Dass sie ein zusammenhängendes Gelände in Nordsyrien erobern, ist Erdogans Alptraum. Vermutlich wird Russland seine politische Unterstützung für die Kurden – im vergangenen Winter durften sie eine halboffizielle Vertretung in Moskau eröffnen – einstellen oder zumindest zurückfahren. Denn eine russische Vermittlung im Kurdenkonflikt wird Erdogan als Preis für die Kooperation mit Russland dann doch nicht zahlen wollen. Dazu hat er innenpolitisch keinen Anlass.

Reinhard Lauterbach / Junge Welt vom 9. August 2016