Peter Weiss, ein kämpfender Autor

Peter Weiss wäre am 8. November 2016 hundert Jahre alt geworden. Sein Werk durchzieht die Frage, wie Unterdrückung und Fremdbestimmung durch Kulturarbeit aufgehoben werden können. Daneben thematisiert es einen produktiven Umgang mit der realsozialistischen Geschichte und innerlinken Widersprüchen.

(rabs) «Ich war auf dem Weg, auf der Suche nach einem eigenen Leben.» Mit diesen Worten beendet der Ich-Erzähler seinen «Abschied von den Eltern», eine autobiographische Erzählung voller suggestiver, phantastisch-grausamer Kindheitsbilder. Geboren wurde Peter Weiss 1916 mitten in den Krieg, ein Jahr vor der Oktoberrevolution. Die Suche nach dem eigenen Leben führt ihn zu den sozialen Kämpfen seiner Zeit. Diese begleitet er als Schriftsteller, indem er politische Eindeutigkeit und ästhetische Mehrschichtigkeit miteinander zu verbinden weiss. Das Resultat ist eine Literatur, die Kunst als Subversion versteht und Gegenkräfte zur Herrschaftsgeschichte herausarbeitet.

«Ästhetik des Widerstands»

Am 22. September 1937 betrachten der Erzähler und seine Freunde Coppi und Heilmann den Fries des Pergamonaltars, der auf der Berliner Museumsinsel ausgestellt ist (vgl. Kasten). Die Freunde werden sich bald trennen müssen, sie ziehen in den antifaschistischen Kampf nach Deutschland, Schweden und Spanien. Vorerst interpretieren sie aber – aller Dringlichkeit des politischen Handelns zum Trotz – geduldig die steinerne Altardekoration. Der Fries stellt einen kriegerischen Aufruhr, ein Durcheinander von Körpern dar; die sogenannte Gigantomachie der griechischen Mythologie. Während dieser erheben sich die Giganten gegen die olympischen Götter und werden in einem Weltensturz von unerhörtem Ausmass besiegt. Fortan warten sie im Tartarus, der tiefsten Tiefe der Erde, auf eine Möglichkeit, ihre Ketten zu sprengen und sich erneut einen Weg an die Oberwelt zu verschaffen. Als in der Erde schlummernde Revolutionäre durchziehen sie bereits die antike Literatur, wo sie von Griechen und Römern stets aufs Neue in die Tiefe verbannt werden. Auch auf dem Pergamonfries kündet ihre Unterwerfung von der Perspektive der Sieger, der sich die jungen Antifaschisten aber nicht beugen. Sie versuchen sich in einer alternativen Interpretation, die auf eine subversive Aneignung von Kunst zielt. Noch die triumphalste Siegessäule erzählt nämlich – aufgrund der Mehrdeutigkeit von Kunst – auch vom Leid der Kriegsgefangenen und überlistet damit das Repräsentationskalkül der Macht. So auch der Pergamonfries: Seine grotesk verzerrten Körperformen geben neben aller Verherrlichung der Olympier einen Blick auf die Unterworfenen frei, und auf die Gewalt dieses ursprünglich-mythologischen Klassenkampfes. Die darin brodelnde Energie wird sich auf Dauer nicht aufhalten lassen. Es ist die Kraft der vielen aus der Erdmutter geborenen «Giganten, Titanen, Kyklopen und Erinnyen», die Kraft des Geschlechts der «Irdischen» (I, 13), dem sich die Freunde zugehörig fühlen.

Von der bürgerlichen Schulbildung abgeschnitten, fehlt ihnen das in den damaligen Gymnasien vermittelte Wissen, das u. a. die griechische Mythologie umfasste. Gleichwohl bringen sie den Stein zum Sprechen und entreissen ihm eine andere als die dominierende Geschichte. Dies ist denn auch das Muster des Romans, der mythologische, kunsthistorische und gesellschaftstheoretische Theoreme nach widerstrebenden Stimmen befragt, während er gleichzeitig ein aktuelles Modell zur Aneignung von Bildung jenseits akademischer Institutionen vorstellt.1 Eine solche Bildung hat u. a. den Vorteil, dass sie ohne den überheblichen Gestus auskommt, den institutionell legitimierte Abschlüsse auch in linken bzw. linksakademischen Kreisen leider noch zu häufig mit sich bringen. Coppi und seine Freunde lernen nicht, um mehr als andere zu wissen oder vom hohen Ross herabzuschauen auf vermeintlich «Ungebildete» und «Abgehängte» oder wie die abschätzigen Zuschreibungen unserer Tage sonst noch lauten. Sie lernen, um sich aus der Enge ihrer Betriebe zu befreien, um Mut, Kraft, List und Hoffnung auch aus der Auseinandersetzung mit Kultur und Ästhetik zu schöpfen.

Die Anstrengung, die dies bedeutet, bringt die «Ästhetik des Widerstands» auch sprachlich meisterhaft zum Ausdruck. Die Eröffnungsszene auf der Berliner Museumsinsel erstreckt sich über hundert Seiten, die reine Beschreibung und handlungsarme Reflexion enthalten. Vor den Antifaschisten ragt die Wand des Pergamonfrieses in die Höhe; sie zu erklimmen und den Stein zum Sprechen zu bringen, strengt an, erfordert Konzentration und Geduld. Gleiches gilt für die LeserInnen: Wir stehen Steilwänden aus langen Satzperioden, Einschüben, Klammern, Beschreibungen und Interpretationen von Kunstwerken gegenüber, die schon ohne die Romanbrille eine Herausforderung darstellen. Keine Frage, das Buch ist sperrig und verweigert sich einem identifikatorischen Zugiff. Es nicht fertig zu lesen oder nur streckenweise in Angriff zu nehmen, ist daher nicht peinlich, sondern kann durchaus Methode sein – Marxens «Kapital» liest sich bekanntlich auch nicht über Nacht. Lassen wir uns aber darauf ein, so entdecken wir einen Text, der Worte findet «für einen Stoff, der allen gehörte, doch ungreifbar schien, / und was sich bisher der Sprache entzogen hatte, war jetzt / vernehmbar» (Vorübung, S. 135). Peter Weiss schreibt solches über Dante, den Dichter der «Göttlichen Komödie», mit dem die Romanfiguren ein Totengespräch führen. Die Worte gelten aber auch für Weiss› eigenes Werk, das hohe ästhetische Ansprüche stellt und ihnen gleichermassen genügt. So weist der Roman trotz zehnjähriger Schreibarbeit nämlich eine präzise Komposition auf, die sich u. a. darin zeigt, dass der Erzählfaden vom Anfang am Schluss wieder aufgenommen wird. Der Ich-Erzähler imaginiert sich ein zweites Mal vor den Pergamonfries und macht den nunmehr dialektisch erschlossenen Stein zum Ort des Gedächtnisses, in den auch die Geschichte der Protagonisten Einlass gefunden hat: «Coppis und meine Eltern würde ich sehn im Geröll, es würde pfeifen und dröhnen von den Fabriken, Werften und Bergwerken […] Steine würden durch die Luft fliegen, Feuer und Blut würden aufschiessen.» (1195) Und dann gelingt er, der konjunktivische Griff «dieser weit ausholenden und schwingenden Bewegung, mit der sie den furchtbaren Druck, der auf ihnen lastete, endlich hinwegfegen könnten» (1196).

Über die Produktivität der Widersprüche

Eine Sprache finden für Ungesagtes und vermeintlich Unsagbares sowie angemessene Formen der Erinnerung, dies sind Themen, die Weiss schon vor der «Ästhetik» begleiten. In der «Ermittlung», seinem wohl bekanntesten Stück, setzt er sich über den Gemeinplatz der Nachkriegsliteratur hinweg, dass der Schrecken des Holocaust literarisch nicht darstellbar sei. Das Stück montiert Zeugenaussagen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses zu einem Oratorium, das einen subtilen Einblick in die Funktionsweise des Vernichtsungslagers und die personellen und ideologischen Kontinuitäten der NS- und der Nachkriegsgesellschaft gibt. Die elf Gesänge werden so zu einem Erinnerungsraum des Ortes der Vernichtung, dem der Jude Peter Weiss entkommen konnte.

Erinnern will der Autor aber auch an den Umgang mit Widersprüchen innerhalb der Linken. Denn so sehr Weiss für die Kämpfe der Unterdrückten Position bezog, so wenig tat er dies auf eine dogmatische oder rechthaberische Art und Weise. Motor seines Schaffens blieb stets der Zweifel, dem er auch seine Widerstandsprotagonisten aussetzt, etwa wenn sie mitten im spanischen Bürgerkrieg die Moskauer Prozesse diskutieren, wo eine «abweichende Ansicht [eine] verbrecherische Ansicht [ist]» (369). Wolfgang Fritz Haug schreibt, dass wir den Roman auch deswegen brauchen: Weil er eine schonungslos kritische Vergangenheitsbewältigung leistet, ohne das sozialistische Projekt preiszugeben. Dieser Geschichte begegnet Weiss auch andernorts auf unkonventionelle Weise. Etwa, indem er das Stück «Trotzki im Exil» als unorthodoxen Beitrag zum Lenin-Jahr 1970 publiziert. Weder Anfeindungen aus den eigenen Reihen noch ein Einreiseverbot in die DDR halten ihn in der Folge davon ab, Sozialismus und Freiheit nur gemeinsam denken zu wollen. Revolutionär zu sein, bedeutet für Peter Weiss, «nach Bewegung, nach Offenem, nach Abweisung des Fertigen [zu] streben, andrängend gegen Doktrin, den Fanatismus, die versteinernden Einschränkungen des Denkens» (Rekonvaleszenz, S. 18). Steine sollen ins Rollen gebracht werden – auch in unseren eigenen Köpfen.

1Vgl. Kaspar Surbers Votum für Volksuniversitäten in der Woz («Bildet euch und andere, denn nun tut Wissen not», 46/16).

Bibliographie

Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands, Frankfurt a. M. 2005.

Peter Weiss, Rekonvaleszenz, Frankfurt a. M. 1991

Peter Weiss, Vorübung zum dreiteiligen Drama divina commedia, 1965, in: Rapporte, Frankfurt a. M. 1968, S. 125 – 141.