Geschichte: Kulturrevolution in China
Von 1966–69 dauerte das Experiment der chinesischen Kulturrevolution. Um die Erkenntnisse daraus weiterwirken zu lassen, befassen wir uns in einer dreiteiligen Serie mit diesem bedeutenden historischen Ereignis. Im ersten Teil versuchten wir, die bürgerliche Geschichtsvermittlung zu demaskieren. Im zweiten Teil dokumentieren wir konkrete Beispiele der neuen Kultur, Politik und Produktionsweise. Im dritten Teil geht es um das Fortwirken und Verallgemeinern der Erkenntnisse aus der Grossen Proletarischen Kulturrevolution.
Teil II: Neue Kultur, neue Politik, neue Produktionsweise
KEIME DES KOMMUNISMUS Die Kulturrevolution in China ist ein bedeutender Orientierungspunkt im Kampf für revolutionäre Veränderungen in der Übergangsphase vom Sozialismus zum Kommunismus. Diese Erfahrungen sind wichtig, um konkrete Vorstellungen davon zu bekommen, für welche Perspektive wir kämpfen.
(agkkzh) Die Kulturrevolution (KR) war wohl die grösste Mobilisierung proletarischer Massen in der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung. Sie erfasste auch die letzten Winkel des chinesischen Alltages. Ziel der mobilisierten Studierenden, SchülerInnen, ArbeiterInnen und BäuerInnen war es, eine drohende Machtübernahme von Parteifunktionären, «die den kapitalistischen Weg gehen wollten», zu verhindern. Und nicht nur das, eine neue proletarische Revolution stand auf der Tagesordnung. Ein zentrales Ziel war, den Überbau, in dem bürgerliche Denkweisen wieder eine grosse Rolle spielten, fundamental zu verändern, daher Erziehung, Literatur und Kunst umzuformen.
Die grundlegende Idee, proklamiert im 16 Punkte-Programm vom 8. August 1966, zielte auf die Entfesselung eines politischen Kampfes, der den Massen die Möglichkeit bot, sich frei zu den herrschenden Zuständen zu äussern und ohne Zwang verschiedene Positionen zu vertreten. Dieser revolutionäre Prozess sollte vielfältige organisatorische Formen hervorbringen und letztlich zur Bildung von neuen revolutionären Machtorganen in den Fabriken, Bergwerken, in der Erziehung/Bildung und dem Staat führen. Die Funktion der Kommunistischen Partei war es, diesen Klassenkampf zu unterstützen. Der Aufbauprozess der neuen Macht orientierte sich an der Pariser Kommune. Was auf diesem Weg alles erreicht wurde, soll am Beispiel der Kommune von Shanghai 1967 aufgezeigt werden.
Allerdings überstürzten sich teilweise die Ereignisse und die Dynamik der Bewegung führte zu politischen Weiterungen, die kaum mehr zu kontrollieren waren. Der Klassenkampf erfasste die gesamte Gesellschaft inklusive die Volksarmee und die Kommunistische Partei und wurde verschiedentlich auch bewaffnet geführt. Die Klassenfeinde wurden hart angepackt. Unzählige politische Gruppen mit verschiedensten Positionen bildeten und bekämpften sich teilweise. Die Lage war zeitweise unüberblickbar, Fehler unvermeidlich. Es ist wichtig, den Widerspruch zwischen der proklamierten politischen Linie und der tatsächlichen praktischen Umsetzung dieser Linie anzuerkennen, und gleichzeitig diesen Widerspruch in Begriffen der realen gesellschaftlichen Kräfte zu behandeln. Dies gilt für alle revolutionären Prozesse.
Die Kommune von Shangha
Im Januar 1967 steuert die KR ihrem Höhepunkt entgegen. In Shanghai, der grössten Industriestadt Chinas, brodelt es. Hunderte von Gruppen revolutionärer ArbeiterInnen und StudentInnen beziehen sich auf die «Deklaration der 16 Punkte» als politische und ideologische Waffe, um den Aufbau des Sozialismus vorwärts zu bringen. Bereits im November 1966 hatten sich 30‒40’000 ArbeiterInnen aus 470 Fabriken zu «Shanghais Hauptquartier der revolutionären ArbeiterInnen-Rebellen» formiert. Im «Januarsturm» gelingt es ihnen, die Kontrolle der Stadtverwaltung zu übernehmen, sich der alten lokalen Parteistruktur zu entledigen und die Kommune von Shanghai zu gründen. Die bürokratische Administration wurde durch eine Volksregierung ersetzt, welche anfänglich praktisch alle hohen Kader der Partei und die Beamten der Stadt ausschloss. Die neuen Leitenden, welche die verschiedenen Massenorganisationen repräsentierten, konnten jederzeit gewählt und abgewählt werden, ganz nach Vorbild der Pariser Kommune.
Handfeste Linienkämpfe
Um den revolutionären Prozess aufzuhalten, setzten die bürgerlichen Kräfte Shanghais alle erdenklichen Mittel ein. Konservative Roten Garten wurden aufgestellt und gegen die revolutionären Garden aufgehetzt, Streiks in Fabriken, im Hafen und im Zugbahnhof angezettelt, um Produktion und Zirkulation lahmzulegen und ein Chaos anzurichten, wichtige Losungen und Artikel nicht gedruckt, Züge in die Pampa umgeleitet, in denen Delegierte zu Versammlungen hätten fahren sollten, u.a. Die Linienkämpfe fanden auf allen Ebenen und in allen Bereichen statt-
Im Januar 1967 gelang es den organisierten Massen die zwei grössten Zeitungen unter ihre Kontrolle zu bringen und wichtige Aufrufe an die Bevölkerung Shanghais zu richten. Am 11. Januar erreichte sie ein offizielles Glückwunschtelegramm aus Peking, unterzeichnet vom Zentralkomitee, vom Regierungsrat und vom Militärkomitee der Grossen Proletarischen Kulturrevolution. Des Weiteren wurde die Macht über das Büro der Eisenbahnen und den Bahnhof Shanghais übernommen, worauf wieder überlebenswichtige Kohle in die Stadt eingefahren werden konnte. Gleichentags übernahmen einige Tausend Mitglieder des Dritten Hauptquartiers der Roten Garden von Shanghai die Macht über das Departement der öffentlichen Sicherheit. Am Mittag wurde die Volksbank und ihre diversen Filialen besetzt, ein Komitee zur Überwachung der Produktion eingesetzt und das Büro der maritimen Navigation übernommen. Kurz danach konnten 37 Schiffe, die blockiert gewesen waren, wieder ausfahren. Durch die Machtübernahme der linken Kräfte in allen wichtigen strategischen Bereichen konnte auch die Produktion wieder aufgenommen werden. Die Losung hiess: Revolution und Produktion nebeneinander betreiben.
Dreierverbindungen gegen rechts und ultra-links
Doch nicht nur Angriffe der Revisionisten blockierten die revolutionären Prozesse, auch interne Fraktionskämpfe waren hinderlich. Eine Einheit aller Roten Garden war nicht möglich. So gab es bspw. Positionen mit der Losung «alles in Frage stellen, alle bekämpfen». Dagegen stellte sich die proletarische Position auf den Standpunkt, dass man nicht den Hauptfeind aus den Augen verlieren und sich auf Nebenschauplätzen aufhalten dürfe. Innerhalb der Prozesse war permanente Bewusstseinsarbeit notwendig um Erkenntnisse für den richtigen Weg zu gewinnen. Auch der Ausschluss von mittleren, teilweise auch hoher Kader, die Idee der reinen Bewegung, wurde von der maoistischen Linie kritisiert. Die Mehrheit der Kader sei in der Lage, sich selbst zu kritisieren und den revolutionären Weg unter Kontrolle der Massen wiederzufinden. Ziel war nicht der Sturz der alten Kader in grossem Massstab, sondern eine grosse Erziehungsbewegung, die die Weltanschauung der Massen und der Kader tiefgehend transformieren sollte. Deshalb wurden Revolutionskomitees auf der Basis der Dreierverbindung gegründet. Diese verbanden führende Kräfte der revolutionären Massenorganisationen, Mitglieder der lokalen Einheiten der Volksbefreiungsarmee und revolutionäre Kader der Partei. Diese sollten die revolutionäre Entwicklung stabilisieren, alte Erfahrungen und Fähigkeiten einbinden und mit den enthusiastischen jungen RevolutionärInnen zusammen bringen, Partei und Armee mit den Massen verbinden um gemeinsam den Sozialismus aufzubauen. Diese wurden als neue Organe der Macht verstanden. Die maoistische Linie betonte jedoch auch stets die Wichtigkeit einer starken Kommunistischen Partei um die revolutionären Prozesse anführen zu können. Am 5. Februar 1967 wurde auf dem Platz des Volkes in Shanghai vor mehr als 1 Mio. Menschen die Volkskommune von Shanghai ausgerufen.
«Im Verlauf der Debatte sollte jedeR RevolutionärIn imstande sein, die Dinge für sich zu überlegen und den kommunistischen Geist zu entwickeln, nämlich zu denken, zu sprechen und zu handeln wagen.» (Punkt 6 des 16-Punkte-Programms der KR)
Neues Rechtssystem
Bis 1966 lag das Rechtssystem Chinas in den Händen von drei Organen: der Polizei, den Vollzugsbehörden und den Gerichten. Zusammen mit der Armee waren sie die Instrumente der Diktatur des Proletariats. Während der KR wurden diese angeklagt, die Linie von Liu und Deng einzunehmen, sich von der Massenlinie zu entfernen, ihre Macht zu missbrauchen und sogar die revolutionären Kräfte zu unterdrücken. Ja letztlich, die Restauration des Kapitalismus zu begünstigen. Mao Tsetung hatte bereits verschiedentlich Xie Fuzhi, Minister der öffentlichen Sicherheit, aufgefordert, die Sicherheitskräfte zu zerschmettern. Am 7. August 1967, während einer Massenversammlung zum Fall des alten Ministers für Sicherheit, Luo Ruiqing, legte Xie Fuzhi dar, dass es die Massen sind, die die Organe der Sicherheit überwachen müssen und nicht umgekehrt, wie es in der SU mit dem KGB geschehen war. Die Macht des Ministeriums für Sicherheit sei zu gross, man müsse diese reduzieren auf ein Niveau, welches alle durchschauen können. Er forderte an dieser Versammlung öffentlich und offiziell die Massen dazu auf, sich gegen den alten Staatsapparat, welcher Polizei und Justizorgane formten, aufzulehnen. Mao und Xie wiederholten, dass es nicht gut ist, Leute zu verhaften, dass dies so wenig wie möglich geschehen solle – ausser bei schweren Vergehen – und dass Verhaftungen auf Anfrage und mit Hilfe der Massen geschehen sollen. Die chinesischen KommunistInnen formulierten das Prinzip der «Diktatur der Massen».
So wurde der Sicherheitsapparat massiv runter gefahren. Unter der Kontrolle der Massen wurden kleinere Delikte mittels Basisvolksgerichten verhandelt und TäterInnen unter die Supervision ihrer Einheiten gestellt, da diese sie auch am besten kannten. Man zählte dafür in den Städten rund 200’000 «Volksvermittlungs-Komitees». Das Soziale wurde über das Juristische gestellt. Die Kriminalitätsrate wurde dadurch massiv reduziert und an vielen Orten, auch Shanghai, wurden etliche Gefängnisse stillgelegt und ihre Insassen in die Hände ihres Umfelds gegeben. Solche Massnahmen der neuen Machtorgane, die aus dem Januarsturm der KR geboren worden waren, reduzierten massiv die Staatsausgaben. Auch weitere staatliche administrative Ausgaben konnten durch die Partizipation der Massen in den Revolutionskomitees gesenkt werden.
Neue Formen der ArbeiterInnenmacht – die Milizen
Unter der Führung von Zhang Chunqiao und Wang Hongwen wurde weiter versucht, die bewaffneten ArbeiterInnen-Milizen aufzubauen, um die regulären Armeekräfte zu ersetzen oder mindestens ein Gleichgewicht zu ihnen herzustellen. Dies führte zu einer schnellen Entwicklung der sog. «Zweiten bewaffneten Kraft» in Shanghai, welche hauptsächlich aus Milizen der städtischen ArbeiterInnen unter der Kontrolle der Roten Garden bestanden. Die reguläre Armee durch Milizen zu ersetzen wurde bereits von Marx in der Pariser Kommune als einer der hauptsächlichsten Gütestempel gesehen und von den chinesischen KommunistInnen als ein weiterer Weg gesehen, die «Diktatur der Massen» anzuwenden. Am 1. September 1967 wurde das Shanghaier Hauptquartier der «Wengong Wuwei» gebildet, d.h. mit Worten angreifen und sich mit Waffen verteidigen. Wang Hongweng ordnete bei zwei Shanghaier Fabriken an, Waffen für die Rebellenmilizen zu produzieren. Gleichzeitig wurden schwere Waffen aus Armeebeständen den ArbeiterInnenmilizen ausgehändigt. Bis Januar 1968 wurden in 28 Shanghaier Fabriken Kontingente von Wengong Wuwei gebildet, bestehend aus einer Gesamtzahl von 7’900 KämpferInnen. 1970 hatten bereits alle Betriebe Milizteams mit einer Anzahl von 29’000 KämpferInnen. 1973 waren mehr als 100’000 ArbeiterInnenmilizen gebildet worden, die aus zahlreichen Bodentruppen, fünf Artillerie-Batallionen, drei Flugabwehr Maschinengewehr-Kompanien und einem Motorrad-Regiment bestanden. Die Roten Garden bereiteten ebenfalls Ingenieurtruppen vor, eine Truppe gegen chemische Kriegsführung, eine Nachrichtentruppe und eine Radartruppe. Am 17. Januar 1975 wurde der legale Status der Volksmilizen in die neue Verfassung aufgenommen. Die Volksmiliz wurde als ebenso wichtig wie das stehende Heer erachtet. Artikel 15 der Verfassung von 1975 hielt fest: «Die chinesische Volksbefreiungsarmee und die Volksmiliz sind die eigenen bewaffneten Kräfte der ArbeiterInnen und Bauern, geführt von der Kommunistischen Partei von China, sie sind die bewaffneten Kräfte der Völker aller Nationalitäten.» Am 30. März 1976 wurde das Volksdepartement der bewaffneten Kräfte, welches ursprünglich unter der Führung der Armee stand, in das neue Hauptquartier der Milizen, unter der Kontrolle der RebellInnen überführt. Dies schwächte auf der einen Seite die traditionelle stehende Armee und stärkte auf der anderen Seite die «Zweite bewaffnete Kraft» unter der Kontrolle der Massen. Gegen Ende der KR hatte die von den Roten Garden kontrollierte Shanghai-Miliz 3’000’000 SoldatInnen mit 226’000 Gewehren ausgestattet, 1900 Kanonen, 2600 Raketenwerfer, 500 Panzer und ein Kriegsschiff.
Die Kommune von Shanghai und ihre Organismen waren in ihrem Wesen also Formen der ArbeiterInnenmacht. Nie zuvor waren so viele ArbeiterInnen-Garden in den Machtorganen repräsentiert, so viele chinesische ArbeiterInnen mit Gewehren und Artillerie bewaffnet, nie zuvor waren chinesische ArbeiterInnen mit einem solchen proletarischen Selbstbewusstsein ausgestattet, welche Staat und Gesellschaft so entscheidend lenkten. 1973 hatten rund 40’000 ArbeiterInnen in Shanghai führende Positionen in den Fabriken, anderen Arbeitseinheiten und höheren städtischen Organen. Nachdem die Volksrepublik China 1971 Mitglied der Vereinten Nationen wurde, trainierte Shanghai 113 ArbeiterInnen als DiplomatInnen, insbesondere auch weibliche Arbeiterinnen, die über alle Länder verteilt werden sollten.
Rasante ökonomische Entwicklung
Unter der Führung der bewussten ArbeiterInnenklasse erreichte Shanghai in den Jahren der KR gewaltige politische und ökonomische Erfolge. Im Gegensatz zur immer wieder vorgebrachten Behauptung, es habe während der KR ein ökonomischer Zerfall stattgefunden, trat das Gegenteil ein. Von 1966‒70 erhöhte sich der Produktionswert von Industrie und Landwirtschaft jährlich um 10%, von 1971‒75 um 41,9%. Shanghais ArbeiterInnen unterstützen auch andere Regionen und internationale Gemeinschaften mit ihrer Arbeitskraft, so waren über eine halbe Mio. FacharbeiterInnen auf dem Land und ärmeren Regionen des Landes beschäftigt. Auch behielt Shanghai nur 10% des Mehrwerts, um den Rest an das nationale Budget abzuliefern, um Regionen wie Xinjiang und Tibet zu unterstützen.
Das Absterben des Staates
Die Früchte des Januarsturms brachten ganz neue Formen revolutionärer Staatsstrukturen hervor. Einerseits war die Kommune von Shanghai nicht eine totale Negation der Partei und des Staates – dafür waren die Verhältnisse noch nicht reif genug, weshalb auch der Begriff «Kommune» später durch «Revolutionskomitee von Shanghai» ersetzt wurde. Anderseits hatte das Shanghaier Revolutionskomitee tatsächlich einige Charakteristiken der kommunalen semi-staatlichen Machtorgane. Mit der Formation der Revolutionskomitees durchlief die alte Staatsmaschinerie grosse Veränderungen. Das alte System, welches mit starker Unterstützung der regulären Armee, Polizei und Justiz und des bürokratischen Systems funktionierte, und welches von der systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit in der bürgerlichen Gesellschaft herrührte, wurde umgeworfen. In gewissem Mass begann die alte Staatsmaschinerie den langen Prozess des Absterbens. Die zwei grössten Quellen von Unkosten – die staatliche Verwaltung (Bürokratismus) und die Berufsarmee – wurden unter der politischen Struktur des Revolutionskomitees weitgehend reduziert. Die stehende Armee wurde dazu gedrängt, in der Produktion zu partizipieren und eine grosse Schule der Revolution zu bilden. Das alte Shanghaier Parteikomitee und das Volkskomitee wurden aufgehoben, bzw. kombiniert, um eine einzige Struktur zu bilden. Diese Vereinheitlichung von Partei und Regierung unter einer einzigen administrativen Struktur kam dem Ideal von Marx‘ Kommunalem Staat näher, in dem die Machtorgane eine arbeitende Struktur ist, «Exekutive und Legislative gleichzeitig» bildeten. An dieser Vorstellung hatten sich auch die russischen Räteorganisationen, die Sowjets, orientiert. Unter der neuen Struktur der der Revolutionskomitees wurden die AdministratorInnen auch aus ArbeiterInnen gebildet, die von den Massenorganisationen vorgeschlagen oder gewählt wurden. Auch die alten Kader mussten anfangs von den Massenorganisationen vorgeschlagen werden. Dies bedeutete, dass Kader, die nicht vorgeschlagen wurden, ihre führenden Funktionen in den neuen Machtorganen verloren. Zusätzlich waren die Delegierten verpflichtet, ihren Organisationen Berichte abzugeben und sie konnten jederzeit abgewählt werden. Zwingend erforderlich für alle AdministratorInnen war zudem eine Teilhabe an körperlicher Arbeit. So konnte die Kluft zwischen führenden Kräften der Machtorgane und den breiten Massen geschmälert werden. Alle diese Massnahmen sollten dem Aufbau des Semi-Staates und schlussendlich der staatenlosen kommunalen Gesellschaft dienen.
Die Rechten reissen das Steuer an sich
Schlussendlich jedoch standen grosse Teile der Armee rechts, zum Teil aus Eigeninteressen, zum Teil aus Angst, der Aufruhr und die chaotischen Zustände könnten den Aufbau des Sozialismus gefährden. Auch aussenpolitisch war die Situation äusserst heikel. Der Vietnamkrieg tobte, die USA standen vor der Tür, mit der SU war der Bruch vollzogen worden.
Der erste Rotgardist wurde am 5. Februar 1967 in Huhehaote, Mongolei, von der Armee während eines sit-in’s vor der Tür des Militärdistrikts erschossen. Han Tong, 24-jährig, rebellierte gegen die konservativen lokalen Armeeangehörigen. Im Verlauf dieser Auseinandersetzung wurden, je nach Quellen, zwischen 32’554 bis zu mehr als Hunderttausend Rebellen verhaftet. Auf Weisung Mao’s und Zhou Enlai’s jedoch wieder frei gelassen, trotzdem wurden 4’699 Personen noch in Haft belassen. Da im ganzen Land ähnliche Auseinandersetzungen stattfanden wird die Anzahl Verhafteter zu diesem Zeitpunkt auf mindestens 1 Mio. Menschen geschätzt.
In Sichuan exekutierten die Autoritäten zahlreiche RevolutionärInnen in verschiedenen Städten. In Wanxian z.B. füsilierte die Armee 170 RebellInnen. In der Provinz von Qinghai, im Nordosten des Landes, hielten Rote Garden die Räumlichkeiten der Zeitungsredaktion von Qinghai Daily besetzt. Es befanden sich Tausende von RotgardistInnen im Gebäude, als Truppen unter Vize-Kommandant Zhao Yongfu dieses umlagerten und am 23. Februar mehr als 300 RevolutionärInnen töteten, viele verletzten und die restlichen ins Gefängnis steckten. Wie gewohnt wurden die RebellInnen als «Konter-Revolutionäre» gebrandmarkt.
Weitere Exekutionen und Verhaftungen von Mitgliedern grosser revolutionärer Organisationen fanden im ganzen Land statt. Betroffen waren z.B. «Der 18. August» in der Provinz von Qinhai, die «Kommune des 7. Februar» in Henan, das «Hauptquartier der Metallarbeiter» in Hubei, das «Vorbereitungskomitee der Grossen Allianz» in Jiangxi, und andere mehr. Sie wurden als «Konter-Revolutionäre» gebrandmarkt und aufgefordert, ihre Organisationen aufzulösen.
Die nachfolgenden schweren bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen revolutionären Kräften und jenen, die den kapitalistischen Weg gehen wollten, führten letztlich zur Niederlage der KR. Der revisionistische Staatsstreich 1976 machte den «neuen sozialistischen Dingen» ein Ende. Auch die ProtagonistInnen der Kommune von Shanghai wurden hingerichtet oder ins Gefängnis gesteckt und die ArbeitervertreterInnen in den Betrieben entlassen. Die möglichen Ursachen für diese Entwicklung werden wir in Teil III behandeln.
Nichtsdestotrotz sind die Erfahrungen der KR – die Weiterführung der Klassenkämpfe in der Übergangsphase des Sozialismus, das Bündnis der RotgardistInnen mit den ArbeiterInnen, das Zusammensetzen der Studierenden aus den arbeitenden Klassen, die Heranführung der AkademikerInnen und Kader an die produktive Arbeit, die Dreierverbindungen in den Betrieben und in der Verwaltung, die Volkskommunen auf dem Land, die Bekämpfung der patriarchalen Strukturen – ein ausserordentlicher Sprung in der revolutionären proletarischen Geschichte und für uns eine unerschöpfliche Quelle für wichtige Erkenntnisse zur Entwicklung einer kommunistischen Perspektive.
Quellen:
Hongsheng Jiang: La Commune de Shanghai, 2014, éditions La fabrique; Zhong, Xueping: Some of Us: Chinese Women Growing Up in the Mao Era, 2001; Bettelheim, Macchiocchi: China 1972, Wagenbach 1973; Claudie Broyelle: Die Hälfte des Himmels, Wagenbach 1974; u.a.
Chronologie der Ereignisse in China
1921 Gründung der Kommunistische Partei; es folgen 22 Jahre Volkskrieg
1945 Sieg über den japanischen Imperialismus; es folgt der Bürgerkrieg zwischen der KPCh und der Kuomintang
1949 Sieg über die Kuomintang und Ausrufung der Volksrepublik China
1953 Debatten gegen die rechte Linie der KPCh; es bestehen freundschaftliche Beziehungen zur Sowjetunion
1958 Bewegung «Drei Rote Fahnen»: Volkskommunen, Grosser Sprung Vorwärts, Massenlinie
1959-62 Interne Debatten zwischen China und der SU über den Revisionismus; Erstarken der revisionistischen Kräfte auch in China und Rückschritte auf dem sozialistischen Weg
1962-64 Öffentliche Kritik Chinas am Revisionismus der KPdSU = Ende der Freundschaft
1963-65 Sozialistische Erziehungsbewegung als Gegenoffensive zum revisionistischen Vormarsch
1966-69 Grosse Proletarische Kulturrevolution = Mobilisierung der Massen zur Kritik und Absetzung revisionistischer Kader in Partei, Staatsorganen, Universitäten, Produktionsstätten, etc. und zur Übernahme der realen Macht in allen Bereichen
Anhang: Konkrete Beispiele der neuen Verhältnisse aus anderen Regionen Chinas
Aufhebung von Gegensätzen
Die Massenlinie der KPCh drückte sich auch in der Frage der Dezentralisierung aus. Diese ist für die Mobilisierung der Massen zur aktiven Teilnahme am sozialistischen Aufbau entscheidend. Sie gewährleistet die Aufhebung oder Relativierung verschiedener Gegensätze, so auch zwischen Frau und Mann und zwischen Land und Stadt. Dabei spielten die Volkskommunen eine wichtige Rolle. Diese dehnten sich über das ganze Land aus und ermöglichten den Bruch der ländlichen Massen mit ihrer überkommenen Lebens- und Denkweise, zur Überwindung von Resignation, Gleichgültigkeit und hierarchischer Unterordnung. Die Volkskommunen erschütterten gründlich die formal bereits 1950 gebrochene autoritäre Familienherrschaft, die Diskriminierung der Frau und die Trennung zwischen der Produktionsweise im industriellen Sektor und der relativ rückständigen Arbeitsorganisation auf dem Land und die Beseitigung des Analphabetismus. Erschüttert wurde ebenso die Überheblichkeit eines Teils der Partei- und Verwaltungsfunktionäre, die nun zur Bewusstseinsbildung, zur Gewöhnung an körperliche Arbeit und zur technischen, kulturellen, medizinischen und sozialen Zusammenarbeit mit den Massen aufs Land zogen.
Die Frauen entwickelten sich in diesem Umwandlungsprozess zu einer starken, organisierten Kraft. Sie hatten wie überall auf der Welt ein doppeltes Interesse, die alten Verhältnisse umzustossen. Es ging um ihre Befreiung aus patriarchalen, feudalen und kapitalistischen Ausbeutungsverhältnissen. Oft mussten sie sich mit den Ehemännern (die gewohnt waren, dass die Frauen schwiegen und den Haushalt machten) auseinandersetzen um auch die Beziehungsverhältnisse in der Familie zu verändern. Bei Schwierigkeiten wurde zuerst die Familie als Zeugen gerufen. Wenn dies keine Wirkung zeigte, versammelte die Frau das Frauenkomitee des Dorfes, um dem Mann zu erklären, dass Feudalismus und Sozialismus zwei verschiedene Dinge sind. Und wenn trotz allem der Mann stur blieb, wurde eine Massenkritik mit dem ganzen Dorf geübt. Als letzten Ausweg wurde die Scheidung vollzogen.
Die «Hausfrauenfabrik» Tchaou Yan
Die KR setzte ausserordentliche Kreativität und Eigeninitiativen frei. Ein Beispiel der Eigeninitiative von «Hausfrauen» war die «Fabrik für medizinische Geräte» Tchaou Yan. 20 Frauen aus einem Pekinger Viertel enschlossen sich, «die Tür der Familie aufzustossen» und eine Fabrik aufzubauen. Um zu eruieren, was benötigt wurde, machten sie eine Umfrage im Quartier: Wasserkessel, Ofenrohre und Ziegel, medizinische Geräte wie Schutzplatten gegen Röntgenstrahlen u.a. Das Strassenkomitee stellte ihnen zwei leere Schuppen zur Verfügung. Die Schwierigkeiten waren nicht wenige: keine Kinderkrippe, keine Kantine, keinerlei Produktionserfahrung. Für jedes Problem fanden sie eine Lösung: grosse Kinder und Grosseltern passten auf die kleinen Kinder auf, Nachbarinnen brachten ihnen das Essen, Werkzeuge nahmen sie von zu Hause mit, Metallplatten und Eisenröhren holten sie aus anderen Fabriken, Facharbeiter kamen nach Feierabend vorbei um ihre Kenntnisse zu vermitteln. Schliesslich schafften es die Frauen, Ofenrohre und Wasserkessel zu produzieren, welche vom Staat abgekauft wurden. In einem zweiten Schritt organisierten die Frauen alte Maschinen und bauten sie um zur Herstellung von komplexeren medizinischen Geräten wie Sterilisierungsgeräte und Bestrahlungslampen. Innerhalb von zwei Jahren arbeiteten in dieser Fabrik 300 Frauen und 20 Männer. Sie erbauten Kinderkrippen, eine Kantine und weitere Werkstätten mit Ziegelsteinen von ehemaligen Gebäuden, alles Dank des grossen Enthusiasmus und mit Hilfe der solidarischen Austauschverhältnisse unter sozialistischen Bedingungen.«» «» «» «»
Aufhebung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit ‒ «Drei in einem»
Die Qinghua-Universität war die berühmteste naturwissenschaftliche Universität Chinas und wurde während der KR als richtungsweisende Universität ausgewählt, das neue System des «Drei in einem» zu begründen. Dieses verbindet Ausbildung, Forschung und Produktion in sog. offenen Universitäten. Die ihnen angeschlossenen Fabriken sollen wiederum den selbständigen Unterhalt der Universitäten gewährleisten. Im leitenden Revolutionsausschuss waren ehemalige RotgardistInnen beteiligt, die sich zu MechanikerInnen oder IngenieurInnen ausbilden liessen; Parteimitglieder; Professoren für Dynamik und Soziologie; eine junge Frau von der Marine, die von ihrer Marineeinheit ausgewählt wurde, um an der Universität zu studieren; sowie Arbeiter und Mitglieder einer Propagandagruppe.
Die KR bewirkte nicht nur einen Wandel bei den organisatorischen Strukturen, bei der Umerziehung bürgerlicher Professoren und der Auswahl der Studierenden, sondern führte eine totale Umwälzung herbei nach dem Grundsatz «die Ausbildung muss der proletarischen Politik dienen und sich innerhalb der Produktionsarbeit vollziehen». So wurden Professoren, Studierende und ArbeiterInnen Seite an Seite gestellt und die Verbindung von praktischer und theoretischer Arbeit gewährleistet, Hand- und Kopfarbeit Hand in Hand gelegt. An der Qinghau wurden kleine und mittlere Werkhallen errrichtet, von denen die eine Präzisionsinstrumente herstellte, eine andere versuchsweise elektronische Geräte und eine dritte sich auf die Herstellung von Motorfahrzeugen spezialisierte.
Mit der Methode Kritik und Selbstkritik hatten mehr als 95% der 156 Funktionäre der Universität vorläufig zur revolutionären Linie zurückgefunden und in den Revolutionsausschüssen wieder Führungsaufgaben übernommen. Die Studierenden wurden aus den Fabriken, den Kommunen und der Befreiungsarmee ausgewählt. Vor der KR kamen 60% der Studierenden aus dem Bürgertum.
Anshan – Ein Beispiel sozialistischer Betriebsorganisation
Das in der Provinz Liaoning gelegene Hüttenkombinat Anshan galt als eines der wichtigsten Zentren für Schwerindustrie in der VR China. Die Auseinandersetzungen die in diesem Werk geführt wurden, stehen exemplarisch für die Bekämpfung eines revisionistischen Einflusses und der Schaffung einer sozialistischen Produktionsbasis. Bereits nach dem Abschluss des ersten Fünfjahresplanes 1957 zeichnete sich ein sich verstärkender Bürokratismus von Funktionären innerhalb der oberen Betriebsebene ab. Doch in der folgenden Phase des «Grossen Sprungs Vorwärts» gilt Anshan als wichtiges Beispiel für die Loslösung von chruschtschow-revisionistischer Planungs- und Organisationskonzepten. Dies hiess Stärkung der eigenen Kampfkraft, koordinierte Förderung von Industrie und Landwirtschaft, gegen die Priorität der Maximierung des Profits, Expertenglauben und materiellen Anreizen für die Werktätigen. Die Ökonomie soll der Politik untergeordnet sein.
In Anshan wurde davon ausgehend eine revolutionäre Betriebsordnung entwickelt: Die Politik an die erste Stelle setzen; die Fortsetzung des Klassenkampfes im Sozialismus; eine kraftvolle Massenbewegung entfalten; Sicherstellung der Teilnahme von Kadern an der produktiven Arbeit einerseits und der ArbeiterInnen an der Betriebsleitung andererseits; Reform der Betriebsorganisation durch die Dreierverbindungen (ArbeiterInnen, Führungskader und Techniker), auch Revolutionsausschüsse genannt. Parallel zu diesen existierten ebenfalls ArbeiterInnenverwaltungsgruppen, die bestimmte Tätigkeiten der Gewerkschaften übernahmen, etwa soziale Funktionen. Sie fungierten als Kontrollfaktor und Bindeglied von Leitung und Massen (z.b. auch mit ArbeiterInnenfamilien). Sog. «Rote Wachposten» hatten die Aufgabe, das Klassenbewusstsein in diesen jeweiligen Gruppen und Ausschüssen durch Verbreitung der ML-Theorien und der Mao Tsetung-Ideen zu erhöhen. Hier kam insbesondere den «Dazibaos» (grosse Wandzeitungen) eine wichtige Bedeutung zu. Sie ermöglichten es, konkret praktische Bedingungen der Werktätigen in- und ausserhalb eines bestimmten Betriebes zu erläutern sowie miteinander in Diskussion zu treten. Versammlungen der Belegschaften fanden auf Betriebsebene einmal pro Monat, auf Hallenebene oft 14-tägig statt.