Oktoberrevolution – Die Macht erobern und halten

Ende September 1917 wandte sich Lenin mit einem Brief an das Zentralkomitee der Bolschewiki und verlangte, den bewaffneten Aufstand vorzubereiten

Nachdem jetzt die Bolschewiki in beiden hauptstädtischen Arbeiter- und Soldatendeputiertenräten (in Petrograd und in Moskau, jW) die Mehrheit erhalten haben, können und müssen sie die Staatsmacht in ihre Hände nehmen.

Sie können es, denn die aktive Mehrheit der revolutionären Elemente der Bevölkerung beider Hauptstädte reicht aus, um die Massen mitzureißen, den Widerstand des Gegners zu überwinden, ihn selbst zu schlagen, die Macht zu erobern und zu halten. Denn wenn sie sofort einen demokratischen Frieden vorschlagen, das Land sofort den Bauern geben, die von (Alexander) Kerenski (1881–1970, Menschewik, Chef der Provisorischen Regierung Russlands, jW) beschnittenen oder zerschlagenen demokratischen Einrichtungen und Freiheiten wiederherstellen, werden die Bolschewiki eine Regierung bilden, die niemand stürzen kann.

Die Mehrheit des Volkes ist für uns. (…) Die Mehrheit in den hauptstädtischen Räten ist die Frucht der Entwicklung des Volkes nach unserer Seite hin. Die Schwankungen der Sozialrevolutionäre und Menschewiki, das Erstarken der Internationalisten unter ihnen beweisen, dasselbe.

Die Demokratische Beratung (Treffen von Organisationen aus ganz Russland vom 25. bis zum 27. September in Petrograd zur Erörterung der Regierungsfrage. Die Mehrheit sprach sich gegen eine allein auf die Sowjets gestützte sozialistische Regierung aus, jW) vertritt nicht die Mehrheit des revolutionären Volkes, sondern nur die kompromisslerischen, kleinbürgerlichen Oberschichten. Man darf sich nicht durch Wahlziffern irreführen lassen. Nicht auf die Wahlen kommt es an: Man vergleiche die Kommunalwahlen in Petrograd und Moskau und die Wahlen zu den Räten. Man vergleiche die Moskauer Wahlen und den Moskauer Streik vom 12. August: Das sind die objektiven Daten über die Mehrheit der revolutionären Elemente, die die Massen führen.

Die Demokratische Beratung betrügt die Bauern, gibt ihnen weder Frieden noch Land.

Die bolschewistische Regierung allein wird die Bauern zufriedenstellen.

Warum müssen die Bolschewiki gerade jetzt die Macht ergreifen?

Weil die bevorstehende Preisgabe Petrograds unsere Chancen hundertfach verschlechtert.

Die Preisgabe Petrograds können wir aber, wenn Kerenski und Co. an der Spitze der Armee stehen, nicht verhindern. (…)

Einen Separatfrieden zwischen den englischen und deutschen Imperialisten soll und kann man verhindern, aber nur durch rasches Handeln (Im Sommer 1917 hatten die deutschen Truppen an der Westfront einige Erfolge, deutsche U-Boote blockierten erfolgreich die britischen Inseln. Das weckte Befürchtungen über einen Sonderfrieden zwischen Deutschland und den Westmächten zu Lasten Russlands, jW).

Das Volk ist durch die Schwankungen der Menschewiki und Sozialrevolutionäre ermüdet. Nur unser Sieg in den Hauptstädten wird die Bauern so mitreißen, dass sie uns folgen.

Es handelt sich nicht um den »Tag« des Aufstands, nicht um seinen »Augenblick« im engen Sinne. Das wird die gemeinsame Stimme derjenigen entscheiden, die mit den Arbeitern und Soldaten, mit den Massen in Berührung stehen.

Es handelt sich darum, dass unsere Partei jetzt auf der Demokratischen Beratung faktisch ihre eigene Tagung abhält, und diese muss (ob sie will oder nicht, sie muss) das Schicksal der Revolution entscheiden.

Es handelt sich darum, der Partei die Aufgabe klar zu machen, den bewaffneten Aufstand in Petrograd und Moskau (mit Provinz), die Eroberung der Macht, den Sturz der Regierung auf die Tagesordnung zu stellen. Man muss überlegen, wie dafür agitiert werden kann, ohne das in der Presse zum Ausdruck zu bringen. Die Worte von Marx über den Aufstand: »Der Aufstand ist eine Kunst« (Karl Marx/Friedrich Engels: Werke, Band 8, Seite 95, jW) usw. ins Gedächtnis rufen und durchdenken.

Es wäre naiv, eine »formelle« Mehrheit der Bolschewiki abzuwarten. Keine Revolution wartet das ab. Auch Kerenski und Co. warten nicht, sie bereiten die Auslieferung Petrograds vor. Gerade die kläglichen Schwankungen der Demokratischen Beratung müssen und werden die Geduld der Arbeiter Petrograds und Moskaus zum Reißen bringen! Die Geschichte wird uns nicht verzeihen, wenn wir die Macht jetzt nicht ergreifen.

Wir haben keinen Apparat? Der Apparat ist da: die Räte und die demokratischen Organisationen. Die internationale Lage ist gerade jetzt am Vorabend des Separatfriedens zwischen England und Deutschland für uns. Gerade jetzt den Völkern den Frieden anbieten, heißt siegen.

Die Macht muss in Moskau und in Petrograd gleichzeitig ergriffen werden (es ist gleichgültig, wer beginnt; vielleicht kann sogar Moskau den Anfang machen). Wir werden unbedingt und ohne Zweifel siegen.

N. Lenin: Die Bolschewiki müssen die Macht ergreifen. Geschrieben 25.–27. September 1917. Zuerst veröffentlicht 1921 in der Zeitschrift Proletarskaja Rewoluzija Nr. 2. Hier wiedergegeben nach: Wladimir Iljitsch Lenin: Werke, Band 26. Dietz Verlag, Berlin 1974, ­Seiten 1–3

Das Zentralkomitee lehnte Lenins Vorschlag ab.

Junge Welt vom 14. Oktober 2017