Vaterländisches Gruselkabinett

Am 11. November 2018 feiert die reaktionäre «aargauische vaterländische Vereinigung» ihr hundertjähriges Bestehen. Ein aktueller Anlass, sich mit der Geschichte und den Auswirkungen reaktionärer Politik in der Schweiz zu befassen – in Theorie und Praxis.

Vor genau hundert Jahren schlug der Landesstreik wie eine Bombe ein und erschreckte das schweizerische Bürgertum zutiefst. Die Erkenntnis, dass eine revolutionäre Umwälzung nicht nur denkbar, sondern als praktisch machbar erschien, wuchs nicht nur in der Klasse der ArbeiterInnen sondern auch in jener der AusbeuterInnen. Die russische Revolution – als Höhepunkt eines europaweiten Bewegungszyklus – war zu jenem Zeitpunkt erst ein Jahr alt und ihre Bedeutung allgegenwärtig. Ein Gespenst ging um in Europa; eine gute Woche vor Ausbruch des schweizerischen Landesstreikes fand in Kiel der Matrosenaufstand statt. Die wütende Reaktion in der Schweiz hatte in der Folge viele Gesichter, etwa wurden Zeitungen der ArbeiterInnenbewegung verboten (siehe Seite eins und Fortsetzung). Neben der staatlichen Repression entstand vor allem eine folgenschwere Neuformierung der reaktionären Kräfte, die der ArbeiterInnenbewegung in den Folgejahren zusetzen sollte.

Erstarkter Bürgerblock folgt auf Landesstreik
Der Klassenkampf spitzte sich 1918 zu. Der Landesstreik zog aufgrund des bedingungslosen Streikabbruchs – für welchen das reformistische Oltener Aktionskomitee verantwortlich war – nur sehr wenige unmittelbare Verbesserungen für die ArbeiterInnenschaft nach sich. Ausnahmen bildeten das Proporzwahlrecht sowie die 48-Stunden-Woche. Alle anderen Forderungen wurden erst Jahre später und in einem völlig anderen politischen Kontext erwirkt. Der Landesstreik von 1918 hatte als bedeutsamste unmittelbare Folge zunächst eben jene Neuformierung und Stärkung des Bürgerblocks. Freisinn, Katholisch-Konservative (die heutige CVP), Bauernverband und allerlei Nationalgesinnte rückten näher zusammen. Auch die Armeespitze, Grossindustrielle und Hochfinanz wagten den Schulterschluss. Einen gemeinsamen Nenner fanden diese sehr unterschiedlichen Kräfte mit abweichenden ideologischen Prägungen in der Bekämpfung des Kommunismus und der Zementierung der politischen Machtverhältnisse. Sie alle hatten gemeinsam, dass ihnen die erstarkte ArbeiterInnenbewegung ein Graus war. Antikommunismus erhielt die Funktion als nationalen Kitt, der Bauern und Banker zusammenrücken liess.

Schweizerischer Vaterländischer Verband als wichtiger Akteur
In diesem Klima war der Schweizerische Vaterländische Verband (SVV) ein bedeutender Akteur und Ausdruck der reaktionären Politik. Im November 1918 entstand die Aargauische Vaterländische Vereinigung, fünf Monate später der Schweizerische Vaterländische Verband. Die beiden Organisationen waren so stark ineinander verflochten, dass sie zeitweise kaum zu unterscheiden waren. Bei der Gründungsversammlung 1918 im Amphitheater von Windisch nahmen 12’000 Reaktionäre aller Couleur teil, die NZZ zollte der rechtsgerichteten Versammlung grössten Respekt. Die zentrale Figur dieses Vereins war der BGB-Nationalrat (heute SVP) und spätere Nazi-Sympathisant Eugen Bircher. Finanziert wurde der SVV primär von Unternehmensverbänden und Banken, welche als Gegenleistung vom verbandseigenen Nachrichtendienst Informationen über bevorstehende Streiks erhielten. Der SVV betrieb eine «Streikabwehr», bestehend aus freiwilligen Streikbrecher-Strukturen. Der SVV war von einem zutiefst antiproletarischen Geist beseelt, verfügte aber über einen klassenübergreifenden Charakter, ganz dem Bürgerblock entsprechend.

Der Landesstreik hatte für den SVV während seiner gesamten Geschichte eine konstituierende Funktion. Der Antikommunismus wurde stets mit der realen Revolutionsgefahr begründet. Vor diesem Hintergrund wurde selbst jeder reformistische Versuch und generell alles scheinbar Linke bekämpft.

Antikommunistischer Nachrichtendienst
In den Anfangsjahren war der SVV primär eine mitgliederstarke, oftmals bewaffnete Bürgerwehr. So zählte alleine die Zürcher Stadtwehr rund 10’000 Mitglieder. Anfangs der Dreissigerjahre nahm die allgemeine Begeisterung für den SVV ab, die Revolutionsgefahr erschien nicht mehr als akut. Der SVV zählte in dieser Zeit bloss noch 5’000 – 7’500 Mitglieder schweizweit, Parlamentarismus und bürgerliche Politik wurden den Antikommunisten wichtiger. Ausserdem intensivierte der SVV seinen vereinseigenen Nachrichtendienst, um echte und vermeintliche Linke dem schweizerischen Staat zu verpfeifen. Der SVV-Nachrichtendienst arbeitete immer eng mit dem schweizerischen Staat zusammen. Nach der Gründung der Bundespolizei 1935 ging die Zusammenarbeit weiter. Diverse staatliche Ermittlungen wurden aufgrund sehr vager Denunziationen des SVV aufgenommen.

Antikommunismus der Dreissigerjahre und Nachkriegszeit
Die «Genfer Unruhen» von 1932 kamen dem geschwächten SVV zur rechten Zeit, um sich wieder als bedeutendste antikommunistische Kraft in Stellung zu bringen. Als Genfer Unruhen wurde die antifaschistische Mobilisierung verstanden, bei der dreizehn Antifaschisten von Armeerekruten erschossen wurden. Der SVV stellte diese Mobilisierung ideologisch in eine Kontinuität zum Landesstreik.

In diesem Klima rückte auch die SP weiter nach rechts, um sich dem bürgerlichen Staat anzubiedern: Im Parteiprogramm von 1935 bekannte sie sich zur Landesverteidigung und gegen die Diktatur des Proletariats. Auch war dies die Zeit des Arbeitsfriedens zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften (1937) und die ArbeiterInnenbewegung war gerade dabei, mit der Streikfähigkeit ihre wichtigste Waffe vertraglich abzugeben. 1943 wurde die Kommunistische Partei verboten – der schweizerische Staat fürchtete Unruhen zu Kriegsende, ähnlich wie dies nach dem 1. Weltkrieg mit dem Landesstreik der Fall war. Der SVV schrieb sich diesen «Erfolg» auf die Fahne – er war die Triebfeder hinter dem antikommunistischen Verbotsverfahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor der SVV dann deutlich an Bedeutung – in den Siebzigerjahren übte er sich primär in der Selbstbeweihräucherung und alten Heldengeschichten sowie Parteinahme für den «Subversivenjäger» Ernst Cincera. Primär war eine Mitgliedschaft im SVV zu dieser Zeit hilfreich um in Armee, Politik und Wirtschaft Karriere zu machen.

Reaktionäre Kontinuitäten bis heute
Gegen aussen vertreten die Vaterländischen heute noch, dass sie sich gegen «links- und rechtsextreme Strömungen im Innern» stellen würden. Faktisch waren sie der nationalen Front und anderen rechtsextremen Organisationen immer nahegestanden. Antikommunismus und reaktionäre Politik haben in der Schweiz Kontinuität. Die Vaterländischen haben zwar ihre Bedeutung eingebüsst, es sind aber andere Kräfte in die Bresche gesprungen. Seit dem Anfang der Neunzigerjahre hat die SVP einen rasanten Aufstieg verzeichnen können.

Der SVP ist es gelungen, Neoliberalismus mit Nationalismus zu paaren und gleichzeitig für Bauern und Banker wählbar zu sein. Dieses «Erfolgsmodell» wurde europaweit kopiert. In Abwesenheit einer starken ArbeiterInnenbewegung eint sich die SVP über vermeintlich äussere Feinde, «fremde Richter» und AusländerInnen. Sozialstaat wird durch nationale Identität ersetzt: Natürlich ist die SVP-Politik überaus antiproletarisch. So mag es nicht zu erstaunen, dass einer der schärfsten SVP-Hunde heute den Vaterländischen vorsteht. Es ist Andreas Glarner aus Oberwil-Lieli. Am 11. November 2018 feiert er in Aarau gemeinsam mit seinesgleichen 100 Jahre Aargauische Vaterländische Vereinigung. Dies ist primär die Feier des Bürgerblockes und der Zerschlagung des Landesstreikes.

Politische Klarheit wird auf der Strasse vermittelt
Der schweizerische vaterländische Verband war nicht die einzige Organisation der schweizerischen Reaktion – und heute hat er praktisch seine gesamte Bedeutung eingebüsst. Aber an seinem Beispiel lässt sich die rechtsbürgerliche, antiproletarische «Bündnispolitik» in der Schweiz gut darstellen. Der Landesstreik ist mitunter ein Beispiel dafür, dass sich die Reaktion bewaffnet, wenn sie die Privilegien des Bürgertums in Gefahr sieht. Aus scheinheiligen bürgerlich-demokratischen Strukturen werden Bürgerwehren, sobald sich die Arbeiterklasse für ihre Interessen formiert. Das Konzept des friedlichen Überganges in den Sozialismus – von einer Reform zur anderen – entpuppt sich schon angesichts dessen als Illusion.

Die Sozialdemokratie und die übrige parlamentarische Linke streben heute nur noch sehr selten Reformen zugunsten proletarischer Lebensverhältnisse an. Sie verhalten sich meistens als integraler und staatstragender Grundpfeiler des bürgerlichen Staates. Während heute die rechts- und linksbürgerlichen Parteien mediale Scheinschlachten veranstalten, sind sie sich hinter den Kulissen weitgehend einig: Die bürgerliche Gesellschaftsordnung muss in jedem Falle gewahrt werden. Der Antikommunismus ist in nicht-revolutionären Zeiten und in Abwesenheit der Systemkonkurrenz durch die Sowjetunion zwar nicht mehr vordergründig. Aber die Bürgerblockpolitik von 1918 und ihre Ideologie prägt die schweizerische Politik bis heute. Um dieser Politik etwas entgegenzusetzen, hilft eine linke Politik, die ihr Potenzial da ausspielt, wo historisch ihre Stärke liegt: Auf der Strasse statt in den Parlamentsgebäuden.