100 Jahre danach betrachten wir dessen Bedeutung in der Geschichte der Klassenkämpfe. Das Ziel der revolutionären Überwindung kapitalistischer Verhältnisse verlangt historisches Bewusstsein, auch hinsichtlich der Beständigkeit des revolutionären Prozesses.
Geschichtsschreibung ist stets von politischen Interessen geprägt. Im bürgerlichen Interesse werden primär reformistische Inhalte der ArbeiterInnenbewegung und die Unmöglichkeit einer grundlegenden gesellschaftlichen Veränderung übermittelt. Im Gegensatz dazu fragen wir nach dem revolutionären Potenzial des Landesstreiks von 1918. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 handelten in vielen Ländern Westeuropas die Führungen der sozialistischen Parteien einen «Burgfrieden» mit den bürgerlichen Parlamenten aus. Hierzulande verlangte dies von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) mitunter Zustimmung zur militärischen Landesverteidigung sowie zur weitgehenden Vollmacht für den rein bürgerlichen Bundesrat, was einer Ausserkraftsetzung des Parlaments gleichkam. Zugleich hielten Teile der Bewegung die revolutionäre Opposition kontinuierlich aufrecht, was nicht vergessen werden darf; insbesondere die Sozialistische Jugend unter der Parole «Krieg dem Krieg». Innerhalb der SPS ereignete sich bald eine Spaltung in einen revolutionären «linken» Flügel und in einen reformistischen «rechten» Flügel. Die internationale Verbindung der Opposition gegen die imperialistische Kriegspolitik rückte an den Konferenzen von Zimmerwald und Kiental (1915/16) den «revolutionären Massenkampf für die Ziele des Sozialismus» zurück in den Fokus. Linke Kräfte waren es dann auch, die den Burgfrieden als unhaltbaren, einseitigen Kompromiss verurteilten und aufkündigten.
Miserable Lage des Proletariats und reale revolutionäre Aussichten
Nachdem der Imperialismus sowie erste Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung den Lebensstandard des Proletariats Ende 19. Jahrhunderts anhoben, kehrte das Elend während der ersten Kriegsjahre verschärft zurück. Die Bourgeoisie eignete sich kriegswirtschaftliche Profite an und der Bürgerblock baute seine politische Macht weiter aus. Im Zuge des Krieges sanken die Lebensmittelimporte, die Exportindustrie in kriegsführende Länder wuchs, Nahrungsmittelindustrie und Landwirtschaft florierten. Obwohl die Kapitalisten horrende Gewinne einfuhren und die Lebensmittelpreise stark anstiegen, bestand eine restriktive Lohnpolitik. Die Kriegswirtschaft bescherte den Arbeitenden eine Reallohneinbusse von 25-30 Prozent. Auch der Bauernverband hielt an einer aggressiven, für das Bauerntum profitablen Preispolitik fest. Für das Proletariat folgten Armut, Wohnungsnot, Unterernährung und Hunger. Fast 700’000 Personen (1/5 der Schweizer Bevölkerung) erhielten 1918 Notstandunterstützung. Arbeiterfamilien waren auf zwei Einkommen angewiesen. Der geringe Sold der Männer, die für die Landesverteidigung Militärdienst zu leisten hatten, vermochte den Lohnausfall nicht zu decken. Dem Landesstreik gingen zahlreiche Protestaktionen und Kämpfe voran. Etwa die Frauendemonstration am 10. Juni 1918 vor dem Rathaus in Zürich, wo der Kantonsrat tagte. Gefordert wurde die «sofortige Beschlagnahme aller Lebens- und Bedarfsartikel, Enteignung und Verteilung derselben unter der Kontrolle der Arbeiterschaft nach Massgabe des Bedarfs, nicht des Besitzes». Die Forderungen der Streik- und Protestbewegung hatten teilweise revolutionären Charakter. Die Zugeständnisse der Herrschenden waren bescheiden, beispielsweise Lebensmittelrationierung oder minime Milchpreissenkungen. Angesichts der objektiven Bedingungen der Kriegsjahre lag der Streik als politisches Kampfmittel der Arbeiterschaft nahe: Während einheimische Arbeitende zur Landesverteidigung eingezogen wurden, kehrten ausländische Arbeitende zum Kriegsdienst in ihre Herkunftsländer zurück. Dadurch waren ArbeiterInnen für Armee und Produktion gesucht, was deren Verhandlungsmacht stärkte.
Streikführung in den Händen der Reformisten
In vielen aktuellen Darstellungen des Landesstreiks wird als führende Kraft das «Oltener Aktionskomitee» (OAK) ausgemacht, welches am 4. Februar 1918 durch Vertreter des Gewerkschaftsbundes, der SPS sowie der Eisenbahnerorganisation gegründet wurde. Hier soll die widersprüchliche Funktion des OAK deutlich werden. Durchaus enthielt das «Bürgerkriegsmemorial», welches Robert Grimm (der den Streikabbruch später verteidigte) dem OAK vorgelegt hatte, einen revolutionären Punkt:
«4. Die Anwendung des allgemeinen Streiks als unbefristete Massnahme, die zum offenen revolutionären Kampf und in die Periode des offenen Bürgerkrieges überleitet. […]. Der Sturz der bürgerlichen Herrschaft ist das Ziel».
Nur fanden bereits revolutionäre Worte keine geschlossene Zustimmung im OAK, wegen der «nichteinschätzbaren Folgen». Auf Seiten des Bundesrats wurde damit gedroht, im Falle eines Landesstreiks die Militarisierung des öffentlichen Personals vorzunehmen, was deren Unterstellung unter das Militärgesetz und die Militärgerichtsbarkeit umfasste. Am ersten «Allgemeinen Schweizerischen Arbeiterkongress» vom 27./28. Juli 1918 stellte das OAK einen Forderungskatalog mit elf reformistischen Punkten auf. Bereits zu Beginn des Kongresses lag die negative Antwort des Bundesrats vor. Dies provozierte die erste Landesstreikdrohung. Zur Tat geschritten wurde nicht, was Skepsis der ArbeiterInnenklasse gegenüber dem OAK hervorrief.
Dem wachsenden Widerstand der ArbeiterInnen setzte der Bürgerblock seine gestärkte politische Macht entgegen. Wichtige propagandistische Zeitungen der ArbeiterInnenorganisationen wurden verboten (Freie Jugend, Jugend-Internationale, Die Forderung). Hinzu kamen paramilitärische Bürgerwehren aus der bürgerlichen Zivilgesellschaft (siehe Beitrag zum Schweizerischen Vaterländischen Verband). Jegliche Repressionsmassnahmen heizten die Kampfbereitschaft der revolutionären Linken an; die erwähnte Sozialdemokratische Jugendorganisation, die Arbeiterunion, die Gruppe Forderung, anarchistische Gruppen unter anderem. Weder der Umstand, dass im Zuge des Krieges Errungenschaften wie das Demonstrations- und Versammlungsrecht sowie das Fabrikgesetz zu weiten Teilen ausgehebelt wurden, noch die im Herbst 1918 tobende Spanische Grippe, die weltweit 50 Millionen Menschen dahinraffte, hielten die Menschen von der Strasse fern (in der Schweiz gab es 25`000 registrierte Fälle der Grippe).
Die revolutionäre Stimmung des schweizerischen Proletariats wurde nicht nur von inländischen Ereignissen, Erfolgen und Enttäuschungen angeheizt. Die Revolution 1917 bzw. Räterepublik in Russland, sowie die revolutionären Bewegungen in Österreich und Deutschland, motivierten ebenfalls. All diese Ereignisse flössten der Bourgeoisie tüchtig Furcht ein. Am 7. November 1918 bewilligte der Bundesrat die militärische Besetzung Zürichs, «angesichts inländischer wirtschaftlicher und politischer Spannungen». Und aus Angst vor dem «Bolschewismus» veranlasste er am 8. November 1918 die Ausweisung der sowjetrussischen Gesandtschaft. Für den 9. November wurde durch das OAK für 19 Städte ein 24-stündiger Proteststreik ausgerufen (die Arbeiterunion in Zürich wollte den Streik fortführen). Zum Jahrestag der russischen Revolution organisierten Arbeiterunion und Sozialistische Jugend eine Kundgebung. Unter der Führung von Divisionsgeneral Emil Sonderegger wurde die Versammlung auf dem Fraumünsterplatz zuerst zugelassen und anschliessend durch Infanterie und Kavallerie aufgelöst, mittels Warnschüssen, Säbeln und Bajonetten.
Diese Zwischenfälle forderten eine Verschärfung des Kampfes. Hinzu kamen Berichte von revolutionären Strassenkämpfen in Berlin und der Kapitulation des deutschen Kaisers. Für den 11. November rief das kantonale Gewerkschaftskartell in Zürich den kantonalen Generalstreik aus. Das OAK zog nach. Je nach Quelle beteiligten sich zwischen 250 000 bis 400 000 Streikende vom 12. bis zum 14. November am landesweiten Streik. Trotz erfolgreichem Verlauf wurde nicht in die revolutionäre Phase des «Bürgerkriegsmemorial» übergeleitet. Am Donnerstag 14. November kapitulierte das OAK vor dem Ultimatum des Bundesrats angesichts des militärischen Truppenaufgebots und zur Verhinderung eines revolutionären Bürgerkriegs und verkündete den Streikabbruch. Die Holz- und Metallarbeiter Zürichs streikten weiter bis zum Wochenende. Willi Münzenberg, eine in diesen Tagen nach Deutschland ausgewiesene Führungskraft der Sozialistischen Jugend, kommentierte:
«Durch diesen feigen Verrat verloren viele Arbeiter den Glauben an die Revolution und wandten sich in Massen von dem Aktionskomitee und den Führern ab».
Nicht die Stärke des bürgerlichen Gegners, nicht die eigene Entkräftung oder Entmutigung, sondern die feige und treulose Haltung der Streikführung habe zum Abbruch geführt. Lediglich zwei der neun reformistischen Forderungen, die 48-Stunden-Woche sowie der Nationalratsproporz, konnten in Folge des Landesstreiks durchgesetzt werden.
Der Landesstreik markiert den revolutionären Prozess
Im Anschluss an den Landesstreik folgten Lohnkämpfe und Streiks, an denen sich Zehntausende beteiligten. Ein weiterer Generalstreik stand im August 1919 bevor, er blieb aber auf Basel und Zürich beschränkt und wurde durch Polizei, Militär und freiwillige Bürgerwehren niedergeschlagen; sechs Menschen wurden getötet. Auch die Entstehung der Kommunistischen Partei ab 1918 liegt mitunter in den Ereignissen der Kriegsjahre begründet.
Weshalb scheiterte der Landesstreik? Die örtlich erfolgreichen Verläufe des Landesstreiks wurden durch die Beteiligung und Führung der partei- und gewerkschaftlichen Linken gesichert, doch die nationale Streikführung lag in den Händen der Reformisten. Ein weiteres Problem war das fehlende Bündnis mit der Bauernschaft. Bauern profitierten von der Nachfrage nach Nahrungsmitteln während des Krieges und liessen sich durch die Bourgeoisie instrumentalisieren. So wurden beispielsweise für militärische Einsätze gegen die Arbeitenden durch den Bundesrat gezielt Truppen aus bäuerlichen Kantonen bestimmt. In der Schweiz war die Klein- und Mittelbauernschaft zahlreich. Wären Grossbauernbetriebe verbreitet gewesen, hätten sich die LandarbeiterInnen allenfalls dem revolutionären Kampf angeschlossen. Fest steht: Für den Landesstreik 1918 konzentrierte die ArbeiterInnenbewegung ihre Kräfte und brachte das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit für die Schweiz bisher einzigartig ins Wanken.