Verratener „Kampf auf der ganzen Linie“

Artikel aus aufbau 55:

LANDESSTREIK 1918 Vor 90 Jahren fand in der Schweiz der bisher letzte Generalstreik statt. Ein politischer Streik, der von der Führung der Sozialdemokratie verraten und gebrochen wurde, was auch in Winterthur zu grossen Widersprüchen innerhalb der ArbeiterInnenbewegung führte.

(raw) Die Burgfriedenspolitik der Sozialdemokratie und der bürgerlichen Parteien während des ersten Weltkriegs zahlte sich angesichts der immer stärkeren Verschlechterungen der Arbeits- und Lebensbedingungen der ArbeiterInnen nicht mehr aus. Es brodelte in der ArbeiterInnenklasse und aus Angst vor einer proletarischen Revolution nach russischem Vorbild rüstete sich die Bourgeoisie in der Schweiz zum Klassenkampf. Auf den – selbstverständlich gemässigten – Aufruf der Sozialdemokratischen Partei, den Jahrestag der russischen Revolution am 7. November 1918 zu feiern, reagierte der Staat mit einem Militäraufgebot nach Zürich. General Wille, der hauptsächlich auf das Truppenaufgebot drängte, berichtete dem Bundesrat in einer Mitteilung von „der Furcht vor einer gänzlich unerwarteten Proklamierung des Generalstreiks, aus dem dann gleich die Revolution hervorginge, die mühelos die Macht in die Hände der Bolschewiki brächte“. Die russische Revolution 1917 und die revolutionäre Situation in Deutschland 1918 hatten auch das schweizer Bürgertum erbleichen lassen.

Die Militäraufgebote wurden von den ArbeiterInnen als unheimliche Provokation wahrgenommen und so beschloss das Oltener Aktionskomitee (OAK), das sich als Koordinationsorgan der gesamtschweizerischen ArbeitererInnenbewegung bereits 1917 gegründet hatte, auf den 9. November 1918 einen 24-stündigen Proteststreik.

In Winterthur wurde der Streik einheitlich durchgeführt. Die industriellen Grossbetriebe wurden in aller Form geschlossen und auch die bürgerlichen Zeitungen konnten nicht erscheinen. Nachdem die Verhandlungen zwischen OAK und Bundesrat über den Rückzug der Truppen gescheitert waren und in Zürich das Militär bewaffnet gegen Demonstranten vorgegangen war, wartete das Zürcher Aktionskomitee nicht mehr auf den Beschluss des OAK. Auch am Sonntag wurde in Zürich nun gestreikt, wobei auch die Eisenbahner in den Streik traten. Die Zürcher Entscheidung wurde sofort auch vom Winterthurer Streikkomitee mitgetragen und der Streik fortgesetzt.

Dadurch sah sich das OAK gezwungen, den Landesgeneralstreik zu proklamieren und damit neun Forderungen zu stellen. Trotz des reformistischen Charakters der Forderungen (Neuwahl nach Proporz, Arbeitszeitreduktion, Alters- und Invalidenrente, etc) ging das Bürgertum nach wie vor von der Gefahr eines bolschewistischen Umsturzes aus und bot insgesamt rund 100’000 Soldaten auf.

„Kampf auf der ganzen Linie“

„Tausende von Personen umlagerten heute Montag den Bahnhofplatz, um das bisher unerhörte Schauspiel einer gänzlichen Lahmlegung des Eisenbahnverkehrs zu geniessen und die enttäuschten oder wütenden Gesichter der Bourgeois zu bewundern, die auf die geplante Reise verzichten mussten“, berichtete die Winterthurer Arbeiterzeitung (AZ) nicht ohne Schadenfreude. Auch in anderer Hinsicht war der Streik in Winterthur nach wie vor ein Erfolg: Obwohl die Grossbetriebe der Metallindustrie ihre Tore am 11. November geöffnet hatten, „trat kein Mann zur Arbeit an“.

Doch der Streik fand bald ein jähes Ende: Ein Teil der sozialdemokratischen Führung im OAK kapitulierte vor dem Ultimatum des Bundesrats, den Streik bedingungslos abzubrechen und rief zur Beendigung des Streiks auf Donnerstag Mitternacht auf. Dies löste grosse Empörung unter den ArbeiterInnen aus, das Aktionskomitee wurde scharf für seine Kooperation mit der Bourgeoise verurteilt. Vor einer tausendköpfigen Versammlung der Winterthurer ArbeiterInnenunion hielt Friedrich Schneider, der mit Robert Grimm zusammen im Komitee gegen den Streikabbruch gestimmt hatte, eine Rede über die Kapitulation der sozialdemokratischen Führung. In einer Resolution forderte die Versammlung, dass das OAK abgesetzt und durch einen „den Kampfeswillen des Proletariates zum Ausdruck bringenden schweizerischen Arbeiterrat“ ersetzt werde.

Das Bürgertum hatte diesen Klassenkampf dank der reformistischen und integrativen Politik der Sozialdemokratie zwar gewonnen, lernte aber durch den Konflikt auch, dass Reformen nicht mehr weiter hinausgeschoben werden konnten. Als Konsequenz des Generalstreiks wurde der Achtstundentag eingeführt und die Nationalratswahlen nach Proporz auf den Herbst 1919 vorverlegt. Kaum war aber die Furcht vor einer proletarischen Erhebung verflogen, beliess die Bourgeoisie die angekündigten Reformen auf dem Papier. So wurde zum Beispiel die Alters- und Invalidenversicherung, eine der grossen Forderungen des Landesstreiks, erst 1948 auf neuen Druck der ArbeiterInnenklasse eingeführt. Das aktive und passive Frauenwahlrecht wurde gar erst 1971 auf Bundesebene eingeführt.

Weichenstellung zur Parteispaltung

Im Winterthurer Stadtparlament warnte der linke Arbeitersekretär Jakob Steiger nach dem Streikabbruch die Bourgeoisie: „Wenn das Bürgertum die Arbeiter mit dem Schwert unterjocht, so wird es durch das Schwert umkommen. Druck erzeugt Gegendruck. Der Riese Arbeiterschaft wird sich schütteln; vor diesem Schütteln warne ich die Bürgerschaft.“ Eine ganz andere Position hingegen vertrat der sozialdemokratische Präsident der Arbeiterunion, Adolf Gasser: „Die Auffassung, dass es sich hier um eine revolutionäre Bewegung handle, ist falsch. (…) Es wird des ganzen Einflusses der Führerschaft bedürfen, dass die revolutionäre Strömung nicht als das Heilmittel für die Arbeiterschaft aufgefasst wird.“

Der Generalstreik und der Verrat der ArbeiterInnenbewegung durch die Führung der Sozialdemokratie stellte auch in Winterthur die Weichen zur Spaltung der Sozialdemokratischen Partei in einen rechten, sozialdemokratischen und einen linken, kommunistischen Flügel. In einer Flurbereinigungsaktion stellte der sozialdemokratische Flügel den Arbeitersekretär Jakob Steiger kalt. Auslöser dafür war die Diskussion rund um den Beitritt zur dritten Internationalen und schwelende Richtungskämpfe rund um die Hauptstreitfragen, welche den Parlamentarismus, die Diktatur des Proletariates und die Bewaffnung der aufständischen ArbeiterInnenklasse betrafen. 75 Mitglieder der sozialdemokratischen Partei traten aus, 5 wurden ausgeschlossen. Weil in der Frauengruppe der SP Töss vier von fünf Vorstandsmitgliedern und mit ihnen 27 weitere Frauen den Kurs der SP nicht mehr tragen wollten und austraten, setzte der Vorstand der Männerpartei einen männlichen Präsidenten für die nunmehr wenige Mitglieder zählende Frauengruppe ein. „Um die Einigkeit wiederherzustellen, muss die Frauengruppe wieder von einem Parteimitglied geführt werden“, so der spätere Präsident. Die Losung „Kampf auf der ganzen Linie“, die im Generalstreik gefasst wurde, erhielt nun durch die Führung der Sozialdemokratie eine neue Bedeutung: Kampf auf der ganzen Linie gegen jede linke Position innerhalb der Sozialdemokratie. Die Winterthurer KommunistInnen traten darauf der neugegründeten Kommunistischen Partei bei und verlagerten ihr hauptsächliches Tätigkeitsfeld auf die Gewerkschaften.

Von der Geschichte zur Perspektive

Der Generalstreik 1918 im Allgemeinen und die Winterthurer Aspekte im Konkreten sind in vieler Hinsicht beispielhaft: Ausgangslage war das soziale Elend der ArbeiterInnenschaft in der Kriegs- und Nachkriegszeit. In den Kriegsjahren erkannten viele die zerstörerische Gier des Imperialismus und sahen in der russischen Revolution 1917 ein Weg zur Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung der ArbeiterInnenklasse.

Der Generalstreik war in dieser Krisenzeit deshalb nicht einfach ein wirtschaftlicher Streik um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen, sondern ein politischer Streik, dessen Forderungen zwar reformistisch waren, der sich aber laufend radikalisierte. Das versuchte die Führung der Sozialdemokratie mit allen Mitteln zu verhindern, um ihre reformistische Politik des Burgfriedens weiterhin durchzusetzen. Mit ihrem Entscheid zum Abbruch des Streiks verriet sie die ArbeiterInnenklasse und schwächte die ArbeiterInnenbewegung. Beispielhaft ist aber auch, dass die Bourgeoisie in heftigen Phasen des Klassenkampfes auf massive Repression setzt.

Wenn man davon ausgeht, dass die Geschichte eine „Geschichte von Klassenkämpfen“ ist und wir hin zu einer proletarischen, kommunistischen Perspektive wollen, kommen wir nicht darum herum, diese früheren Klassenkämpfe zu betrachten und daraus Lehren zu ziehen. Deshalb organisieren wir gemeinsam mit Einzelpersonen und der Partei der Arbeit (PdA) Winterthur einen Stadtrundgang durch das ehemalige Industriequartier Töss. An mehreren Stationen sollen einzelne Abschnitte vergangener Klassenkämpfe beleuchtet werden und ein Bezug zur Gegenwart sowie ein perspektivischer Blick gesucht werden. Dabei soll die Frage nach den wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Abbau von 20’000 Arbeitsplätzen in der Schwerindustrie im Zentrum stehen.