In Rojava befreit sich die Bevölkerung und baut eine Gesellschaft von unten auf. Dabei spielen Ideologie und Werte gerade für die Verteidigung der Revolution eine zentrale Rolle. Was macht diese revolutionäre Perspektive aus? Ein Erfahrungsbericht.
(az/gpw) «Rojava ist auch unserer Perspektive» ist eine Aussage, die die Linke in Europa, aber auch anderswo vereint. Rojava ist gegenwärtig das einzige Beispiel, wo eine revolutionäre Perspektive fassbar wird. Es wird eine revolutionäre Ideologie in eine Praxis umgesetzt und weiterentwickelt. Weil dieser Prozess, mit all seinen Widersprüchen, die Gesellschaft effektiv an der Basis verändert, entsteht reale Gegenmacht. Gerade weil die Gesellschaft Teil der Revolution ist, hält sie sich schon sechs Jahre, obwohl es in einem von allen imperialistischen Staaten hoch umkämpften Gebiet liegt.
Die Besetzung Afrins dirigiert von der Türkei, bewilligt von den imperialistischen Mächten, hat uns deutlich vor Augen geführt, dass sich Rojava nicht mehr ausschliesslich gegen radikal islamistischeBanden verteidigen muss, sondern auch gegen die vereinten imperialistischen Mächte. Die Selbstverteidigung ist dabei wichtiger Bestandteil der Perspektive.
«Wir wissen, was wir verteidigen»
Sich selber verteidigen zu können ist in Rojava Teil des Alltags geworden und die Bevölkerung weiss, was sie zu verteidigen hat. Ziel ist es, die Bevölkerung und alle zivilen Organisationsstrukturen – sei es die Kommune, die Basis der politischen Arbeit, oder zum Beispiel einen Jugendkongress – so zu organisieren und auszubilden, dass sie jederzeit fähig sind, sich selber zu verteidigen. Konkret sieht das so aus: Im Quartier, vor dem Eingang eines Gemeinschaftsraumes oder an Demonstrationen, überall ist die bewaffneten Bevölkerung zu sehen. Die Grossmutter von nebenan, der Vater von zwei gefallenen Kämpferinnen oder ein junger Mann aus dem Dorf beschützen ihre Orte.
Die Theorie der Rose als Metapher für Selbstverteidigung
Die Blüte der Rose, die als Sinnbild für die Ideen und gesellschaftlichen Grundsätze steht, ist schön und fragil. Die Rose hat Dornen, damit kann sie sich verteidigen. Das Prinzip der legitimen Selbstverteidigung ist nicht auf Angriff ausgelegt, doch das heisst nicht, dass gewartet werden soll bis der Feind angreift. Was es braucht, um Angriffe zu verhindern, ist legitim. Zum Beispiel war die Stadt Manbij lange Zeit unter der Herrschaft von Daesh. Die Befreiung durch YPG und YPJ war somit auch ein Akt der Selbstverteidigung, insbesondere der Frauen. Die Ko-Vorsitzende der Gesundheitskomission der Stadt widerspricht energisch, als der Ko-Vorsitzende meint, die Narben der Daesh-Besatzung seien verheilt: «Ich kenne viele Frauen, die noch heute zusammen zucken, wenn sie nur schon das Wort Daesh hören.» Für den Mann hingegen scheint sich deutlich weniger geändert zu haben durch die Befreiung von Daesh. Das erklärt wohl auch die unglaubliche Kraft, welche im speziellen die Frauen entwickeln, um diese Revolution voranzutreiben.
Ideologie als Werkzeug der Revolution
Doch mit Waffen alleine wird keine Revolution verteidigt. Das Volk wird auch mit Ideologie bewaffnet. Eine Frau erklärt: «Wir ziehen zwar in den Krieg und wenn es nötig ist, töten wir auch, aber was uns vom Feind unterscheidet sind unsere Werte.» Ideologie ist in Rojava ein wichtiges Werkzeug für die Revolution. Hier wissen die Menschen, warum sie kämpfen: für die neu gewonnene Freiheit, die Organisierung und das Leben nach neuen gemeinsamen Prinzipien.
Wenn die Menschen in Rojava über gefallene KämpferInnen sprechen, dann steht nicht die Trauer im Vordergrund, sondern die Überzeugung dieser Menschen: «Wenn ich der gefallenen Freundin gerecht werden will, dann muss ich ihren Kampf weiterführen und die Werte entwickeln und verteidigen, für welche sie eingestanden ist», erzählt eine Kämpferin. Sie ist Teil der bewaffneten Fraueneinheit des Shengals und war bei der Befreiung von Shengal Stadt dabei.
Bildung – Der Kampf um die Köpfe
Wie das Volk in Rojava systematisch bewaffnet wird, wird es auch systematisch geschult. Mit der Ideologie werden die neuen Werte vermittelt, die in dieser neuen Gesellschaft gelten sollen. Die kurdische Bewegung spricht sehr oft von Werten. Während bei uns dieses Wort sofort vor allem negative Assoziationen hervorruft, sind in Rojava damit aber keinenfalls reaktionäre oder konservative Werte gemeint. Im Gegenteil, es sind die kollektiven Grundsätze, sowie Erneuerungen, die aus der Revolution entstanden sind.
Trotz Vorbereitung auf Angriff und Krieg, ist es eindrücklich zu sehen, wie viel Energie in den inneren Aufbauprozess gesteckt wird und wie viel sich dadurch innerhalb kürzester Zeit verändern kann. In Akademien werden für alle Bildungsmonate zu verschiedensten Themen organisiert. Ziel ist es, die Ideologie der Revolution überall zu vermitteln, aber nicht in rein theoretischer Form, sondern eingebettet und gelebt als reale Erfahrung. Meistens sieht ein Bildungsseminar so aus: Eine Gruppe kommt zusammen, lebt gemeinsam in einer Akademie und erhält Bildung für eine gewisse Zeit. Es wird also zusammen gekocht, geschlafen und Sport gemacht. Dabei entsteht ein Freiraum, wo das neue kollektive Leben im Kleinen entwickelt und gelernt wird. Die Methoden der Bewegung, wie beispielsweise Kritik und Selbstkritik, aber auch genossenschaftliches Leben und Kollektivierung der Hausarbeit werden dort in der Praxis geübt und weiterentwickelt. Gerade für Frauen sind solche Bildungen der erste Schritt zur Emanzipation und ein Wegbereiter für den Beitritt in die Arbeit für die Bewegung oder sogar in die Guerilla. Eine junge arabische Frau in Kobane erzählt: «Das war schon schwierig als ich in der Familie gesagt habe, dass ich zwei Monat weg bin an einer Frauenbildung. So mussten sie zu Hause alles selber machen. Es war eine erste Befreiung für mich.» Patriarchale Strukturen, die Jahrhunderte lang unangetastet blieben, werden so innerhalb von kurzer Zeit über den Haufen geworfen.
Dialektik zwischen Sein und Bewusstsein
Die Betonung und die Wichtigkeit der politischen Bildung kommt aus dem Verständnis, dass der Aufbau von Bewusstsein als zentral gesehen wird. Dieser muss Hand in Hand gehen mit den konkreten Veränderungen der gesellschaftlichen Realität. Deshalb arbeitet beispielsweise die Wirtschaftskommission nicht nur an der Veränderung der Produktionsverhältnisse und der Verteilung, sondern auch am Bewusstsein. Die Vorsitzende der Frauen-Wirtschaftskommission meint dazu: «Ja, es gibt noch viel kapitalistische Logik, wir sind uns das bewusst. Diese zu durchbrechen wird uns nur gelingen, wenn die Bevölkerung das will. Darum setzen wir viel auf Bildung.»
Den Fokus auf die Ideologie zu legen, ist der Versuch, den Satz von Marx, Das Sein bestimmt das Bewusstsein, dialektisch zu sehen und die Wichtigkeit des Bewusstseins zu betonen. Natürlich besteht dabei die Gefahr, in einen Idealismus zu verfallen. Es wird auch in Zukunft in Rojava von entscheidender Bedeutung sein, die realen gesellschaftlichen Verhältnisse noch weiter radikal zu verändern. Das Bewusstsein und die vermittelten Werte sind ein Motor dazu. Doch um welche Werte geht es?
Das Prinzip der Mutter als Grundlage
Nehmen wir zum Beispiel das Prinzip der Mutter, ein Konzept, das aus einem frauenkämpferischen Blick heraus zuerst befremdlich wirkt. Doch dabei geht es nicht um die Rolle als Frau in der Kleinfamilie und die damit einhergehende geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Vielmehr bezieht sich die kurdische Bewegung damit auf die Zeit vor der Entstehung der Frauenunterdückung, in der die Geschlechterrollen noch nicht so fest zugewiesen waren und die Frauen entsprechend als wichtige Mitglieder der Gesellschaft grosse Anerkennung genossen. Sie repräsentierten Werte, die es für ein kollektives Zusammenleben braucht, wie beispielsweise Gleichheit, Gerechtigkeit oder die Fähigkeit, Probleme zu lösen, Liebe, Opferbereitschaft und Kommunalität.
Wenn bei uns von Mutter geredet wird, dann oft von den Reaktionären, um die Frauen wieder an den Herd zu bringen, um Schuldgefühle zu schüren oder die Frauen zu spalten in heilige Mütter, Huren oder Karrierefrauen. Ganz anders in Rojava: Die Werte der Mutter stehen für Grundsätze, die von der ganzen Gesellschaft wieder gelernt und gelebt werden müssen. Deshalb ist der Platz der Mutter auch nicht im Heim, sondern überall in der Gesellschaft. Es ist historisch einmalig, dass Frauen eine solch starke Rolle in einer Revolution spielen. Sichtbar wird dies durch das Ko-Vorsitzenden-System, womit die Frauen in allen Strukturen in der Führung vertreten sind und durch die parallele autonome Frauenorganisierung, die es für jeden Bereich gibt. Das Beispiel des Mutterprinzipes zeigt, dass Begriffe, die wir nicht zu benutzen wagen, ein revolutionäres Bewusstsein schaffen können, wenn sie im Rahmen eines konkreten revolutionären Prozesses im dialektischen Verhältnis zu den realen Veränderungen stehen.
Kommunalität als Schlüsselbegriff
Das komplette Gegenteil von der Individualisierung und Konkurrenz, die der Kapitalismus mit sich bringt, ist der Wert der Kommunalität. Teilen ist überall in Rojava wichtig und selbstverständlich. Es gibt kein eigenes fixes Bett, alle schlafen in einem Raum auf Matratzen, die sie auf den Boden legen. Am Esstisch hat man nicht seinen eigenen Teller, sondern alle essen aus verschiedenen Tellern auf dem Tisch. Mit dem demokratischen Konföderalismus wird versucht, am bereits Bestehenden anzuknüpfen und gleichzeitig eine radikale kollektive Organisierung im gesamten Leben zu entwickeln: In der Produktion durch Kooperativen, im Quartier durch Räte und in der Verteidigung durch die Volksbewaffnung. Nicht nur die Besitzverhältnisse werden kollektiver gestaltet, auch bei der Justiz ist das kommunale Rätesystem der Grundpfeiler. An einem Kongress der Gerechtigkeitskomissionen in Qamislo diskutieren mehr als hundert Frauen die aktuellen Probleme. Sie vertreten vor allem die Frauenhäuser und Friedenskomitees, welche als erste Anlaufstelle bei Konflikten in Familie, Nachbarschaft oder Ehe dienen. «Wir werden überrannt von Fällen, die Nachfrage ist sehr gross. Oft sind wir auch fähig, die Konflikte zu schlichten, und es braucht keine höhere Instanz. Problem ist einfach, dass andere Arbeit, wie beispielsweise Bildung, zu den neuen Frauengesetzen auf der Strecke bleiben».
Eng mit kommunalem Leben verbunden ist der Begriff Genossenschaftlichkeit, auf kurdisch Hevalti. Es gilt der Anspruch, in seinen Beziehungen nicht ausschliessend zu sein und dementsprechend mit allen eine Freundschaft zu pflegen ohne zu hierarchisieren. Es geht darum, Menschen mit positiven und negativen Eigenschaften anzuerkennen und den Menschen als etwas Prozesshaftes und Gesellschaftliches zu sehen.
Was lernen wir daraus?
Vielleicht können diese Erfahrungen ein Beitrag im Kampf um eine Perspektive sein, wenn wir die richtigen Schlüsse daraus ziehen. Der kurdischen Bewegung ist es gelungen, für die gegebene Gesellschaft eine überzeugende Theorie und Praxis aufzubauen.
Diese zu erleben gibt Kraft und Gewissheit, wofür wir kämpfen. Davon zeugt die Begeisterung, die alle Menschen teilen, die als Internationalistinnen und Internationalisten Rojava besucht haben. Natürlich können wir die Konzepte nicht direkt von Rojava übernehmen, aber wir haben hier die Chance, Erkenntnisse zu gewinnen und zu versuchen, sie entsprechend unseren objektiven Bedingungen anzupassen und umzusetzen.
Das Schaffen einer fassbaren Perspektive ist dringend nötig. Rojava hat mit der Betonung auf das Bewusstsein anhand von kollektiven Grundsätzen, die das menschliche Leben ausmachen, seine Antwort darauf gefunden.
aus: aufbau 95