«Niemand wird für uns sprechen. Das haben wir uns versprochen»

Der Frauen*streik kann in der Schweiz etwas in Bewegung setzen, seine interessantere Seite ist aber international. Die Bewegung positioniert sich solidarisch und antikapitalistisch, das Verlangen nach revolutionärer Veränderung ertönt weltweit in ihr.

(az) 2017 ist es Angela Davis in ihrer Rede am Women’s March in Washington DC gelungen, das Potential der Bewegung zu benennen. Sie bezog sich positiv auf die existierenden Widerstandsbewegungen, sprang von globalen Grossthemen wie dem Kampf gegen Klimaerwärmung zu Forderungen wie Freiheit für Leonhard Peltier und die exilierte Assata Shakur, verband den Kampf gegen kapitalistische Ausbeutung mit jenem gegen Sexismus und Rassismus und endete mit dem Aufruf zu mehr Militanz. Antikapitalistisch, antirassistisch und klassenbewusst. Interessant, dass Hundertausende begeistert tobten, ihre Rede in Modemagazinen abgedruckt wurde und nur alte Kalte Krieger es wagen, ihr zu widersprechen. Überraschend ist jedoch, dass die Forderungskataloge von Frauen*streikbewegungen ihrer Rede oft ähnlich sind, sowohl bezüglich Vielfalt der Inhalte als auch Radikalität.

Es sei aber angemerkt: Wir sprechen hier von einer «Bewegung», darin sind immer unterschiedliche Kräfte enthalten, der breite Konsens ist diffus und ungefestigt. Dennoch gilt es zu schätzen, dass die globale Frauenbewegung fortschrittliche Inhalte ins Zentrum stellt und in den meisten Ländern nicht das Verlangen nach Repräsentation in den Parlamenten oder den Direktionen der Konzerne formuliert, sondern nach gesellschaftlichem Wandel. Sie stellt sich damit der Hegemonie der Herrschenden entgegen und begegnet der reaktionären Denkweise mit Aufrufen zur Solidarität. Das ist gegenwärtig viel wert.

Gerade weil die Bewegung zuerst in Polen und Lateinamerika riesige Dimensionen angenommen hat und von den USA wie den west-europäischen Ländern aufgenommen wurde, ist für die Frauen*streikbewegung von heute die Berücksichtigung der neokolonialen Unterdrückungsverhältnisse naheliegend und Antirassismus ist genauso diskussionslos mit dabei wie der Stern in der Schreibweise. In Argentinien und Mexiko brachten die Femizide – die Ermordung von Frauen in den eigenen vier Wänden oder ausserhalb – das Fass zum überlaufen und führten zu einer Massenbewegung mit der Parole «NiUnaMenos»: Keine weitere Frau darf dem Leben so entrissen werden. In Polen war es ein erneuter Angriff auf das Abtreibungsrecht. Die reaktionäre Avantgarde versucht mittels Gesetze über den Körper, den Willen und das ökonomische Überleben von Frauen zu verfügen, was abgewehrt wurde. In allen Ländern blieb es aber nicht bei Teilforderungen, die Forderungskataloge, die online zu finden sind, verlangen in den allermeisten Fällen nach umfassendem gesellschaftlichem Wandel.

Lieber militant als Opfer
Die Bewegung ist auf eine oberflächliche, aber optimistische Art inkludierend, oder einfacher gesagt: Die aktuellen sozialen Bewegungen sollen darin enthalten sein, was sich aufdrängt, da Frau in allen Kämpfen vertreten ist. Es ist auch notwendig, da der Kapitalismus umfassend zerstörerisch ist und Frau auf mehreren Ebenen betroffen, neben Sexismus quält schliesslich auch die Umweltzerstörung und der Sozialabbau, die Gentrifizierung oder der Landraub. Klar: nicht jede ist betroffen, aber immer viele. Der grosse Vorteil des Bezugs auf aktive Bewegungen liegt in den Erfahrungen, die diese mitbringen und einfliessen lassen, so kann die Frauenbewegung gleichzeitig alt und frisch sein, versteht sich als eine von unten, die wenig Hoffnungen auf den Staat setzt und selber gesellschaftlichen Wandel erkämpfen will. Lieber militant als Opfer. Das italienische Streikkollektiv fragt im 8. März-Communiqué rhetorisch nach den Gründen des Protests und antwortet entnervt: «Wir fragen zurück. Gibt es irgendetwas, durch das wir uns wertgeschätzt oder befreit fühlen sollten?» Frei interpretiert: Wer den Grund für den Streik nicht selber erkennt, steht auf der falschen Seite, ist keiner Antwort würdig. Dialog war gestern.

Mode oder bitterer Ernst?
Diese unbekümmerte Einbindung über Widersprüche hinweg stört einige, sowohl jene, die sich mehr Tiefe wünschen als auch jene, die dies als postmoderne Modererscheinung sehen und andere, die mit dem Widerspruch nicht leben können. Nicht ganz überraschend endete beispielsweise der Women’s March in Erklärungsnotstand an der Streitfrage Israel. Antisemitismus wurde öffentlich mehrfach verurteilt, aber ebenso die Besetzung Palästinas. Im Communiqué traten die Organisatorinnen aber nicht in die Falle, sich zu distanzieren, sondern entschuldigten sich für verletzte Gefühle und erklärten ein weiteres Mal ihre Feindschaft gegenüber dem Antisemitismus. Es kann also gesagt werden, dass die Bewegung durch diesen diffusen, aber spürbaren Konsens vor reaktionären Tendenzen ziemlich gut gefeit scheint, was einerseits entspannend ist und andererseits sicherlich das Fortschrittlichste, was im Moment auf Massenbasis existiert.

Unter anderem führt diese Bewegung dazu, dass Rosa Luxemburg zum hundertsten Jubiläum ihrer Ermordung wieder breiter rezipiert wird. Überraschenderweise das sehr unpassende Werk «Massenstreik, Partei und Gewerkschaften», wobei eigentlich nur die sehr poetischen Passagen daraus zitiert werden, wie zum Beispiel: «alles läuft durcheinander, nebeneinander, durchkreuzt sich, flutet ineinander über; es ist ein ewig bewegliches, wechselndes Meer von Erscheinungen». Der Bezug irritiert, weil Luxemburg sich darin an ihre eigene Partei wandte, die damals mächtige und kräftige Sozialdemokratie, die feste Vorstellungen darüber hatte, wie die Revolution von statten gehen soll. Ein derartiges Gegenüber existiert nicht mehr. Doch hat sie in ihrer Schrift die politische Dynamik einer Bewegung und deren Radikalität beschrieben. Das Potential ebendieser zum revolutionären Bruch zu führen. Insofern passt der Bezug eben doch und enthält eine optimistische Selbstaufwertung der jungen Bewegung, ohne die Härte des Gegenangriffs und die Gefahren für die einzelnen Militanten zu unterschlagen.

Luxemburg passt auch, weil sie selbst das Wort «Streik» zwar konsequent für Betriebskämpfe verwendet, jedoch alle Formen des Kampfes als Teil der revolutionären Dynamik würdigt. Die Besonderheit des Frauen*streiks ist es ja, dass nicht nur die Lohnarbeit, sondern jede Arbeit verweigert werden soll, insbesondere die Reproduktionsarbeit. Sie soll nicht nur bestreikt werden, sie muss überhaupt erst sichtbar gemacht und ernst genommen werden. Die Formen, wie das geschieht, können unterschiedlich ausfallen und tatsächlich braucht ein Frauen*streik deshalb eine grosszügige Definition des Begriffs «Streik». Das italienische Frauen*streikkollektiv schreibt dazu:

«Wir müssen auch mit dem Ritual des Streiks brechen. Unsere Kraft anwenden, um zuallererst die Funktionsweise dieser Gesellschaft aufzuheben und die Rollen, die mit ihren gewalttätigen sexistischen und rassistischen Hierarchien die Gesellschaft am Leben erhalten. Der Untergang dessen, was nicht sichtbar ist, aber unser Leben (…) in einer ungerecht regierten Gesellschaft regelt.»

Ein grosser Anspruch für einen Streikaufruf.  

Wiederentdeckte Rosa Luxemburg  
Ebenfalls auffällig ist der Wiederaufnahme des marxistischen Konzepts der ursprünglichen Akkumulation, wahrscheinlich über den Umweg über Silvia Federici zurück zu Luxemburg. Ihr Buch «Caliban und die Hexe: Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation» scheint einen Nerv zu treffen, der international ist. Wohl auch dank Federici – oder durch sie verschuldet, je nach Vorzügen – sind Hexen als Repräsentantinnen der starken, verfolgten Frauen wieder voll im Trend.
Die Wiederentdeckung dieses Werks von Luxemburg ist nachvollziehbar, denn sie hat sich darum bemüht, die neokoloniale Ausbeutung und sich fortsetzende Eroberung ökonomisch zu analysieren und hierin widerspiegelt sich die Aktualität.

«Je gewalttätiger das Kapital vermittelst des Militarismus draußen in der Welt wie bei sich daheim mit der Existenz nichtkapitalistischer Schichten aufräumt und die Existenzbedingungen aller arbeitenden Schichten herabdrückt, um so mehr verwandelt sich die Tagesgeschichte der Kapitalakkumulation auf der Weltbühne in eine fortlaufende Kette politischer und sozialer Katastrophen und Konvulsionen, die zusammen mit den periodischen wirtschaftlichen Katastrophen in Gestalt der Krisen die Fortsetzung der Akkumulation zur Unmöglichkeit, die Rebellion der internationalen Arbeiterklasse gegen die Kapitalherrschaft zur Notwendigkeit machen werden»

Wir streiken!
Diese Notwendigkeit scheint von vielen geteilt zu werden. Die Radikalität des Angriffs hat bei den Teilen, die sich zur Wehr setzen, zu einer ebenso radikalen Antwort geführt. Um wieder das italienische Communiqué zum 8. März zu zitieren:

«Die Politik heuchelt. Wir nicht, wir heucheln nicht. Wir streiken. Sie werden uns zu Diensten sein. Niemand wird für uns sprechen. Das haben wir uns versprochen. Der Mond lässt die Flut ansteigen. Wir werden bis oben gelangen, dahin, wo die Dinge geregelt werden.»

aus aufbau 96