Zum 50. Mal jähren sich die langen Riots, die in der New Yorker Christopher Street ausbrachen und an die die Pride Jahr für Jahr erinnert. Wenig ist anmassender, als die Vereinnahmung der damaligen Militanten durch den heutigen Kommerz-Anlass.
(az) Was den Aufruhr vor der Bar «Stonewall Inn» ausgelöst hat, bleibt umstrittene Geschichtsschreibung: Dieser Kampf geniesst bis weit in die bürgerliche Gesellschaft hinein mythischen Heroismus, den man zuschreibt, wie es opportun erscheint.
Tatsächlich war dieser Riot wichtig. Nicht weil es der erste gewesen wäre, aber es war wohl der erste, an dem in Anlehnung an die schwarze Bewegung «Gay Power» gefordert wurde. Und in seiner Folge wurden Organisationen gegründet, die militanter waren als die alte «homophile Bewegung», die seit einigen Jahren die Anerkennung homosexueller Menschen als «anständige, normale Bürger» zu erreichen versuchte. Es sind die organisatorischen Folgen, die den Riot zum historischen Ereignis machen.
An der Christopher Street verkehrten nicht die «anständigen Bürger», von denen die homophile Bewegung sprach. Vor der radikalen Gentrifizierung der 70er Jahre war New York eine sehr proletarische Stadt. Die Armutsbevölkerung war noch nicht vertrieben, die revolutionären Bewegungen, insbesondere die Black Panthers und die puertoricanischen Young Lords, waren hier gut verankert. Die Christopher Street war ein Treffpunkt jugendlicher Obdachloser, die von zu Hause rausgeschmissen worden waren, weil ihre Familien ihre sexuelle Devianz nicht akzeptierte, oder aber sie waren selbst abgehauen, weil sie die ständige Hänselung, Gewalt und Ausgrenzung nicht mehr ertrugen. Im kleinen Park gegenüber dem «Stonewall Inn» schliefen viele von ihnen. Ihre Situation war prekär, oftmals unaussprechlich brutal, zudem war die einzig mögliche Form der Geldbeschaffung illegal, sei das Diebstahl oder Sex-Arbeit. Aber immerhin gab es hier auch Momente der Solidarität und der Freude. Beim Riot war die Freude gross. Für einmal rannten die Bullen vor ihnen weg, ein Moment unglaublicher Selbstermächtigung.
Selbstermächtigung
Der Auslöser für den Aufruhr war die Razzia im «Stonewall Inn», obwohl die meisten Beteiligten wohl nicht in der Bar gewesen waren. So hören wir, ein Drag King, Stormé DeLarverie, habe sich gegen die Verhaftung gewehrt und die Menge angeschrien, nicht tatenlos zuzuschauen. Viele sehen in Sylvia Rivera, die Militante, die den Damm gebrochen haben soll, obwohl sie das selbst bestreitet. Wiederum andere glauben, es sei schlicht der Mafia-Türsteher gewesen. Doch ist das eigentlich egal und anekdotisch. Wichtig ist, dass es zum Aufruhr kam und das war aus Sicht der Gay-Barszene unter allen Gesichtspunkten aussergewöhnlich.
Razzien in Gay-Bars waren üblich, insbesondere zu Wahlkampfzeiten wie in jenem Sommer 69. Der amtierende New Yorker Bürgermeister versprach, die Strassen von «Deliquenten» und «Sträunern» zu säubern, eine Kriegserklärung an einen sehr grossen Teil der New Yorker Wohnbevölkerung, insbesondere auch an die vielen obdachlosen Sexworker_innen. Doch in schwulen Bars, die meist von der Mafia betrieben wurden, liefen Razzien nach einem vereinbarten Schema ab. Sie fanden früh abends statt, lange vor der Haupteinnahmezeit. Einige Personen wurden abtransportiert, insbesondere das Personal und jene, die nicht den Kleidungsvorschriften entsprachen – es war obligatorisch mindestens drei sichtbare «geschlechtsgerechte» Kleidungsstücke zu tragen, was natürlich den exponiertesten Teil der Community der ständigen Gefahr von Verhaftung aussetzte – das Bargeld wurde beschlagnahmt, die restliche Kundschaft kontrolliert, schikaniert und beleidigt und dann weg geschickt, worauf die Bar wieder öffnete und der Mafia die Taschen füllte. Doch an diesem historischen Abend war alles anders, die Razzia fand spät in einem überfüllten «Stonewall Inn» statt und zur grossen Überraschung der Polizeikräfte liess sich die Kundschaft nicht mühelos nach Hause schicken, sondern sammelte sich vor der Bar und warf mit Kleingeld nach ihnen, als sie Leute in den Gefangenen-Transporter bringen wollten. «So viel seid ihr wert» wurden den Bullen angeraunzt. Und es wurden immer mehr Menschen, insbesondere viele jugendliche Queers kamen angerannt, bald die ganze Nachbarschaft. Schnell wuchs die Menge zu tausend Personen an, zumindest sagt das die Polizei, die sich wohl ernsthaft zu fürchten begann.
Anbetracht der Tatsache, dass das Jahr 1969 geschrieben wurde und Auseinandersetzungen mit den Polizeikräften auf der Tagesordnung standen, überrascht der Riot im Rückblick weniger. Es war eine militante Zeit und Gründe für den Aufruhr der Gay-Community müssen nicht gesucht werden. Repression und gesellschaftliche Ächtung musste angegriffen werden, das Bedürfnis sich zu wehren überwog die Angst vor den Konsequenzen, so viel ist aus allen Berichten ersichtlich. Insbesondere die Black Power Bewegung gab der Hoffnung auftrieb, dass jetzt der Zeitpunkt gekommen sei, mit allen Formen der Diskriminierung aufzuräumen.
Der Kampf um das Erbe von Stonewall
Man nimmt an, dass der Befehl für die Razzia von Bundesebene gekommen ist, das «Stonewall Inn» wurde schon länger überwacht, weil es keine Alkoholsteuer bezahlte. Doch geriet der Einsatz, von den üblichen Sittenpolizisten durchgeführt, schnell aus den Fugen. Wie auch immer es war, so wie im Film von 2015 von Roland Emmerich war es nicht. Doch ist dem Film gutzuschreiben, dass er dermassen dramatisch daneben ist, dass es ihm gelang, eine Diskussion auszulösen. Durch die historisch falsche Darstellung musste sich ein breites Publikum mit den Tatsachen, die davor vorzugsweise ausgelassen worden waren, konfrontieren. Das rüttelte an der zum ikonischen Ereignis verkommenen Pride, die von Jahr zu Jahr sinnentleerter und kommerzieller geworden war, bei der es inzwischen zum guten Ton gehört, als Sponsor aufzutreten und eine schicke Party zu schmeissen. Und es hat die wenig kapitalismustauglichen Figuren, die wirklich dort kämpften, wieder sichtbar gemacht.
So steht in Tat und Wahrheit Sylvia Rivera, eine lauthals rebellische Street Queen, die ständig auf Drogen war, sinnbildlich für die Beteiligten von Stonewall. Nicht weil sie ihn ausgelöst hätte, sondern weil ihre Geschichte der Geschichte vieler anderer Beteiligter ähnlich ist. Und dank des Buchs von Martin Duberman ist uns ihre Geschichte erhalten geblieben. Als Ray Rivera in eine verarmte, zerrüttete katholische Familie geboren, fühlte sich Ray schon als Kind nur in Schminke und Frauenkleidern wohl und war nicht willig, in dieser Frage den gesellschaftlichen Ansprüchen nachzugeben. Ab elf Jahren ging er auf den Strassen New Yorks anschaffen und verwandelte sich bald in Sylvia Rivera, die später bekannte und anerkannte Revolutionärin, die aber immer auch auf Widerstände stiess. Die vorsichtigere schwule Bewegung sah ihren Kampf um legale Anerkennung durch schillernde Street Queens bedroht, da diese jedes Stereotyp sexueller Devianz zu repräsentieren schienen und dadurch die Anerkennung durch die Mehrheitsbevölkerung, so die verbreitete Meinung, erschwerten. Der feministischen Bewegung der frühen 70er Jahre hingegen waren die Queens ein Dorn im Auge, weil sie ein «falsches Frauenbild» portraitierten. Diese Auseinandersetzung brachte die sehr leidensfähige Sylvia 1973 schliesslich dazu, aus der Bewegung auszuscheiden, nachdem lesbische Genossinnen sie daran hindern wollten, auf der Bühne der Pride für aktive Solidarität mit den Schwestern im Knast zu werben.
Sylvia liess sich aber davor viele Jahre lang nicht durch Anfeindungen abbringen und kämpfte den Kampf um «Gay Power» an allen Fronten, war eingetragenes Mitglied der GLF (Gay Liberation Front) als auch der gemässigteren GAA (Gay Activists Alliance), die Young Lords waren ihre GenossInnen. Bob Kohler, ein Gründer der GAA sagte «die gewöhnlichen Mitglieder haben Angst vor Sylvia und halten sie für eine Unruhestifterin. Sie haben Angst vor Menschen von der Strasse». Und tatsächlich leuchtet das ein: Sie war Latina, arm geboren, ungebildet, hartnäckig und drückte sich in der Gassensprache aus, reagierte gegenüber der Staatsgewalt konfrontativ und handelte des öftern impulsiv. Eigenschaften, die Angst machten, aber auch beeindruckten. So war sie beispielsweise in der Zeitung, weil sie beim Anschaffen auf der Strasse Unterschriften für eine Veränderung der Gesetzgebung gesammelt hatte. «This be the butchest thing you ever done, girl!» sollen ihre Schwestern zu ihr gesagt haben. Und sie wurde verhaftet – offenbar gibt es ein entsprechendes Gesetzt – weil sie für das Unterschriftensammeln eine amerikanische Flagge hätte mittragen müssen. Der Prozess dauerte vier Monate und wurde am Ende fallen gelassen – Sylvia glaubt, es liege am Polizisten, der heimlich gay und in sie verliebt gewesen sei. Die anderen gehen davon aus, dass der Prozess zu viel Öffentlichkeit schaffte.
Ihre Beliebtheit führte aber nicht dazu, dass sie für das ihr eigenes Projekt STAR (Street Transvestite Action Revolutionaries), das sie mit ihrer Schwester im Geist Marsha P. Johnson gegründet hatte, Unterstützung gefunden hätte. Sie mieteten ein Haus, um obdachlosen, jugendlichen Street Queens eine Bleibe zu verschaffen, dafür gingen die beiden Gründerinnen weiterhin auf der Strasse anschaffen. Doch das Haus-Projekt starb nach einem Jahr, weil die mit dem Einzahlen beauftragte Bubbles das Geld für den eigenen Drogenkonsum veruntreut hatte. Marsha P. Johnson erlitt einen Nervenzusammenbruch, sicherlich auch in Folge einer nicht diagnostizierten Syphilis-Erkrankung, was angesichts der fehlenden Gesundheitsbetreuung für Sexworker_innen nicht überrascht, und so starb auch die politische Organisation STAR mit der Zeit ab.
Wenn heute insbesondere Marsha P. Johnson mit den vielen Blumen auf dem Kopf als interessantes Postergirl herhalten muss oder aber Netflix zweifelhafte Filme über sie ausstrahlt, dann sollten wir uns daran erinnern: Äusserlich mögen Marsha P. Johnson und Sylvia Rivera integrierbar sein, doch standen sie für das Gegenteil. Sie waren Repräsentantinnen der kratzbürstigen, nicht verhandlungsbereiten Sorte, die sich nach einer wirklichen gesellschaftlichen Veränderung sehnten und deshalb auch Revolutionärinnen waren. Nicht die Sorte, die sich die UBS auf die Fahne schreiben würde, würde sie hinter die Blumen auf dem Kopf schauen.
aus: aufbau 97