Gespräch mit einer Aktivistin der Gilets Jaunes Bewegung aus einem Departement des Südens. Über die Bewegung und die Diskussionen an den Versammlungen.
Lass mich zuerst fragen, bevor du mich fragst: Wer sind die Gilets Jaunes für dich?
Überraschender Einstieg, aber gut: Ich denke, es sind Menschen in Wut, die die Nase voll haben von der Politik von Macron. Diese kommt modern und elegant daher, ist aber ein umfassender Angriff auf alle Lebensbedingungen und gewährt keine Perspektive auf eine bessere Zukunft. Unsere GenossInnen sind Teil der Bewegung, aber insgesamt ist die Bewegung sehr breit. Also radikal, aber politisch manchmal ungenau.
Ein Soziologe hat von einer «unwahrscheinlichen Bewegung» gesprochen. Tatsächlich empfinden wir es ein bisschen so. Gründe zu kämpfen gibt es viele, aber die gab es früher auch. Wieso genau jetzt, wissen wir eigentlich nicht, aber wir sind uns sicher, dass dies die letzte Chance ist, dass wir jetzt grundlegende Veränderungen brauchen. Auf den Rondellen treffen sich wirklich viele, die bis zu diesem Zeitpunkt geschwiegen hatten und auch wussten, wieso sie geschwiegen hatten. Nun haben sie entschieden, das Wort zu ergreifen und drücken sich sehr klar aus. Und sie wollen nichts mit den etablierten Parteien oder mit den Gewerkschaften zu tun haben, das war anfangs ein starker Konsens.
Unser Slogan drückt aus, dass viele nicht wissen, wie sie ans Ende des Monats kommen, es geht uns um soziale Gerechtigkeit. Und dass sich alle über den Zustand der Welt Sorgen machen müssen, es geht uns auch um die Welt, die Ökologie insbesondere.
Du bist seit den Anfängen dabei.
Nicht ganz, aber fast. Eines Tages war ich mit dem Auto unterwegs, auf der Autobahn waren Warnungen, ich solle nicht weiterfahren, ich fuhr sowieso und kam zur Blockade der Gilets Jaunes. Die haben mich mit offenen Armen empfangen, wir haben diskutiert und ich bin problemlos weitergefahren. Es war mir sofort klar: Die Medien lügen, das ist eine gute Sache, wir haben uns angeschlossen, mein Mann und ich.
Später haben wir dann entschieden, dass wir da, wo wir leben, auch ein Rondell besetzen wollen. Sofort haben sich Leute aus den Dörfern angeschlossen. Wir haben uns so intensiv kennengelernt in dieser Zeit, wir sind wirklich eine Familie geworden, ich meine das im Ernst. So verschiedene Leute kommen zusammen, es ist voller Widersprüche, nicht einfach, aber wir hören einander zu und versuchen die Probleme zu lösen. Jedes Rondell trifft sich auch noch, um zu diskutieren. Das ist unsere Stärke.
Wo trefft ihr euch?
Beim einen oder anderen, allerdings sage ich das falsch: Bei der einen oder anderen. Es sind vor allem die Frauen, die diese Bewegung tragen. In Städten treffen sich die Leute auch in Parks, aber in den Dörfern bei Aktivistinnen zu Hause.
Es gibt also diese kleinen Versammlungen. Wie kam es zur erste grossen sogenannten «Versammlung der Versammlungen» im Januar?
Es kam die Idee auf, eine Versammlung der Versammlungen zu machen. Jede Blockade konnte entscheiden, eine Delegation zu dieser hinzuschicken. Die erste Versammlung war umwerfend, es war das erste Mal, dass wir uns überregional trafen und es wurden sehr starke Texte verfasst. Es war völlig klar, dass wir damit weiter machen. Seither hat nun schon die vierte in Montpellier stattgefunden, dort haben wir eine weitere beschlossen, die in Toulouse sein wird. Nach der ersten Versammlung, die einfach nur hinreissend und stark war, waren die weiteren harziger und schwieriger.
Die letzte Versammlung wurde kritisiert, weil die vorbereitende Gruppe zu sehr strukturiert hat, die Diskussionspunkte vorgegeben hat. Aus guten Gründen haben sie das gemacht, denn tatsächlich sind jedes Mal mehr Menschen dabei und es wird immer schwieriger zu diskutieren, es gibt Machtkämpfe, gewisse Egos wollen sich durchsetzen usw. Und es gibt natürlich auch zu verschiedenen Fragen gegensätzliche Meinungen. Deshalb ist Strukturierung nützlich. Doch grundsätzlich bleibt der wichtige Anspruch, dass es für die einzelnen Delegierten möglich sein muss, ihre Punkte einzubringen. Für die nächste Versammlung haben wir deshalb festgelegt, dass wir wieder an der Versammlung entscheiden wollen, worüber wir diskutieren.
Wir bleiben stark, vieles kommt in diesen Versammlungen zum Ausdruck und in ganz unterschiedlichen Formen. Das Ziel bleibt aufeinander zu hören und aufeinander einzugehen – ich verwende bewusst nicht das Wort Demokratie, da der Inhalt dieses Wortes verloren gegangen ist.
Was kann beispielhaft als Resultat einer Versammlung genannt werden?
Am Ende schreiben wir immer eine gemeinsame Deklaration. An der letzten Versammlung wurden z.B. fünf Punkte zur Abstimmung gebracht. Erstens, ob wir alle unterschiedlichen Aktionsformen, d.h. Blockaden, bewilligte und unbewilligte Demos, Petitionen, Munizipalismus, ziviler Ungehorsam oder Aufruhr ohne Widerspruch unterstützen wollen und die Versammlung hat mit ja geantwortet. Der zweite Punkt behandelte die Frage, ob die grosse oder die lokale Versammlung das Zentrum der Bewegung sein soll und wir haben entschieden, dass die lokalen der wichtige Referenzpunkt bleiben sollen. Das sind zwei Beispiele von vielen, gewisse Fragen bleiben jeweils auch offen und werden wieder aufgenommen. Es gab auch drei Appelle: Einen Aufruf für den 17. November, dem Jahrestag der ersten Blockade, einen für den 5. Dezember, dem von den Gewerkschaften vorgeschlagenen Generalstreik und einen zur Unterstützung der internationalen Kämpfe.
Wie ist das Verhältnis zu Parteien, Organisationen oder Gewerkschaften?
Das war gerade an den Versammlungen ein grosser Diskussionspunkt und ein riesen Dilemma, anfangs war die Haltung klar ablehnend. Den Gewerkschaften gegenüber hat sich das nun geändert, nach Monaten der Diskussionen über «Gemeinsamkeiten der Kämpfe». Parteien wollen wir allerdings weiterhin nicht, wer sich politisch in einer Partei engagieren will, muss das individuell, ausserhalb der Bewegung tun.
Ausserdem war die Abneigung gegenseitig. Die sog. Politisierten waren am Anfang sehr skeptisch den Gilets Jaunes gegenüber, bis an die Grenzen hin zur Verachtung. Und auch die Gewerkschaften machten uns schlecht. Basismitglieder waren natürlich von Anfang dabei, doch die Gewerkschaftsführung machte Stimmung gegen uns. Einige sind deshalb auch aus der Gewerkschaft ausgetreten.
Im Verlauf des Jahrs hat sich das geändert und gewisse Gewerkschaften haben nun die Gilets Jaunes gefragt, ob wir mit ihnen zusammen zum Generalstreik aufrufen wollen und wir haben in Montpellier entschieden, dass wir das versuchen wollen. Wenn es die Bewegung stärkt, ist das in unserem Sinn. Also rufen wir zum Generalstreik am 5. Dezember auf.
Was sind die Forderungen und wie ist deine Einschätzung?
Die Gewerkschaften lancieren einen Kampf zur Rettung der Renten, sie sehen den Generalstreik in diesem Zusammenhang. Wir sehen den Kampf breiter, wir wollen alles in Frage stellen und uns nicht auf die Renten beschränken. Einige sind sehr optimistisch, andere eher skeptisch. Wir werden es sehen.
Verbindet sich der seit Monaten andauernde Arbeitskampf bei den medizinischen Notaufnahmen und Rettungsdienste mit jenem der Gilets Jaunes?
Selbstverständlich, sehr viele Beschäftigte des Spitals gehören zu uns, das ergibt sich ganz von alleine.
Was sind Probleme, die sich stellen?
Die Kommunikation ist ein wiederkehrendes Problem. Einige mahnen extrem vorsichtig zu sein – du weisst ja, wir sind mit extremer Repression konfrontiert. Andere wollen so offen und breit wie möglich kommunizieren. Das ist ein immer wiederkehrender Streitpunkt.
Die Repression trifft uns sehr hart. Wir hatten zum Beispiel grosse Frauenmobilisierungen in ganz Frankreich, die waren absolut problemlos. Weit und breit kein Polizist, aber sobald wir ein gelbes Gilet anziehen, ist der Platz eingegast, bevor wir da sind, mehr Polizei als DemonstrantInnen manchmal. Wir werden mit den Gewerkschaften am 5. Dezember mitgehen, aber wir wissen noch nicht, ob wir unser Gilet anziehen. Damit machen wir uns zur Zielscheibe, viele haben Schiss und das völlig zu Recht. Und sie machen Jagd auf Einzelpersonen. Wer bekannt ist, z.B. langjährige Militante der Gewerkschaft, ist sehr bedroht. Sie können sich viel erlauben, schlagen auch ohne Strafbefehl zu, das ist die momentane Realität.
Aber wir glauben daran. Es gibt einen Konsens über alles: Soziale Gerechtigkeit, Klimagerechtigkeit. Das Ende des Monats, das Ende der Welt: Der gleiche Kampf! Wir wissen nicht, wie wir unser Ziel erreichen können, aber wir werden nicht jene sein, die aufgeben. Wir sind schon hundertmal totgesagt, aber wir kämpfen weiter. Wir reflektieren, wir diskutieren, wir haben Ideen, aber tatsächlich wissen wir nicht, wie es weitergehen kann. Aber wir sind uns sicher, dass es unsere letzte Chance ist. Also kämpfen wir.
Aus: aufbau 99