Das System der Pensionskassen bindet die lohnabhängige Bevölkerung an die Entwicklung des Kapitals und überhitzt den Wohnungsmarkt in den Städten. Die Pensionskassen der Schweiz sind historisch wie auch aktuell wichtige Faktoren im Prozess der Stadtaufwertung und Vertreibung der Bevölkerung. Zu reformieren gibt es somit nichts – abzuschaffen aber durchaus.
(az) Es ist bereits eine Weile her, seit sich im Frühling 2019 eine Interessensgemeinschaft „Leben im Brunaupark“ formiert sowie zu einer Kundgebung auf der Gemüsebrücke hinter dem Zürcher Rathaus zusammengefunden hat. Grund dafür waren die Kündigungen von rund 240 Wohnungen durch die Verwaltung Vincasa, die die Liegenschaft im Namen der Credit Suisse – Pensionskasse verwaltet. Hunderte MieterInnen werden durch diesen Rauswurf in den nächsten Jahren auf die Strasse gestellt und die nicht einmal dreissigjährigen Häuser in Zürich-Wiedikon sollen durch Appartements im gehobeneren Preissegment ersetzt werden. Dieses Vorgehen ist nicht neu. Doch angesichts dessen mutete die Begründung der Grossbank Credit Suisse paradox an: Medial argumentierte sie mit der „sozialen Verantwortung“ die die Pensionskasse der Grossbank gegenüber ihren Versicherten wahrzunehmen habe.
Diese Anekdote steht exemplarisch für das komplexe System des Zwangssparens, welches in der Schweiz seit 1985 in Form der Pensionskassen (BVG, berufliche Vorsorge) für alle Lohnabhängigen mit einem jährlichen Verdienst von über CHF 21’330 als obligatorisch gilt.
Obligatorische Kapitalakkumulation
Während die Einzahlungen der Lohnabhängigen bei der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) mittels Umlageverfahren sofort und kollektiv für die aktuellen AHV Renten verwendet werden – und dadurch nicht in Immobilien und andere zweifelhafte Investitionsfelder angelegt werden müssen – untersteht das BVG dem sogenannten Kapitaldeckungsverfahren. Jeden Monat bezahlen die Lohnabhängigen und die Unternehmen je zu 50% eine Prämie in eine Pensionskasse ein und diese einbezahlten Gelder müssen dann von der Kasse für die Versicherten individuell angelegt und angespart werden. Jüngere Menschen müssen weniger einbezahlen und werden dadurch für die Unternehmen zu kostengünstigeren Angestellten als die älteren KollegInnen. Es dürfte bekannt sein: Ältere Menschen finden gerade aus diesem Grund häufig keine Jobs mehr. Wer zudem öfters einmal den Job wechselt, temporär arbeitet oder (zwischenzeitlich) im Ausland lebt, läuft Gefahr, dass Gelder «vergessen» gehen. Gerade ausländische ArbeiterInnen in prekären Arbeitsverhältnissen sind von diesem Umstand stark betroffen: Die BesitzerInnen von rund drei Milliarden Franken (!) an Pensionskassengelder sind derzeit unbekannt. Dabei lohnt es sich einzig und allein für das Kapital, wenn Lohnabhängige versehentlich diesen Kassen etwas schenken (siehe Kasten).
Zu erwähnen ist auch die Komplexität rund um die Gelder von Personen, die zwischenzeitlich keinen Job mehr haben. Diese werden an sogenannte Freizügigkeitskonten überwiesen. Dort werden diese Vermögen zwischengelagert, bis die Person wieder einen neuen Job hat und das Geld an die neue Kasse des neuen Unternehmens weitergeleitet werden kann. Der Aufwand für die Kapitalakkumulation ist also für alle Seiten immens.
Doch das sind noch nicht alle Zumutungen, die das Pensionskassensystem für lohnabhängige Menschen zu bieten hat. Wer weniger als 21’330 Franken im Jahr verdient, erhält keine Rente, dies weil sinngemäss und getreu der kapitalistischen Ideologie Habenichtse auch im Alter solche bleiben sollen. Frauen sind davon besonders betroffen und gefährdet, in Altersarmut zu geraten. Dazu kommt eine Anlagepolitik, welche vollumfänglich durch die KapitalistInnen bestimmt wird, Immoblienspekulation ist wie eingangs erwähnt ein häufiges, wenn auch nicht das einzige Investitionsfeld. Diese kapitalistische Investitionspolitik kann auch dazu führen, dass eine Pensionskasse gar zahlungsunfähig wird und KleinanlegerInnen mit gar nichts mehr dastehen. Man kann sich also durchaus fragen, wie es so weit kam, dass dieses System einst für obligatorisch erklärt wurde.
Umwandlungssätze als Klassenkampf von oben
(Private) Pensionskassen sind ein klassisches Instrument liberaler Sozialpolitik. In den Siebzigerjahren wurde eine Stärkung des Pensionskassensystem dem Ausbau der Alters- und Hinterlassenenrente vorgezogen und vom Bürgertum als (schlechter) politischer Kompromiss angesehen sowie eingeführt. Man lockte auch mit hohen Zinsen: Das Pensionskassenobligatorium wurde 1985 mit dem Versprechen einer jährlichen Rente von 7,2% des einbezahlten Kapitals für die lohnabhängige Bevölkerung durchgewunken. Heute haben viele Pensionskassen deutlich niedrigere Umwandlungssätze in ihren Reglementen stehen. Bei der Zürcher BVK (Vorsorgeeinrichtung der Angestellten des Kantons Zürich) sind es derzeit gar nur 4,85 Prozent, die die Pensionierten jährlich von ihrem einbezahlten Kapital erwarten können. Was in den Achtzigerjahren bereits kritisch eingewendet und von bürgerlicher Seite grossspurig in den Wind geschlagen wurde, ist heute die Realität. So kommt es, dass Pensionskassen-Umwandlungssätze heute auch immer wieder als Klassenkampf von oben und damit als gewerkschaftliche Zankäpfel in Erscheinung treten.
Staatliche Förderung der Pensionskassen
Einen Wildwuchs an Pensionskassen unterschiedlichster Art gibt es schon seit langer Zeit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden erste Pensionskassen für LehrerInnen, PolizistInnen und Staatsbeamte eingeführt. Die Pensionskasse der SBB-Angestellten war lange Zeit die grösste Kasse der Schweiz. Pensionskassen wurden nach Konzernen, Branchen oder Berufsverbänden aufgegliedert. Historisch sorgte das System der Pensionskassen für die politische und ideologische Integration eines Teils der Angestellten, noch bevor die Alters- und Hinterlassenenversicherung von der ArbeiterInnenbewegung erkämpft wurde. Während dem Ersten Weltkrieg gewährte der Bund den Unternehmen im Rahmen der Kriegsgewinnsteuer Steuerbefreiungen auf Einzahlungen in eigene «Wohlfahrtseinrichtungen». Auch aufgrund dieser Massnahme wurden von den grossen Firmen hunderte Pensionskassen gegründet. Die Reserven der Kassen wurden häufig auch zur Selbstfinanzierung verwendet. Das Pensionskassenobligatorium 1985 ermöglichte den KapitalistInnen einen grossen und vor allem einen staatlich garantierten Markt – ähnlich wie bei den Krankenkassen, welche ebenfalls obligatorisch, dennoch aber privat organisiert sind.
Riesige Investitionen in Immobilien
Das System der Pensionskassen gehört bekämpft und abgeschafft, weil es die Altersrenten der lohnabhängige Klasse an die Entwicklung des Pensionskassen-Kapitals bindet. Pensionskassen machen hunderttausende Lohnabhängige zu KleinanlegerInnen. Es setzt somit die Lohnabhängigen zumindest teilweise ins gleiche Boot wie die KapitalistInnen-Klasse. Und dennoch ist es nicht nur eine ideologische, sondern auch eine lebenspraktische Alltagsfrage. Wie das Beispiel der Brunaupark-Wohnungen veranschaulicht, finanzieren die Lohnabhängigen mit ihren Beiträgen die eigene Wohnungsnot und die Voraussetzungen für tendenziell steigende Mieten mit. Ende 2017 verfügten alle Pensionskassen der Schweiz zusammen über ein Gesamtvermögen von fast 900 Milliarden Franken – was ungefähr dem anderthalbfachen Bruttoinlandprodukt entspricht. Es ist dies ein enormes Kapital, welches investiert werden muss und dies in einer Phase, in der das Kapital krisenbedingt nicht mehr genügend gewinnbringend angelegt werden kann.
Dies ist auch der Hauptgrund für den völlig überhitzten Bausektor, insbesondere den Wohnungsmarkt. Dabei geben die Pensionskassen ein Lehrbeispiel für den Kapitalismus ab: Obwohl sie in der Geschichte noch nie so viel Geld hatten wie gegenwärtig, bekunden sie allergrösste Mühe, dieses Kapital gewinnbringend zu investieren. Die Brunaupark-Wohnungen sind ein anschauliches Beispiel dafür, jedoch bei weitem nicht das einzige. Die Pensionskassen können nicht reformiert werden.
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Zentralstelle 2. Säule: «Fundbüro» für Pensionskassenguthaben
Das System der Pensionskassen konnten wir bisher noch nicht abschaffen. Dennoch benötigen wir eine einigermassen gute Altersrente im Hier und Jetzt. Eine besondere, bürokratische Absurdität am Pensionskassensystem zeigt sich darin, dass der Bund über ein eigenes Fundbüro für vergessene Pensionskassenguthaben verfügt. Solltest Du also kurz vor der Pensionierung stehen und hattest Du zuvor in verschiedenen Betrieben (und gar in verschiedenen Kantonen) mit unterschiedlichen Pensionskassen gearbeitet, so lohnt sich im Zweifelsfall eine Kontaktaufnahme mit der Zentralstelle 2. Säule, Sicherheitsfonds BVG, Geschäftsstelle, Eigerplatz 2, Postfach 1023, 3000Bern. Denn den KapitalistInnen etwas zu schenken, das wäre in jedem Fall falsch.
Aus: Aufbau 99