Einleitung
Mit dem Ausbruch der COVID19-Pandemie in Europa wurde zumindest scheinbar über Nacht alles anders. Für die Gesellschaft, für die einzelnen Menschen und auch für politische Strukturen. Revolutionärer Politik stellen sich damit neue Fragen, auf welche Antworten erst noch entwickelt werden müssen. Eine Grundlage für die Suche nach solchen Antworten ist, in den aktuellen Umbrüchen jene Momente und Chancen zu suchen, die einen Schritt nach vorne ermöglichen. Und für diese Suche müssen wir uns praktisch in die sich eröffnenden und verschärfenden Widersprüche hineingeben.
Der 1. Mai hat für uns seit jeher die Funktion, gemachte Kampferfahrungen in verschiedenen Ländern und gesellschaftlichen Widerspruchsfeldern zusammen zu tragen, ihnen einen gemeinsamen antikapitalistischen Ausdruck zu geben, und so als Katalysator zurück in die einzelnen Bewegungen zu wirken. In der heutigen Situation, in der einerseits die Interessen der Unterdrückten und Ausgebeuteten auf breitester Front angegriffen werden, andererseits erst Keime antikapitalistischer Gegenwehr vereinzelt sichtbar werden, ist diese katalysatorische Funktion des 1. Mai unserer Meinung nach um so zentraler. Die Heftigkeit, mit der die Krise unsere Lebensbedingungen trifft, und die drastischen staatlichen Massnahmen, welche den öffentlichen Raum bestimmen, machen es noch nötiger, den 1. Mai als Moment und Chance zu ergreifen, die Vereinzelung und Passivität offensiv zu durchbrechen. Es geht darum, als antikapitalistische Bewegung gestärkt, ermutigt und mit einem möglichst klaren Blick für die anstehenden Herausforderungen aus diesem 1. Mai heraus zu gehen.
Dieser Text ist eine aktualisierte und speziell auf die schweizerische Situation hin geschriebene Version eines Mitte März im europäischen Rahmen der Roten Hilfe International erarbeiteten Beitrages (einsehbar auf unserer Internetseite). Genau wie dieser richtet er sich an die revolutionäre Bewegung und möchte einen Beitrag zu einem gemeinsamen Fundament leisten, welches die Bewegung mit all ihren unterschiedlichen ideologischen Positionen nicht nur zu gemeinsamen Antworten befähigt, sondern auch über die akute Krise hinaus Schritte nach vorne erlaubt.
1. Die Krise ist eine historische Phase
Es liegt schon immer im Interesse der Herrschenden, den geschichtlichen Verlauf als eine lineare Entwicklung innerhalb gegebener Bahnen darzustellen. So wie es ist, müsse es auch zwingend sein. Und entsprechend werden in diesem bürgerlichen Geschichtsverständnis Krisen – sei es eine Pandemie oder ein Weltkrieg – als geschichtliche Sprünge von einer unhinterfragten Normalität zur nächsten verstanden. Die herrschende Norm soll als natürliche Notwendigkeit erscheinen, die sich nur so und eben nie anders hätte entwickeln können. Es ist dies eine Geschichte ohne Subjekte und ohne Möglichkeit aus den gegebenen Bahnen auszubrechen.
Und es muss in unserem Interesse – also im Interesse jener, die diese Normalität nicht als das Ende der Geschichte akzeptieren – liegen, den Verlauf der Geschichte eben nicht als etwas vorgegebenes zu verstehen, sondern als «unsere» Geschichte, als einen veränderbaren und bestimmbaren Verlauf. Das meinen wir, wenn wir davon sprechen, dass die Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Die Gesellschaft entwickelt sich nicht nach einem Automatismus, nicht nach irgendeiner Fügung, sondern als ein Prozess widerstreitender, das heisst handelnder, gesellschaftlicher Klassen, deren Kräfteverhältnis sich stets von neuem bestimmen muss.
Krisen sind in diesem Geschichtsverständnis alles andere als äussere Ereignisse. Sie sind im Gegenteil Kulminationspunkte der Geschichte: Phasen, in welchen bereits zuvor laufende Entwicklungen sichtbar und darin angelegte Widersprüche beschleunigt und verstärkt werden und explodieren können. In welcher Richtung diese gesellschaftlichen Widersprüche in solchen Phasen aufgelöst werden – ob sie zum Beispiel in Sozialismus oder Barbarei münden – hängt von nichts anderem ab als von den Klassenkämpfen.
Um als revolutionäre Linke offensive Schritte nach vorne machen zu können, ist es eine zentrale Voraussetzung, dass wir die derzeitige Krise nicht als eine gesellschaftliche Umwerfung verstehen, die ausserhalb der Klassenkämpfe steht – oder gar als Pause in der Geschichte – , sondern vielmehr als eine historische Phase des verschärften Klassenkampfes. Wir müssen die Krise als Moment verstehen, in dem es mehr als sonst darauf ankommt, ob Klassen fähig werden ihre Interessen zu vertreten und durchzusetzen. Eine historische Phase der Krise bedeutet aus revolutionärer Perspektive also nicht nur Gefahren, sondern vor allem auch Chancen und Notwendigkeiten. Und dass wir uns bisher damit schwer tun, von der Krise als Chance zu sprechen, liegt wiederum in den zuvor angelegten Entwicklungen. Die Krise trifft in den meisten Ländern auf eine Situation, in welcher die revolutionäre Linke und die ArbeiterInnenbewegung in der Defensive ist. Diese Krise wird das Leben von Millionen existentiell bedrohen. Und wenn die NZZ von der Krise als Chance spricht, zeigt das, wie gut aufgestellt sich die Herrschenden wähnen, um die aktuellen Umwerfungen für noch schärfere Angriffe gegen uns zu nutzen. Aber die Chance für einen revolutionären Wandel der Geschichte liegt gerade in deren Notwendigkeit. Revolution ist nicht eine Utopie, welche einer beliebigen Idee und einem beliebigen Willen entspringt. Revolution ist das, was in bestimmten historischen Momenten notwendig wird, um den gesellschaftlichen Fortschritt nicht nur voranzutreiben, sondern auch zu schützen. Es ist der mutige Schritt nach vorne, wo ein Stillstehen keine Option mehr ist, weil sonst der Rückfall droht. Nicht umsonst haben revolutionäre Veränderungen immer da angesetzt, wo das wirkliche Ende einer Krise mit dem Überkommen ihrer Ursachen zusammenkam. Die deutschen und russischen KommunistInnen hätten 1917/18 zum Beispiel kaum zur Revolution ansetzen können, wenn diese Revolution nicht gleichzeitig die einzige Antwort gegen den Weltkrieg gewesen wäre. Und es ist kein Zufall, dass inmitten der imperialistischen und barbarischen Aggressionen im Nahen Osten ein revolutionärer Gesellschaftsentwurf in Rojava erkämpft wird. Revolution ist dort die einzige Antwort auf die Barbarei.
Wenn es also die Klassenkämpfe sind, die den Lauf der Geschichte bestimmen, dann können wir gleichzeitig nicht auf einen automatischen Zusammenbruch des Kapitalismus hoffen. Und es wäre zynisch bis reaktionär, die existenzielle Bedrohung, welche aus der Krise hervorgeht, als Chance zu sehen. Die Chance liegt vielmehr darin, dass in der Krise die gesellschaftlichen Widersprüche, die der Kapitalismus schon lange produziert, so unmittelbar und verallgemeinert in unserem Alltag hervortreten. Die klar erkennbaren Widersprüche können die Ausgebeuteten und Unterdrückten näher bringen und vereinheitlichen, sie können klarere Linien zwischen unten und oben ziehen und Unterschiede innerhalb der Klasse abschwächen. Aber dieses objektive Hervortreten von Widersprüchen schlägt sich natürlich nur dann in unseren Köpfen nieder, wenn wir uns in genau diesen Momenten aktiv zu diesen zu verhalten. Wir müssen uns diese Widersprüche, die heute offen zu Tage treten, aktiv als Instrumente für eine revolutionäre Politik aneignen und sie schärfen.
2. Versuchen, die Krise zu verstehen
Es versteht sich von selbst, dass wir nicht zu handelnden Subjekten werden können, wenn wir unsere Sicht auf die Krise aus den Newstickern der bürgerlichen Zeitungen beziehen. Wir müssen mit gemeinsamen Kräften daran arbeiten, eine eigene Sichtweise auf die Krise, ihren Charakter und ihre Entwicklung zu erlangen. Erst eine solche Sichtweise wird uns ermöglichen, eine revolutionäre Politik zu definieren. Als revolutionäre Kräfte sollten wir uns dabei darauf konzentrieren, genau zu beobachten was passiert und der Versuchung widerstehen, hellseherisch über die Zukunft zu spekulieren. Wenn wir die Pandemie und ihre Folgen nicht als etwas verstehen, was die Bahnen der Entwicklung aus dem Nichts heraus lenkt, dann müssen wir für das Verständnis der Krise den Blick zurück richten. Was war vor der Pandemie? Auf welche Gesellschaft mit welchen Widersprüchen und welchen Kräfteverhältnissen ist die Pandemie getroffen? Was verursacht ein Virus, das objektiv drastische gesundheitliche Massnahmen erfordert, wenn es auf eine Gesellschaft trifft, welche ökonomisch und politisch schon in einem Krisenmodus war? Wir können für diese Krise behaupten, dass sie alle Aspekte der Gesellschaft trifft, nicht nur indirekt Wellen wirft, sondern die Gesellschaft als Ganzes trifft.
3. Die Widersprüche spitzen sich zu: Innerhalb der Bourgeosie…
Das Virus trifft die Bourgeoisie in einem für sie heiklen Moment. Die langanhaltende Kapitalüberproduktionskrise hat schon längst zu einer Störung der Profite und zu einer politischen Krisenhaftigkeit geführt.Und damit einhergehend nimmt die Konkurrenz bereits seit längerem zu. Dies gilt – wenn auch in geringerem Masse und anderer Erscheinungsform – auch für die Schweiz.
In der ökonomischen Sphäre lässt sich der Krisenverlauf für die Schweiz noch sehr schwer abschätzen. Kurzfristig wird die Hauptfrage darin bestehen, welche Sektoren und welche Kapitalfraktionen wie stark vom Kriseneinbruch getroffen werden. Bereits heute lässt sich aber beobachten, wie unter den KapitalistInnen um Vorteile gerungen wird: Wessen Produktion darf weitergehen, wer kriegt Kredite und zu welchen Konditionen.
Mittelfristig wird sich zeigen, in welchen Sektoren die Kapitalakkumulations-Krise bereits soweit vorangeschritten war, dass die Masse des Profits schon in den letzten Jahren an die Grenzen ihrer Ausdehnung gestossen ist. Mit behördlichen Schliessungsmassnahmen ganzer Sektoren werden zur Zeit Milliarden von Kapital vernichtet. Wenn es dabei gelingt, durch die selektiven Bedingungen der Kreditvergabe gezielt das überproduzierte Kapital zu zerstören, und damit jenes Kapital zu stärken, welches seinen Profit noch ausdehnen kann, wird die Krise für die kapitalistische Produktionsweise insgesamt zum Jungbrunnen der Erneuerung – ähnlich dem 2. Imperialistischen Weltkrieg. Dieses Potential eines «Strukturwandels» des Kapitals wird denn auch durch bürgerliche StrategInnen (NZZ, SVP) explizit forciert.
Eng verbunden mit der ökonomischen Krise, kann auch bezüglich der politischen Sphäre schon vor der Pandemie von einer stärkeren Krise gesprochen werden. Diverse Widersprüche überlagern sich hier: Während es in der Schweiz auf nationaler Ebene in den letzten Jahren zwar noch relativ ruhig geblieben ist, kämpfen diverse andere nationale Bourgeoisien aber mit zähen Regierungskrisen. Diese manifestieren sich seit längerem in autoritären Tendenzen des Ausbaus und der Stärkung exekutiver Staatsapparate – mitunter auch der Repression. Die in der Pandemie vollzogenen Notstandsverordnungen verstärken nicht nur das Repressionsarsenal gegen eine potentiell aufbegehrende Bevölkerung, sondern werden von den jeweils regierenden Fraktionen auch im internen Machtgerangel genutzt, um die Gewichte innerhalb der Staatsgebilde weiter zur Exekutive hin zu verschieben.
In spezifischer Weise spitzt sich diese Lage auf EU-Ebene zu. Die Einigkeit der EU war (ausser in der Abwehr von Geflüchteten) schon zuvor schwach. Die totale Unfähigkeit eines koordinierten Vorgehens gegen Covid-19 und seine Folgen wird aber zur Bedrohung für die «europäische Einheit». Das EU-Projekt befindet sich in einer Zwickmühle. Und so brechen seit Beginn der EU existente widersprüchliche Interessen insbesondere zwischen Frankreich und Deutschland wieder auf, wenn es darum geht, Italien finanziell zu retten. Die Frage, ob die EU an den ökonomischen und politischen Verwerfungen der Krise zerschellt oder es schafft sich als eigenständiger oder veränderter Akteur in den ebenfalls von Neuem befeuerten Kampf um globale Hegemonie einzubringen, wird sich bereits in einigen Monaten besser einschätzen lassen.
Die Wiedererstarkung der Konkurrenz ist aber nicht auf die EU-Länder beschränkt, sondern derzeit das prägende Element der Krisen-Intervention auf der ganzen Welt. Beide Tendenzen, der autoritäre Staatsumbau wie der nationale Egoismus, bestärken objektiv die ohnehin gegebene Bedrohung durch Krieg und Faschismus. Diese Entwicklung wurde durch die Pandemie beschleunigt.
4. … und zwischen den Klassen
Wenn bei der Entwicklung der Widersprüche innerhalb der Bourgeoisie noch vieles nicht abzuschätzen ist und erst Fragen gestellt werden können, so gilt dies sogar noch mehr für die Zuspitzung der Widersprüche zwischen oben und unten. Klar ist, dass die herrschende Klasse versuchen wird, sich durch Abwälzung der Krise nach unten schadlos zu halten, und dass sie dies aus einer Position der relativen Stärke tut.
Nach Jahren neoliberaler Angriffe auf die Arbeits- und Lebensbedingungen trifft die Pandemie in der Schweiz auf Klassenverhältnisse, in denen eine organisierte ArbeiterInnenbewegung marginalisiert ist. Die Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse in den letzten Jahrzehnten hat die Zusammensetzung des Proletariats so verändert, dass die Krisenfolgen die unterschiedlichen Teile der Klasse sehr unterschiedlich trifft. Aber eines wird in dieser Krise auch in der Schweiz klar: Die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und der Arbeitsbedingungen hat den UnternehmerInnen die Möglichkeit gegeben, die Kosten der Krise auf die prekarisierten Teile des Proletariats abzuwälzen. Damit kommt die Bourgeoisie dem Modell einer atmenden Fabrik näher, in der die Arbeitskräfte je nach Konjunktur eingezogen oder eben rausgeschmissen werden können.
Es ist noch nicht einzuschätzen, wie stark die aktuellen und folgenden Krisenmassnahmen den Staatshaushalt effektiv belasten. Aber es ist damit zu rechnen, dass – ohne substantielle Mobilisierung der organisierten ArbeiterInnenbewegung – Sparmassnahmen und Abbaupolitik zunehmen werden. Das würde den Druck auf die prekarisierten und weiblichen Teile des Proletariats weiter verstärken.
Die Gewerkschaftsbewegung hat die Tradition der Burgfriedenpolitik in der Pandemie weitergeführt. So ist der Schweizerische Gewerkschaftsbund personell zusammen mit dem Arbeitgeberverband direkt beteiligt an der Erarbeitung des staatlichen Krisenmanagements. Es bleibt offen, inwieweit sich politische Verteilungskämpfe, welche sich schon unter Kapitalfraktionen zeigen, auch entlang der Klassengrenzen entwickeln können. Das heisst, wie weit die Gewerkschaftsführung zulassen wird, dass die Krise nur auf das Proletariat und die Staatshaushalte abgewälzt wird.
Der Schweizer Staat versucht und wird weiter versuchen die aufbrechenden Klassengegensätze so lange es irgendwie geht zu kaschieren. Ihm stehen dafür Milliarden von Franken und ein eingespieltes ideologisches, politisches und polizeiliches Herrschafts-Instrumentarium zur Verfügung. Gleichsam steht benachbarten Staaten nicht ein breites Krisen-Interventions-Arsenal wie das der Schweiz zur Verfügung. An vielen Orten der Welt führt die Krise bereits heute zur Verarmung proletarischer und kleinbürgerlicher Klassen. An einigen dieser Orten wurde in den letzten Jahren bereits erfolgreich ein Bewusstsein erkämpft, dass Aufstände möglich sind. Bei aller Stabilität der Schweizer Klassengesellschaft steht diese aber nicht isoliert in der Welt. Wenn in den Nachbarländern – wie Italien – die Klassenkonfrontationen zunehmen, kann sich dies auch im Bewusstsein des schweizerischen Proletariats niederschlagen.
5. Die Risse vertiefen
Allem Gerede vom «gemeinsamen Boot» zum Trotz treten die gegensätzlichen Interessen der Herrschenden und der Beherrschten derzeit mit viel stärkerer Klarheit und Unmittelbarkeit zu Tage. Auf breiter Front delegitimiert sich die Funktionsweise und das Wertesystem des Kapitalismus. Das bedeutet auch, dass gesellschaftliche Alternativen zum Kapitalismus oder zumindest zu seiner Marktlogik in Richtung gesellschaftlicher Planung und allgemeiner Solidarität stärker an den unmittelbaren Erfahrungen in der Klasse anknüpfen können. Gleichsam wissen wir aus der Geschichte, dass auch reaktionäre Gesellschaftsentwürfe das Krisenbewusstsein nutzen können.
Leider ist der Schritt von der kapitalistischen Perspektivlosigkeit zur antikapitalistischen Perspektive kein automatischer. Und die Frage in wie weit das Kapital und sein Staat in der Schweiz tatsächlich ideologisch geschwächt aus der Krise hervorgehen – und in welche Richtung diese Delegitimation politisch aufgelöst würde -, hängt von politischen Kräfteverhältnissen ab. Das bedeutet, dass es an revolutionären Kräften liegt, die im Verlaufe der Krise aufklaffenden Risse in der bürgerlichen Hegemonie schnell zu erkennen und mit unseren Initiativen zu vertiefen.
Besonders aussichtsreich erscheint uns dies dort, wo es gelingt, solche Risse mit bestehenden Kämpfen der revolutionären oder sozialen Bewegung zu verbinden. Bisherige Kämpfe revolutionärer oder sozialer Bewegungen haben eine antikapitalistische ideologische Basis geschaffen, indem solidarische Gegenentwürfe zur kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung erkämpft wurden. Das gilt für verschiedene Bereiche, wie der Frauenbewegung, der Solidarität mit Geflüchteten, der Bewegung gegen Stadtaufwertungen, der internationalistischen und antiimperialistischen Bewegung oder der Solidaritätsbewegung mit Rojava. Es zeichnet sich ab, dass die mögliche ökonomische und politische Verschärfung der Krise gerade auch in diesen Brennpunkten die Widersprüche vertieft. Und dort, wo schon kämpfende Subjekte – politische Kräfte, mit einer antikapitalistischen Orientierung – bestehen, können diese aufbrechenden Widersprüche auch mit einer revolutionären Perspektive – also mit einem Druck von unten – zugespitzt werden.
Gleichsam sollte eine revolutionäre Bewegung in alle anderen neuen sich entfachenden Brennpunkte hineingehen und sich darin aktiv verhalten. Und gerade dort wird es nötig sein, forschend und fragend Teil der Dynamiken zu werden.
6. In die Offensive gehen!
Kurz, es lässt sich zwar noch kaum abschätzen, welche gesellschaftlichen Widersprüche sich in den kommenden Monaten wie entwickeln, welche an Dynamik gewinnen und in welche Richtung. Aufgrund des fundamentalen Charakters des kapitalistischen Kriseneinbruchs insgesamt ist aber davon auszugehen, dass die Krise sämtliche gesellschaftlichen Widerspruchsfelder direkt betreffen wird und nicht nur indirekte Wellen schlagen. Es handelt sich nicht nur um eine Krise im Kapitalismus, sondern um eine Krise des Kapitalismus.
Um als revolutionäre Linke den veränderten Notwendigkeiten der neuen Situation gewachsen zu sein, führt kein Weg daran vorbei, uns aktiv in all diese gesellschaftlichen Widerspruchsfelder hinein zu begeben. Wir müssen dies mit möglichst wenig Voreingenommenheit tun: Jede noch so kluge revolutionäre Agenda wird an der Wirklichkeit zerschellen, wenn sie sich an vorgefertigten Mustern orientiert statt an realen Notwendigkeiten. Gleichzeitig müssen wir dies mit dem klaren Ziel tun, die Widersprüche nach vorne zu entwickeln: Ohne Voreingenommenheit zu handeln heisst keineswegs, sich opportunistisch hinter die gesellschaftlichen Widersprüche zu stellen.
Eine solche agile und vorwärtsgerichtete Politik setzt im Besonderen folgende grundsätzlichen Herangehensweisen voraus:
- Einen Schritt nach vorne zu unternehmen ist immer mit Anstrengungen verbunden. Entsprechend ist die vielleicht zentralste Voraussetzung, dass sich die revolutionären Kräfte ihren Möglichkeiten der revolutionären Dringlichkeit dieser historischen Phase stellen. Dieser Anspruch kollidiert mit dem wachsenden existenziellen und ökonomischen Druck auf viele von uns, ein Widerspruch, dem nur im solidarischen Kollektiv begegnet werden kann.
- Jede Intervention muss sich am Ziel orientieren, die aufbrechenden Widersprüche zuzuspitzen und nach vorne zu entwickeln. Im Vertrauen darauf, dass die Angriffe von oben sicher kommen werden, bedeutet dies, reformistische Kompromisse zu denunzieren und stattdessen Verteidigungslinien aufzubauen, die auf der realen Gegenmacht in Betrieben und auf der Strasse fussen.
- Wo immer möglich ist dabei offensiv die Systemfrage zu stellen. Es ist gerade heute – im Zusammenprallen von objektiver Krise und subjektiv schwach entwickeltem Klassenkampf von unten – zentral, revolutionäre Politik voranzutreiben. Die umfassende Krise des Kapitalismus macht reformistische Lösungen unglaubwürdiger und öffnet objektiv die Notwendigkeit nach revolutionären Antworten.
- Es ist der Kampf auf der Strasse und im realen öffentlichen Raum, der die Entwicklung des Kräfteverhältnisses massgeblich bestimmen wird. Das haben alle Aufstände der letzten Jahrzehnte gezeigt. Und das wissen auch die Herrschenden. Entsprechend müssen wir uns unsere Ausdrucksformen schon jetzt aktiv zurück erobern. Und wir müssen dies heute beginnen und dabei jeweils die Grenze des aus medizinischer und politischer Perspektive Verantwortbaren ausloten.
- Die internationalistische Perspektive ist und bleibt ein zentraler Bezugspunkt revolutionärer Politik. Und sie wird in den nächsten Monaten von besonderer Wichtigkeit sein. Dem vergleichsweise milden Verlauf von COVID-19 in der Schweiz und dem relativ gekonnten Krisenmanagement des hiesigen Staates gilt es die internationale Dimension entgegenzustellen. Sie wird sowohl den weiteren Verlauf der ökonomischen Krise als auch das systemsprengende Potential der Antwort darauf wesentlich mitbestimmen.
- Wir müssen uns auf einen langwierigen Kampf einstellen. Die Krise wird nicht linear verlaufen, genauso wenig wie der revolutionäre Prozess. Fehlende Geduld wird angesichts des zu erwartenden ungleichzeitigen Krisenverlaufs in die sichere Resignation leiten.
- Das heisst, es gilt in Anbetracht der Krise und der sich aus ihr ergebenden neuen Möglichkeiten als revolutionäre Bewegung zu verhindern, alles bisher Erarbeitete über Bord zu werfen. Die Kontinuität, die wir in unseren jeweiligen Kampffeldern über die letzten Jahre und Jahrzehnte aufgebaut haben, stellt eine politische Qualität für sich dar und wir müssen sie um jeden Preis schützen.
Die revolutionäre und antikapitalistische Bewegung enthält vielfältige Positionen. Das ist eine Stärke.
Wir müssen unsere Kräfte und Kämpfe zusammen tragen! Bilden wir solidarische Aktionseinheiten, um in den anstehenden Auseinandersetzungen die revolutionäre Perspektive zu stärken!