Zum Krieg niedriger Intensität gegen Rojava und Qandîl

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Vorwort zur deutschen Ausgabe

Der revolutionäre Prozess in Rojava geht in sein neuntes Jahr. Es ist wichtig, diesen allgemeinen Prozess zwischen Revolution und Konterrevolution in seinen verschiedenen, spezifischeren Phasen zusehen. Diese Phasen unterscheiden sich z.B. nach den beteiligten Akteuren, dem Kräfteverhältnis oder den Formen des Konflikts. Einige Phasen lassen sich genau datieren und sind mit bekannten Ereignissen verbunden (die Verteidigung von Kobane Anfang 2015, die Befreiung von Rakka gegen Ende 2017, der türkische Besatzungskrieg gegen Afrin im Januar 2018 usw.). Andere Veränderungen scheinen eher graduell zu sein oder sind erst im Nachhinein zu beobachten. Dieser Ansatz ermöglicht eine differenzierte Sicht auf die besonderen Bedingungen,unter denen der Prozess stattfindet, und ist die Voraussetzung für seine Verteidigung.

Es ist eine der herausragenden Qualitäten der kurdischen und türkischen GenossInnen vor Ort, mit dieser Methode immer wieder neue Wege zu finden, um die Fortführung des Prozesses unter sich ständig verändernden Bedingungen zu gewährleisten. Wir sehen dies beispielhaft daran, wie es ihnen gelang, die Lehren aus der militärischen Niederlage in Afrin zu ziehen, so dass die türkische Armee in Serekaniye auf besser vorbereiteten Widerstand traf. Wir sehen es zum Beispiel auch daran, wie die Guerilla in den befreiten Gebieten des Qandîl-Gebirges ständig neue Mittel entwickelt. Dieser Ansatz schützt vor Dogmatismus und Kurzsichtigkeit; er ermöglicht es der gesamten Gesellschaft von Rojava, sich auf das gemeinsame Ziel auszurichten, den Prozess mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen.

Wir glauben, dass die Bewegung der internationalen Solidarität mit Rojava gut daran täte, eine ähnliche Methode anzuwenden, um einen Faden der internationalen Solidarität aufrechtzuerhalten, der sowohl konstant ist als auch an Veränderungen angepasst wird. Gegenwärtig – im Sommer 2020 – ist der Hauptfeind von Rojava der türkische Staat.Eines der Hauptargumente dieser Broschüre ist, dass es falsch ist, passiv auf den Tag X zu warten, den Tag der „großen Offensive“, an dem wir schlagartig die Solidarität entfesseln sollten. Im Gegenteil, die Form der Kriegsführung niedriger Intensität, die derzeit von der Türkei in den vier Teilen Kurdistans geführt wird, stellt eine vitale Bedrohung dar. Und diese besondere Form des Krieges ist aus türkischer Sicht durchaus angemessen, da sie den Kriegszustand „normalisiert“ und es schwierig macht, eine breite Solidaritätsbewegung zu erreichen.

Der vorliegende Text, der im Winter 2019/2020 nach dem türkischen Angriff auf Serekaniye verfasst und seither aktualisiert wurde, kann zu einem besseren Verständnis der Situation beitragen. Es liegt an uns,Schulter an Schulter mit unseren GenossInnen in Rojava und Qandîl entsprechend zu handeln, um diesen Prozess im Sinne des Internationalismus zu verteidigen.

Sekretariat der Roten Hilfe International

Juli 2020