Antibabypille: Doch keine so magische Pille

Die Zulassung der Antibabypille vor sechzig Jahren wird gerne als Bedingung der sexuellen Befreiung gefeiert. Doch die Geschichte der Pille ist von Sexismus, Rassismus und Hass gegen die Armen geprägt; mit Kontinuitäten bis heute. 

(agj) Bei der Entwicklung der Antibabypille spielte die US-amerikanische Pflegerin Margaret Sanger (1879–1966) eine massgebliche Rolle. Dass sie sich als Feministin sah, sollte nicht über ihr menschenverachtendes eugenisches Gedankengut hinwegtäuschen. In den 1910er-Jahren begann sie, zu Verhütungsmethoden zu beraten und zu publizieren. Da das Comstock-Gesetz jegliche Information zur Schwangerschaftsverhütung verbat, musste sie 1914 vorübergehend nach Europa fliehen, wo sie auf die Theorie des britischen Ökonomen Thomas Malthus stiess. 

Malthus (1766–1834) behauptete, dass die Bevölkerung stärker zunähme, als es die natürlichen Lebensgrundlagen zuliessen und dass die daraus erwartete Lebensmittelknappheit das friedliche Zusammenleben der Klassen gefährde. Sein Drohszenario einer Überbevölkerung schürte die Angst der Bourgeoisie vor aufbegehrenden, verarmten Massen und bildete den Nährboden für nationalsozialistische Rassenhygiene bzw. Eugenik. Überzeugt von Malthus’ Theorie, vertrat Sanger die Position, dass „untüchtiges“ Leben verhindert, also die Fortpflanzung „degenerierter Menschen“ unterbunden werden müsse. „Untüchtig“ waren in ihren Augen Arme, People of Colour (POC), Gefängnisinsass_innen (obwohl sie selber Gefängniserfahrung hatte) sowie Menschen mit Behinderung und Erbkrankheiten. 1921 gründete Sanger die American Birth Control League u.a. mit dem Ku-Klux-Klan-Mitglied Lothrop Stoddard. 

Zwangsversuche an armen, oft POC Frauen 

Über das finanzstarke globale Netzwerk der Geburtenkontrollbewegung mit rassistischen Tendenzen lernte Sanger 1951 den Biologen Gregory Pincus (1903–1967) kennen. Mit Pincus’ Wissen und Sangers Kontakten wurde der Traum der Antibabypille sehr real und greifbar. Pincus suchte eifrig nach einem Wirkstoff und wurde fündig. Da Forschung an Verhütungsmitteln in den USA verboten war, führte das Team die Pillentests verdeckt durch. Neben Patientinnen von psychiatrischen Kliniken, welche nicht über die Tests informiert wurden, wurden auch Studentinnen aus armen Verhältnissen in Puerto Rico gezwungen, den Wirkstoff einzunehmen unter Androhung, die Abschlussprüfungen nicht zu bestehen. 

1957 wurde die Pille Enovid in den USA als Medikament gegen Menstruationsbeschwerden zugelassen und 1960 als erstes orales Verhütungsmittel für ältere verheiratete Frauen, die bereits viele Kinder hatten. Wenig später folgte die Zulassung in weiteren Ländern. Unverheiratete Frauen konnten sich den Zugang zur Pille erst in den 1970er-Jahren erkämpfen. Mit dem kalten Krieg drehte der Wind bei den Herrschenden, und die Pille gewann an Akzeptanz: Die erzkonservativen religiösen Gegner_innen von Verhütung verloren an Einfluss, während die Angst vor dem sozialistischen Block und den Befreiungskämpfen in den Kolonien sowie die immer offensichtlichere Umweltzerstörung neuerlich malthusianischen, neokolonialen Positionen Aufwind verlieh, die Geburtenkontrolle vor allem im Trikont befürworteten.

Nebenwirkungen für Frauen zumutbar, aber für Männer nicht?

Heutzutage verhüten 33% der Frauen in der Schweiz hormonell. Oft preisen Ärzt_innen die Pille fast schon als Lifestyleprodukt an und versprechen „schöne“ Nebeneffekte wie reine Haut, volles Haar und grösseren Brustumfang, ohne auf Risiken und Alternativen einzugehen. Die Pharmaindustrie vermarktet hauptsächlich die neueren Pillen der dritten und vierten Generation. Diese bringen mehr Profit, aber auch ein doppelt so hohes Thromboserisiko als die Pillen der zweiten Generation. Dass hunderte Frauen daran sterben mussten, kümmert weder die Pharmafirmen noch die staatlichen Zulassungsbehörden. 

Expert_innen gehen davon aus, dass die Pille nach heutigen Medikamententeststandards nicht mehr neu zugelassen werden dürfte. Denn die starken Nebenwirkungen lassen sich bei der Verschreibung bei gesunden jungen Frauen schlecht rechtfertigen. 2011 brach die Weltgesundheitsorganisation WHO vorzeitig einen Versuch einer hormonellen Verhütungsspritze für Männer ab, da 10% der Teilnehmer über Depressionen, Gewichtszunahme und veränderte Libido klagten. Laut dem an der Studie beteiligten Arzt Michael Zitzmann «stellt offensichtlich die Gestagen-Komponente, die sich auch in den Verhütungspillen für Frauen befindet, die Ursache für die Nebenwirkungen der Männer-Spritze dar.» Da diese Hormonspritzen bereits zur Behandlung von Testosteronmangel zugelassen sind, fährt Zitzmann fort: «Eigentlich könnte heute jeder Urologe die Hormonspritze Nebido im sogenannten off label use als Verhütungsmittel beim Mann verabreichen. Eine schöne Verpackung, ein eingängiger Name und eine ordentliche Werbekampagne und fertig wäre das Produkt.» Denn die Wirksamkeit ist seit Jahrzehnten erwiesen. Warum gibt es also keine Pille für den Mann? Weil die Pharmaindustrie gut an den Frauen verdient und die staatlichen Zulassungsbehörden argumentieren, für Frauen seien die Nebenwirkungen gerechtfertigt im Verhältnis zu den negativen Folgen einer ungewollten Schwangerschaft. Aber «um einem gesunden Mann eine Arznei zur Verhütung einer Schwangerschaft bei einer Frau zu verabreichen, bräuchte es grünes Licht von der Ethikkommission», argumentiert Maik Pommer vom deutschen Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. 

Es würde auch ganz anders gehen

Während die bürgerliche Gesellschaft Frauen weiterhin allein lässt mit Verhütung und Kindern, war China lange führend bei Vasektomie, Indien möchte bald ein Verhütungsgel für die Samenleiter zulassen und indigene Männer aus Papua verwenden schon seit Jahrhunderten Tee aus der Pflanze Gendarussa, an der nun in Indonesien wieder geforscht wird. Wäre bei uns nicht in Klassenkämpfen von oben während Jahrhunderten das traditionelle Wissen gewaltsam (u.a. bei den Hexenverfolgungen) vernichtet worden, wären wir heute nicht so abhängig von der Pharmaindustrie. Und abgesehen von Verhütung: Bei kollektiver Verantwortung für die Kinderbetreuung, wäre auch eine ungeplante Schwangerschaft weniger schlimm. 

aus aufbau 104