Das Gesundheitspersonal wüsste, was zu tun wäre

Der Aufbau hat einen runden Tisch mit Personen aus dem Gesundheitswesen gemacht. Die Probleme sind je nach Institution, Fachbereich und Funktion sehr verschieden, doch alle teilen die Meinung, dass Profit und ein gutes Gesundheitswesen unvereinbar sind. Ökonomisierung bewirkt Personalmangel, Zeitdruck und zerstörerischen Stress. Würde man das Personal fragen, es wüsste, wie ein Gesundheitswesen zu gestalten ist, das für das Wohl aller sorgt und das Personal dabei nicht kaputt macht. 

Eine Fachperson Gesundheit (FaGe) aus einem privaten Altersheim, eine Pflegefachfrau aus einem städtischen Pflegezentrum, zwei Pflegerinnen auf Intensivstationen und drei Assistenzärztinnen aus unterschiedlichen Spitälern sind dabei. Es gibt keinen Smalltalk, es geht mitten ins Geschehen. Wer im Gesundheitswesen Sorgearbeit leistet, hat Sorgen. Wir fragen, was unmittelbar nützen würde, um zu entlasten. «Nie mehr geteilte Schicht» antwortet die FaGe wie aus der Pistole geschossen und eine Assistenzärztin fragt: «Was ist das?». Schichten, die frühmorgens und abends zu leisten sind und dazwischen ‚Zimmerstunden‘ haben, kennt die Notmedizin nicht. 

Das Gesundheitswesen ist divers. Es ist nicht egal, ob du in einer öffentlichen Einrichtung arbeitest oder in einer privaten. Ein Altersheim unterscheidet sich vom Pflegezentrum, noch mehr vom Spital. Auch sind Pflegende und Ärzt_innen weder auf der gleichen Hierarchiestufe, noch haben sie die gleichen Probleme. 

Wer im Gesundheitswesen Sorgearbeit leistet, hat Sorgen

Die Unterschiede können extreme Formen annehmen, wie die eine der Intensivpflegerinnen ausführt: «Während der ersten Welle hat eine total ungleiche Verteilung stattgefunden. Teilweise haben Kliniken Kurzarbeit angemeldet und wir haben durchgerackert und da war schon ein grosser Frust, dass wir gemerkt haben: Es wäre gar nicht nötig gewesen, dass man die Menschen, die man betreut, so gefährdet. Dass man das Personal so gefährdet.» Eine Assistenzärztin berichtet: «Ich habe noch nie so wenig gearbeitet, wie in der ersten Welle» eine andere: «Es stimmt, jedes Haus schaut nur für sich. Bei uns wurden gewisse Medikamente gehamstert und anderorts haben sie gefehlt. Genauso mit den Masken.» «Wir hatten in der ersten Welle viel zu wenige Masken» sagt die FaGe. «Wir mussten unsere Masken behalten und sterilisieren, das war grauenhaft!» und die Intensivpflegerin wieder: «Wir waren komplett am Anschlag, aber die Spitalleitung hat Hilfsangebote von ausserhalb ausgeschlagen. Jetzt in der zweiten Welle ist es besser. Seit sie gemerkt haben, dass der Bund für die verschobenen Operationen nicht aufkommt, läuft die Koordination der Corona-Fälle super. Sie sind vor allem daran interessiert, die elektiven Eingriffe so lange wie möglich weiterzufahren.» Nicht der Notstand hat zur Veränderung geführt, sondern der wirtschaftliche Zwang, so viel wie möglich zu operieren und das Defizit aus der ersten Welle abzuarbeiten. Genauso in einem anderen Spital: «Bei uns wurden Säle geschlossen während dem Tagesprogramm, aber die Nächte durchoperiert, weil plötzlich alles zum Notfall erklärt wurde.»

Sie spielen auf Zeit, aber gerade Zeit fehlt

Alle stimmen der Assistenzärztin ganz selbstverständlich zu, wenn sie sagt, dass über Ökonomisierung wohl nicht debattiert werden müsse. Das sei allen im Gesundheitswesen ohnehin klar. «Alle klagen über die vollen Züge. Aber öffnet die SBB die 1. Klasse? Niemals, die Schweiz ist klassenbewusst. Nie mehr darf ein CEO in die Nähe eines Spitals kommen!» schliesst sie aufgebracht. «Ja, Gesundheit und Profit schliessen sich wirklich gegenseitig aus. Wir arbeiten in diesem Sparkorsett in einem Widerspruch. Entweder ich arbeite bis zum Umfallen oder ich vernachlässige meine Patient_innen. Ich finde das missbräuchlich.» sagt eine Pflegerin. 

«Nie mehr sollen Eingriffe passieren, aus dem alleinigen Grund, dass sie ökonomisch wertvoll sind» findet die Chirurgin und die Pflegerin: «Die Pflege muss eine eigene Disziplin sein, die abrechenbar ist. Egal wie gut die OP war, du stirbst, wenn du danach nicht gepflegt wirst. Aber weil das nicht in Rechnung gestellt wird, wird da ständig gekürzt.» Die FaGe interveniert: «Und wenn wir im Altersheim versuchen, mehr Geld für einen besonders schwierigen Fall zu bekommen, dann verlangen Krankenkassen und IV Verlaufsprotokolle. Die haben dann unsere Pflegeassistent_innen geschrieben, diese haben aber keine Zeit für Protokolle und sowieso keine Ausbildung dafür, fast alle haben Migrationshintergrund und können sich nicht so gut ausdrücken. Die Krankenkassen lehnen sowieso ab!» «Immer» sagt die Pflegerin aus dem Pflegezentrum wütend. «Die Strukturen sind so hierarchisch und veraltet.» «Und ganz ehrlich: Die Strukturen sind auch auf allen Ebenen tief sexistisch.» fügt die Ärztin an. 

Die andere Intensivpflegerin betont die fehlende Mitbestimmung: «Ich war sehr betroffen, dass ich für die Öffentlichkeit arbeiten gehen musste, aber nichts zu sagen hatte.» 

Die Pandemie empfindet sie als noch nie erlebte Extremsituation: «Sogar die alten Hasen und Häsinnen sagen das, sowas haben sie noch nie erlebt, ein bisschen vergleichbar mit Krieg. Deshalb spreche ich auch nicht mehr von ‚Burnout‘, ich finde das Wort ‚Moral Injury‘ angemessener, wir leiden unter posttraumatischen Belastungsstörungen, wie die Kriegsveteranen. Die erste Welle habe ich in einem grossen Spital erlebt, das war nicht lustig,  wir hatten Angst, die Ungewissheit war gross. Die zweite Welle finde ich nun noch schlimmer, weil alles aufgearbeitet wird, Betten wurden belegt und alles auf Kosten unserer Gesundheit gepusht. Das Personal wird verheizt und die Stimmung ist schlecht.» «Belastungen finden auf vielen Ebenen statt. Ich wurde z.B. als Notärztin in ein Heim gerufen, der Patient wollte auf keinen Fall ins Spital, hatte eine Verfügung. Ich habe ihn über seinen Willen hinweg hospitalisiert, weil das Personal dort die Mehrarbeit auf keinen Fall hätte verkraften können. Eine schwerwiegende Entscheidung, eigentlich unvorstellbar. Und auch die vielen Todesfälle, besonders in der zweiten Welle, jüngere Menschen sterben nach einer oftmals langen Behandlung. Es ist sehr hart.» 

Widerstand 

«Bewirken diese traumatisierenden Zustände denn auch Widerstand?», wollen wir wissen. «Es gibt viel Frust» lautet die lakonische Antwort. Die Intensivpflegerin schildert als Beispiel die Irrwege ihrer Forderungen: «Wir hätten uns z.B. einfach mal ein warmes Essen gewünscht während diesen 13 Stunden Schichten.» Auf die Mail an die Direktion kam die Antwort, da sei der Stadtrat zuständig, der Stadtrat verwies seinerseits auf die Direktion. Dem Kampf stehen viele Hürden im Weg, das ist klar. Einerseits die Erschöpfung und der Zeitdruck, ausserdem die Erfahrung, nichts zu sagen zu haben. Andererseits ist da die Unmöglichkeit, in diesem System, das zutiefst falsch ist, Nachhaltiges zu bewirken. Wer Gesundheit statt Profit sagt, muss mit langem Atem zu kämpfen bereit sein. Das ist viel verlangt. «Auf der einen Seite sehe ich, dass man sich schon fast ein bisschen daran gewöhnt, dass man es schon fast als Realität akzeptiert hat und viel Hoffnung auf die Impfung setzt. Auf der anderen Seite sehe ich auch viel Erschöpfung, auch dadurch, dass wir immer mehr Leute in kürzeren Abständen sterben sehen. Einige legen eine Pause ein, weil sie wirklich erschöpft sind.»

Trotz allen Hürden gibt es auch kämpferische Erfahrungen, wie eine Assistenzärztin ausführt: «Den Prozess der Entlassungen der Chefärztin der medizinischen Klinik des Spital Uster und des Chefarztes der medizinischen Klinik des Spital Bülach habe ich relativ nahe miterlebt. Es hat mir vor Augen geführt, wie alles von Ökonomisierung dominiert wird. In beiden Fällen haben sich Chefärztin und Chefarzt für das Wohl der Patient_innen und des Personals und für eine gute Medizin, wahrscheinlich für eine gründlichere Medizin, als mittlerweile standardmässig im Rahmen von stationären Abklärungen betrieben wird, eingesetzt. Es ist davon auszugehen, dass sie deshalb mit sofortiger Wirkung freigestellt wurden. Dies hat zu viel Empörung und schliesslich auch zu Reaktionen geführt. Der Berufs- und Hierarchie-Gruppen übergreifende Protest des Spital Bülach hat zwar nicht zur Erfüllung der eigentlichen Forderung, nämlich der Wiedereinstellung des Chefarztes geführt, dennoch ist bemerkenswert, dass personelle Änderungen in der Spitaldirektion und im Verwaltungsrat folgten. Auch im Spital Uster wurde die Forderung nach der Wiedereinstellung der Chefärztin laut. Es wurden Briefe an die Spitaldirektion und öffentliche Briefe versandt, um die Forderung und den Unmut kundzutun. Es hat viel Austausch über das Vorgehen gegeben. Alle Entscheidungen wurden im Team gefällt und die Briefe durch das Team der Ässistenzärzt_innen der medizinischen Klinik geschlossen unterzeichnet. Es folgten mehrere Sitzungen mit der Spitaldirektion. Ich habe erlebt, wie die Forderungen auf sehr professionellem Niveau ausgesessen wurden. Salamitaktik: da mal eine Sitzung, dort mal eine Sitzung. Sehr nette Angebote, dass man über alles sprechen könne, für alles eine Lösung finden würde. Passiert ist nichts. Am meisten ärgert mich, dass sie uns mit der Salamitaktik gekriegt haben. Schliesslich ist uns der Atem ausgegangen und wir haben uns wieder von Stress und Alltag vereinnahmen lassen.» Die Gegenwehr der Direktion spielt auf Zeit, genau das, was im Gesundheitswesen knappe Ware ist, es bricht die Dynamik der Auseinandersetzung. «Ich glaube, dass man die ersten drei Tage alles auf den Kopf stellen muss. Drei Wochen später geht das schon nicht mehr, da ist nur noch die Hälfte der Leute dabei und sechs Wochen später sind es noch die fünf Nasen, die das vorher schon wollten.»

«Wie ist kämpfen jetzt möglich?» fragen wir. Auch hier fallen die Antworten unterschiedlich aus. «Ich glaube, wichtig ist, dass man im Betrieb drin ist, um Druck auszuüben. Es liegt viel Macht bei den Menschen, die am Patientenbett stehen.» «Was mich enorm inspiriert hat, waren Beispiele von Streiks aus anderen Ländern. Es braucht Leute wie uns mittendrin. Leute, die gute, kompetente Arbeit leisten und geschätzt werden. Die können anziehen und etwas in Gang bringen.» «Ich identifiziere mich extrem mit dem Beruf. Ich suche den Konflikt wirklich nicht und bin auch eher ängstlich. Und trotzdem: gerade um etwas Gutes zu machen, ist es unablässig, dass man reagiert und die Umstände nicht hinnimmt. Ich glaube, dass es Vernetzung braucht, Leute die dran bleiben, die Ideen haben und die sich trauen. Ich habe daraus gelernt und weniger Angst für das nächste Mal. Ich habe auch schon viel investiert in diesen Beruf und ich möchte gut darin sein und Gutes machen. Wehren wir uns. Wir wollen etwas zum Besseren verändern.»

Öffentliche Aufmerksamkeit als Chance

«Hat die Pandemie auch positive Seiten gehabt?» fragen wir. «Die Kollegin hat ja von Arbeit der Pflege auf Augenhöhe gesprochen. Das war in der Intensivpflege schon so. Ich habe noch nie so eine enge, intensive Zusammenarbeit erlebt wie bei COVID 19, eigentlich vor allem mit Oberärzt_innen. Auf COVID 19 waren alle Beatmungen extrem komplex.» «Das habe ich auch so erlebt» bestätigt die Assistenzärztin die Intensivpflegerin. «Es gibt so viele Krankheiten, bei welchen ich mit meiner Therapie den Krankheitsverlauf entscheidend verändern kann, nicht jedoch bei COVID 19. Da kann ich ein bisschen regulieren, aber wir kennen nichts, was heilt. Die Therapie besteht vor allem in der Unterstützung der Atmung und der intensiven Pflege.» «Und das hat dazu geführt, dass wir halt alle Hand in Hand an den Betten gearbeitet haben, für alle Umlagerungen. Da ist man immer 6 oder 7 Leute. Da waren wir eigentlich alle mit dran dabei.» Neben diesem konkreten Beispiel einer situationsbedingten Abflachung der Hierarchien, gibt es Hoffnung auf die öffentliche Aufmerksamkeit, die dem Gesundheitswesen vermehrt geschenkt wird: «Die Pandemie ist endlich eine Chance, breit zu sensibilisieren und aufmerksam zu machen und die Leute auch mitverantwortlich zu machen. Es ist unsere Gesundheit, unser Gesundheitssystem. Hoffentlich haben jetzt nach COVID alle ein Interesse daran, ein zugängliches Gesundheitssystem zu haben.» «Ich denke, die Dringlichkeit ist stark gewachsen, das ist das Positivste am Ganzen.» bestätigen andere. 

Und im Anschluss an die Demo, die in Bülach stattgefunden hat und wo viele der Interviewten waren, hat sich eine spontane Gruppe gebildet. «Unser Ziel, so wie ich es verstanden habe und wie ich es auch weitertragen möchte, ist, dass wir eine Sensibilisierung der breiten Bevölkerung erzielen möchten, indem wir an die Öffentlichkeit gehen. Wir planen eine Demonstration diesen Frühling und im Vorfeld wollen wir so wertvolle Sachen wie diesen Artikel machen.» Der Kampf im Gesundheitswesen tobt nicht, aber er geht weiter und das soll er auch, wirklich zum Nutzen der Allgemeinheit. «Wenn nicht jetzt, wann dann?»

aus aufbau 104