«Gewalt lässt sich nicht durch politische Gesinnung rechtfertigen». Mit dieser Deklaration begründete ein Basler Richter vor ein paar Monaten die Haftstrafe, die er gegenüber einer Antifaschistin aussprach. Diese soll zu den tausenden Menschen gehört haben, die sich 2018 in Basel einer rechtsextremen Mobilisierung in den Weg stellten, ohne Bewilligung des Staates. Diese Leute liessen sich nicht auf die weit entfernte bewilligte Gegendemonstration abschieben, sondern wollten die Rechtsradikalen dort aufhalten, wo diese waren. Die Basler Staatsanwaltschaft eröffnete daraufhin etliche Verfahren. Die involvierten Richter_innen, die nun einen Schuldspruch nach dem anderen fällen, haben anscheinend einigen Erklärungsbedarf: Nebst der zu Beginn zitierten Aussage wurde weiter argumentiert, dass, obwohl es in der Vergangenheit vielleicht richtig und sogar notwendig gewesen sei mit Entschlossenheit gegen den Faschismus zu kämpfen, dies aber doch heute in den freiheitlichen Demokratien unserer Breitengrade nicht mehr geboten sei. Wer sich an diesem Tag zum Antifaschismus hätte bekennen wollen, hätte sich der bewilligten Demonstration anschliessen sollen.
Was hat das an sich? Wie sollen Antifaschist_innen damit umgehen, dass derselbe Staat, welcher antifaschistischen Widerstand kriminalisiert, gleichzeitig den Antifaschismus für sich behaupten möchte? Sich über die Repression empören? Sich eingeschüchtert auf den Staat verlassen? Weder noch. Vielmehr bieten diese Aussagen einen Ausgangspunkt, um sich zu fragen, in welchem Verhältnis Staat und Faschismus im Kapitalismus zueinander stehen. Schlussendlich auch um sich zu fragen, welche Schlüsse sich daraus für den heutigen Anlass ziehen lassen.
Staatliche Neutralität als ideologisches Fundament von Unterdrückung
Denn wie politisch motivierte Gewalt beurteilt wird, ist offensichtlich kontextabhängig. Am 31. März des Jahres 1845 schlossen sich in der Innenschweiz liberale Kräfte zu Freischaaren zusammen und versuchten mit der Waffe in der Hand die konservative Regierung des Kantons Luzern zu stürzen. Drei Tage später schwärmte die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) über den Mut der unterlegenen männlichen Jugend, die «den eisernen Würfel eines allerdings ungesetzlichen Krieges […] zur Hand [namen]» um für eine Sache zu kämpfen, die «eines bessern Ausganges würdig gewesen» wäre. Erstaunlich, nicht? Ist es nicht dieselbe NZZ, welche heutzutage die kleinste Gefährdung der staatlichen Autorität, egal wie politisch motiviert, streng verurteilt? War die NZZ von damals eine andere? Eben nicht. Die NZZ der Mitte des 19. Jahrhunderts stand der liberalen Bourgeoisie zur Seite, im offenen Kampf gegen den Konservatismus. Die NZZ von heute ist immer noch die Zeitung der Bourgeoisie, immer noch im Kampf. Nur, dass dieser ein Kampf für den Status quo geworden ist.
Diese Anekdote veranschaulicht die Absurdität, mit welcher der bürgerliche Staat mitsamt seinen Richter_innen und Zeitungen versucht, sich als ein über der Gesellschaft schwebender Garant des Gemeinwohls darzustellen. Der Staat als neutraler Wächter über eine Geschichte, die aus einer stufenweisen Reihenfolge von Verbesserungen bestehe und an deren Ende sich die heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse befinden. Quasi als vorbestimmtes oder natürliches, auf jeden Fall aber bestmögliches Endprodukt dieser Geschichte.
Doch in Wirklichkeit hat die soziale Realität um uns herum sehr wenig natürliches und sehr wenig schicksalhaftes an sich. Sie ist das Produkt von Kämpfen und Prozessen voller Widersprüche, die kein Konzept der «Sehnsucht nach Gemeinwohl» erkennen lassen. Vorkapitalistische Machtstrukturen wurden im Krieg zerschlagen. Der erwähnte Freischaarenzug oder der darauffolgende Bürgerkrieg 1847, mit dem sich die helvetische Bourgeoisie gegen die konservativen Kräfte des Sonderbunds durchgesetzt hat, sind Beispiele dafür. Die gesamte Gesellschaft musste erst ihrem historischen Wesen – der Ausbeutung von Lohnarbeit – unterworfen werden. Die Enteignung der kleinbäuerlichen Massen und die koloniale Unterdrückung sind ebenso materielle Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise wie die Disziplinierung des weiblichen Körpers und seiner reproduktiven Funktion durch die Hexenverfolgung mit ihren hunderttausenden Opfern. Die neuen Landlosen mussten dazu gebracht werden, das ihnen fremd gewordene Eigentum zu respektieren und sich dem Ausbeutungsverhältnis der kapitalistischen Lohnarbeit zu unterwerfen. In diesem Sinne funktionierten Gesetzgebungen wie der Englische «Bloody Code», welcher banale Eigentumsdelikte wie Diebstähle mit dem Tod bestrafte, oder das systematische Einsperren von Vagabund_innen in Arbeitshäusern, zwecks ihrer auf die Lohnarbeit ausgerichtete Disziplinierung. Mit diesen wenigen Beispielen sehen wir, dass der Gesellschaft in der wir leben, als zentrales Entwicklungselement eben nicht nur die Philosophie der Aufklärung zugrunde liegt, sondern vor allem auch Unterwerfung, Raub, Krieg und Sklaverei.
Deshalb gab und gibt es kein «Gemeinwohl», sondern partikuläre Klasseninteressen, die im Widerspruch zueinander stehen. Im vielschichtigen Widerstreit dieser Interessen ist der Staat alles andere als neutral, seine Gewalt alles andere als unpolitisch. Der Staat fiel nicht vom Himmel – denn als konkretes Produkt eines widersprüchlichen Geschichtsverlaufs ist er zugleich Bedingung für und Konsequenz von den ökonomischen Ausbeutungs- und politischen Machtverhältnissen. Als zentrales Standbein davon gilt das bürgerliche Recht, mit dem bereits angedeuteten Schutz des Privateigentums an Produktionsmitteln. Somit verwundert auch die repressive Antwort der Basler Staatsanwaltschaft nicht.
Begrifflichkeiten wie Herrschende, Unterdrückte oder Ausbeutung sind keine moralischen Kategorien. Sie vergegenständlichen und ermöglichen Bewusstsein über die eigene politische und historische Situation. Aus einer emanzipatorischen Perspektive sind es nützliche Konzepte, um Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen und politische Strategien der Veränderung zu entwerfen. Denn das Wesen sozialer Klassen und ihrer Kämpfe bestimmt immer noch weitgehend die Geschehnisse um uns herum. Es ist kein Zufall, dass gerade in Krisenzeiten die Reichen immer reicher werden und die Armen immer ärmer – wie ein Bericht der Nichtregierungsorganisation Oxfam im Januar noch bezüglich dem aktuellen Kriseneinbruch krass aufzeigte. Die drastischen sozialen Ungleichheiten, die heutzutage niemand verleugnen kann – sowie auch andere Realitäten – sind nicht das Produkt zufälliger Lebensgeschichten, sondern struktureller Natur. Sie sind auf den Klassencharakter der sozialen Ordnung zurückzuführen.
Es ist aber auch kein Zufall, dass in der öffentlichen Debatte diese strukturelle Dimension nie genannt wird und Ereignisse ständig aus ihrem systemischen Gesamtkontext gerissen werden. Dass trotz allem überall immer davon die Rede ist, dass wir alle im gleichen Boot seien. Denn das Wesen des Staats beruht nicht auf reiner Repression und Macht besteht nicht aus purem Zwang. Es gibt eine Vielfalt an Mechanismen, welche die bestehenden Machtverhältnisse legitimieren und eine subjektive Zustimmung der objektiv Unterdrückten garantiert. Von der formellen Freiheit des Individuums und demokratischen Chancengleichheit – ganz objektiv gesehen eine Fiktion – über betriebliche Sozialpartnerschaft bis zur Formierung der öffentlichen Meinung durch Medien und Experten: All dies gehört zum Fundament der politischen Stabilität einer Gesellschaftsordnung der Ungleichheit. Es sind Erscheinungen eines permanenten ideologischen Kampfes mit dem Ziel, ein partikuläres Klasseninteresse als allgemeines durchzusetzen, auf dass die Unterdrückten die Interessen der Herrschenden zu ihren eigenen machen. Daraus besteht die ideologische Hegemonie der Bourgeoisie. Damit ist auch der ganze Diskurs um die Repression in Basel nicht besonders verwunderlich. Denn zur ideologischen Struktur dieser Gesellschaft gehört auch, dass das was illegal ist, als unpolitisch definiert wird. Eine politische Rechtfertigung des militanten Antifaschismus ist in diesem Rahmen gar nicht formulierbar.
Faschismus als Staatsform im Kapitalismus
Aus all diesen Gründen sollte, wer sich zum Antifaschismus bekennt, sich besser nicht auf den Staat verlassen. Denn so wie die aktuelle Gesellschaftsordnung kein Endprodukt eines linearen Weges des Fortschritts ist, ist auch Faschismus kein Unfall eines solchen. Der historische Kontext, aus dem der
Faschismus hervorkam, kann nicht getrennt von den Fragen des Staats, der Klassen und ihrer Kämpfe verstanden werden. Faschismus ist das Produkt einer Krisensituation, die in den Widersprüchen des Kapitalismus angelegt ist.
Schon relativ früh in der Zwischenkriegszeit erkannten gewisse Kapitalistenfraktionen das Potenzial zur Zerschlagung der organisierten Arbeiter_innenbewegung mit faschistischer Strassengewalt und unterstützten diese auch finanziell. Obschon diese Fraktionen zu Beginn in der Minderheit waren, stellte sich schlussendlich die ganze Bourgeoisie, als Klasse, hinter den Faschismus. Denn wie bereits erwähnt, ist ein wesentlicher Bestandteil ihrer Herrschaft die gesellschaftliche Zustimmung für das System. Diese geriet aufgrund der sozial verheerenden Konsequenzen des Ersten Weltkriegs, des Drucks von Massenmobilisierungen und der sich zuspitzenden ökonomischen Krisenmomente, in eine tiefe Krise. In einem Kontext, in dem die Bourgeoisie zu keinen materiellen Zugeständnissen gegenüber den Arbeitenden mehr fähig war, stellte der Faschismus mit seiner Massenbasis einen Ausweg dar, welcher sowohl die materiellen Interessen des Kapitals bewahrte, sowie auch die notwendige gesellschaftliche Zustimmung dafür. Das Privateigentum der Bourgeoisie blieb weitgehend unangetastet. Hingegen wurde die arbeitende Klasse jeglicher Möglichkeit, sich zu organisieren, beraubt. Auch wenn die Interessen der verschiedenen Konzerne und Banken nicht deckungsgleich mit denen faschistischer Parteiführungen waren, herrschte im Wesentlichen ein gesundes Arbeitsverhältnis. Als Veranschaulichung davon ein deutsches Beispiel: Der Reichsverband der Deutschen Industrie kündigte nach dem Ermächtigungsgesetz im März 1933 an, er werde «alles tun, um der Reichsregierung bei ihrem schweren Werke zu helfen». Auch zahlreiche Schweizer Unternehmen wussten die äusserst profitable Möglichkeit der Zwangsarbeit auszunutzen.
Es gäbe noch viel zu sagen, aber klar ist, dass Faschismus zwar als eine ausserordentliche Staatsform verstanden werden muss, die jedoch in weitgehender Kontinuität mit den vorbestehenden kapitalistischen Verhältnissen steht. Diejenigen, die nach einem starken Recht und Staat gegenüber faschistischen Splittergruppen rufen, sollten sich erinnern, dass die faschistischen Parteien die Macht nicht etwa ergriffen, sondern diese ihnen rechtskonform übertragen wurde. Diese Tatsachen dürfen nie vergessen gehen. Heute weniger denn je.
Bewusstsein als umkämpftes Feld
Wenn der kämpferische und erfolgreiche Antifaschismus wie in Basel von den Medien oder vor Gericht verurteilt wird, heisst es oft, dass man «ja eigentlich auch gegen Faschismus ist» und manchmal sogar, dass «wenn es soweit wäre man ja auch dagegen kämpfen würde». Was dahinter steht ist eine Fehlkonzeption, wonach die Inhalte des Faschismus eine Sache von wenigen reaktionären, illiberalen Überbleibseln einer düsteren Zeit seien. Diesem Verständnis nach bleibt Faschismus ein irrationales Ungeheuer der Geschichte. Die selbstproklamierten Antifaschist_innen im Anzug sollten sich aber Folgendes fragen.
Wie erklären sie sich, dass viele unter den anscheinend so bewussten Eliten vom Faschismus eingebunden wurden? Sogar nach dem Waffenstillstand des 8. September 1943, als der italienische Faschismus bereits Teile seiner Vormachtstellung verloren hatte, gelang es Benito Mussolini, eine ganze Reihe an illustren Intellektuellen für die Corriere della Sera freiwillig zu mobilisieren. Die Zeitung wurde zum existentiellen Organ für den Erhalt einer genehmen öffentlichen Meinung. Wie erklären sie sich, dass die «humanitäre» Schweiz gerade dann die hiesige Asylpolitik verschärfte, als 1942 in Frankreich die Kadenz der Deportationen zunahm? Die Flucht in die Schweiz wäre für viele die einzige Überlebenschance gewesen. Jedoch argumentierte der Bundesrat, dass «diejenigen, die alleine aufgrund ihrer Rasse fliehen, wie die Juden zum Beispiel, können nicht als politische Flüchtlinge anerkannt werden». Wie erklären sie sich, dass viele Ausführende des nationalsozialistischen Vernichtungsprojekts, wie zum Beispiel Ärzte welche die Euthanasie von kranken Kindern durchführten, nach dem Krieg ihre Handlungen vor Gericht so vehement rechtfertigten?
Zu den Gründen zählt sicherlich, dass der Faschismus im Einklang mit seiner Zeit war. Antisemitismus war weit verbreitet, der Kolonialrassismus und Imperialismus ein Grundpfeiler des westlichen Kapitalismus und die Lehren der Eugenik fanden im III. Reich nicht ihre einzige, sondern ihre radikalste Anwendung. Nebst Nazideutschland verfolgten auch angelsächsische und skandinavische Länder, aber auch die Schweiz, Massnahmen zur Besserung der «sozialen Hygiene». Hierzulande wurde im Kanton Waadt 1928 das europaweit erste Gesetz über die Zwangssterilisierung von geistig Kranken Menschen eingeführt. Die schweizerische Psychiatrie spielte eine zentrale Rolle im Aufbau der rassenpolitischen Gesetzgebungen Nazideutschlands. Parallel dazu wurde bis weit ins letzte Jahrhundert eine «Bekämpfung des Zigeunerunwesens» vorangetrieben, mit dem Ziel der Unschädlichmachung eines von «erblicher Minderwertigkeit» betroffenen Teils der Bevölkerung.
Was sagt uns das? Dass die ideelle Grundlage für den Faschismus nicht die Phantasie von wenigen Spinnern war. Dass diese nicht vom Himmel fiel, sondern Produkt eines gesellschaftlichen Klimas war. Denn unter vielem anderem, war der Glaube an die natürliche Ungleichheit der Menschen im Europa der Zwischenkriegszeit kein marginales Phänomen. So war das, was uns heute als absolutes Gräuel vorkommt, zu seiner Zeit ein Stückweit Normalität. Antifaschist_innen müssen sich deshalb ständig fragen: Gibt es heute Dinge, die im öffentlichen Diskurs zur Normalität geworden sind, obwohl sie es nicht sein sollten? Und wie prägt die Verschiebung des öffentlichen Diskurses auch den subjektiven Blick? Ist etwas im Gange, das vielen entgeht? Ist es wirklich normal, dass diejenigen die vor Elend und Krieg fliehen in Lager gesteckt werden und ihnen als einzige Perspektive das Verrotten in unmenschlichen Bedingungen angeboten wird?
Drei Betrachtungen zur aktuellen Situation
Der Inhalt dieser kurzen historischen Schilderung dient nicht der starren Betrachtung der Vergangenheit. Daraus lassen sich von einem historisch verallgemeinerten Verständnis von Faschismus drei wichtige Tendenzen in der aktuellen Situation erkennen.
Erstens, vegetiert die Wirtschaft mehr oder weniger seit den 1970er Jahren, polemisch gesagt, von einem offen sichtbaren Krisenausbruch zum nächsten, vor sich hin. Über verschiedene Wege, wie die der Zerstörung des Wohlfahrtsstaats und zahlreicher Privatisierungen und Liberalisierungen, konnte den sinkenden Profitraten ein wenig entgegengewirkt werden. Dennoch besteht keine Aussicht auf eine dauerhafte Lösung der Krise, da diese strukturell ist. Denn egal wie tief die Zinsen, egal wie locker der Aufkauf von wertlosen Papieren der Zentralbanken, egal wie grosszügig die Steuergeschenke für Reiche – wenn keine profitablen Geschäfte in Aussicht stehen wird im Grunde einfach spekuliert. Die Aussichten, die es innerhalb einer kapitalistischen Logik gibt, sind düster und beruhen auf einer noch drastischeren Verschärfung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitenden. Vor diesem Hintergrund droht der Weltwirtschaft, die sich vom Krisenausbruch 2008 nur mit neuen Schulden einigermassen erholte, wohl einer der grössten Einbrüche, die es je gab.
Zweitens, es zeichnet sich global eine politische Krise ab, eine Krise der bürgerlich-demokratischen Herrschaftsform. Die vielerorts schwächelnde Wahlbeteiligung, der Zusammenbruch traditioneller Parteien aber auch Bewegungsausbrüche wie in Chile oder Libanon, oder die der «Gilets Jaunes», die keine klassische Repräsentation anerkennen, zeugen von einem Vertrauensverlust in das parteipolitische System. Dieser Prozess verschärft sich aufgrund der Tatsache, dass die Gestaltung von Staats- und Wirtschaftspolitik in der Tendenz immer mehr nach ausserhalb von demokratischen oder sozialpartnerschaftlichen Gremien verlagert wird. Dazu gehören als Beispiele das zunehmende Gewicht von elitären Denkfabriken, die Bindung von Massnahmen an externe Sachzwänge wie internationale Verträge oder die fiskalpolitische Abhängigkeit der Staaten von Finanzmärkten. In dieser Hinsicht liefert die Aussage von Jean-Claude Juncker, ehemaliger Vorsitzender der Europäischen Kommission, 2015 nach dem Wahlsieg von Syriza in Griechenland eine schöne Zusammenfassung: «Es gibt keine demokratische Wahl gegen die europäischen Abkommen». Diese Entwicklungen münden in eine Situation, in der die herrschenden Klassen zunehmend Mühe haben, ihre Macht nur mit den hergebrachten Mitteln ihrer bürgerlich-demokratischen Ordnung zu sichern. Symptomatisch dafür sind in den letzten Jahren die vielen Gesetzesverschärfungen, die es in Frankreich nur per Dekret über die Runde schafften, oder die jüngste – gefühlt tausendste – italienische Regierungskrise vor ein paar Wochen. Eine solche Krise der Hegemonie entsteht aus dem Widerspruch zwischen den immer schärferen Massnahmen, die zur Rettung der Profitrate nötig sind, und der steigenden Schwierigkeit, die Zustimmung für einen solchen Ausweg aus der Krise in der Gesellschaft herzustellen.
Drittens, sind wir gegenwärtig mit einer sich laufend verschärfenden Rechtsentwicklung konfrontiert. Die beiden ersten aufgelisteten Punkten schaffen eine Situation, in welcher immer mehr Menschen ihre Existenzgrundlage bedroht sehen. Und aufgrund der allgegenwärtigen Perspektivlosigkeit suchen sie nach Antworten jenseits des Bestehenden. Eine solche Situation ist für die antikapitalistische, revolutionäre Linke eine Chance. Es ist aber kein Zufall, dass, wo diese schwach ist, gerade rechte und gar neofaschistische Strömungen und Strukturen erstarken. Denn seit längerem führen die entmenschlichte Grenzpolitik, die permanente Stigmatisierung des Islams sowie die globalen Kriegstendenzen zu einer Situation, in der rassistische Denkweisen und autoritäre Forderungen von oben legitimiert und vorangetrieben werden. Besonders besorgniserregend ist, dass immer breitere Teile der herrschenden Klassen auf diese reaktionären Mobilisierung zu setzen scheinen. Dieser Ansatz besteht aus dem Versuch, durch einen islamophoben und migrationsfeindlichen Diskurs eine Hegemonie wiederherzustellen. Konkret heisst das, über die abwertende Ausgrenzung anderer, soziale Ungleichheiten zu überdecken um ein Gefühl von Gemeinschaft zu schaffen. Die von der SVP seit Jahrzenten verfolgten Politik lässt sich darin einreihen. Besonders exemplarisch für diese Entwicklung war die Präsidentschaft von Nicolas Sarkozy und sein 2007 gegründetes Ministerium für Einwanderung und nationale Identität. Auch die Amtszeit des einmal so liberal etikettierten Emmanuel Macron endet mit denselben rassistischen Zügen.
Wieweit diese Entwicklungen gehen werden, wird sich zeigen. Aber es lässt sich schon jetzt feststellen, dass der Diskurs über eine schleichende Überfremdung, oder die kriegerische Rhetorik um den Kampf der Kulturen, Türen öffnet. Türen für die Anwendung von Gewalt gegenüber Menschen, welche in den Köpfen immer mehr abgewertet und entmenschlicht werden. Von dieser schrittweisen Verschiebung des Referenzrahmens zeugte auch die jüngste Abstimmung über das Verbot von Burka und Niqab. Heute ziehen die SVP und die Weltwoche nicht mehr alleine im Kreuzzug gegen den Islam, sondern zählen an ihrer Seite mächtige Gefährten wie die NZZ, welche die hiesige öffentliche Meinung mitgestaltet.
Für einen revolutionären Antifaschismus
Nun, damit soll nicht gesagt werden, dass der Faschismus unmittelbar vor der Türe steht. Eine solche Aussage wäre schlicht unzulässig. Aber ein Fehler darf nicht gemacht werden. Falls es einen Faschismus der Zukunft je geben sollte, dann wird dieser nicht in seiner historisch bekannten Form erscheinen. Das ist ein wichtiger Punkt, und die drei beschriebenen Entwicklungen – ökonomische Krise, politische Krise und Rechtsentwicklung – überlagern sich zu einer besonderen Konjunktur. In eben dieser verschiebt sich das Aufkommen eines Faschismus vom Status der rein abstrakten Hypothese langsam hin zur konkreten Möglichkeit. Nichts in der Geschichte ist vorgezeichnet. Aber wenn es eines Tages soweit kommen sollte, dann werden alle diese Aspekte eine entscheidende Rolle gespielt haben.
In einer solchen Situation darf nicht auf bessere Tage gewartet werden. Reaktionären Kräften darf die Strasse, der öffentliche Raum nicht überlassen werden, egal wie bescheiden ihre Präsenz ist. Der Antifaschismus im Anzug sieht die Zeit als noch nicht bedrohlich genug für den Kampf. Ein Trugschluss. Ab welchem Zeitpunkt soll denn gekämpft werden? Ab dann, wenn Neonazis jüdische Menschen bespucken und bedrängen, wie vor 6 Jahren anlässlich eines Polterabends in Wiedikon? Oder ab dem Zeitpunkt, wo Faschisten Menschen umbringen, wie in Hanau, Christchurch, Charlottesville, Paris oder Athen? Oder darf man sich sogar erst dann, wenn der Faschismus die Macht übernommen und seine autoritäre Herrschaft aufgebaut hat, fragen ob da vielleicht jemandem etwas entgangen ist? Solche Fragen dürfen sich Antifaschist_innen nicht stellen. Es ist noch gar nicht so lange her, als sich Nazis offen im Zürcher Niederdorf besammeln und ausleben konnten – zum Beispiel hatten sie ihre Stammkneipen. Durch aktiven und mitunter militanten Widerstand konnten sie aber vertrieben werden. Dem soll so bleiben. Denn wenn faschistische Strukturen, wie damals im Niederdorf und heute in vielen europäischen Städten, mal etabliert sind, sind sie nicht nur ein Problem in diesem Moment – nämlich ein ernsthaftes Sicherheitsproblem für alle Menschen, die nicht in ihr Weltbild passen – sondern sie sind auch ein Problem als das, was sie potenziell werden können. Denn stimmen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, kann es schneller gehen als man es sich vorstellen kann und der mikrige Stammtisch wird zum zentralen Aufbaumoment für eine gesellschaftlich relevante Kraft. Einen solchen raschen Aufstieg erlebte die Griechische Nazipartei «Goldene Morgenröte» in der Krise vor zehn Jahren. Deshalb muss unter solchen Bedingungen jede faschistische Präsenz auf der Strasse bekämpft werden, egal wie klein sie ist. So, als ob sie das Potenzial zu etwas grösserem in sich tragen würde.
Es ist klar, dass dieser Kampf um die Strasse nicht als Kleinkrieg verfeindeter Banden missverstanden werden darf. Faschismus ist ein Phänomen der Gesellschaft, und dort muss er bekämpft werden. Das heisst, dass der Kampf um die Strasse untrennbar mit dem Kampf um die Köpfe verbunden sein muss. Historisch hatte es der Faschismus geschafft, Millionen von Menschen zu mobilisieren und ihnen in schwierigen Zeiten Orientierung und Hoffnung zu bieten. Die Rechtsentwicklung wird auch von oben vorangetrieben aber ihre Realisierung findet sie – aufgrund der geschilderten Krisensituation – schliesslich auch in der Gesellschaft. Deshalb ist es in diesen Zeiten, in denen Hoffnungslosigkeit den Alltag vieler prägt, essenziell an diese Hoffnungslosigkeit anzuknüpfen und eine Perspektive jenseits des Kapitalismus zu eröffnen. Damit diese Perspektive aber keine illusorische Utopie bleibt, sondern als konkretes Ziel eine politische Praxis ermöglicht, darf sich letztere niemals in die Schranken der bürgerlichen Legalität zwängen lassen. Um Rückzug und Ohnmacht in Wut und Widerstand umzuwandeln gilt es zwingend, reale Gegenmacht aufzuzeigen, welche die bestehenden Verhältnisse real herausfordern kann.
Aus dem ganzen Vorherigen, sollte meine Haltung zu den Ereignissen, die den Grund für den heutigen Anlass sind, klar geworden sein. Im September 2019 wurde eine Gruppe Neonazis, die mit Hitlergrüssen durchs Niederdorf zogen, von einer Gruppe Antifaschist_innen gestoppt. Politisch gesehen kann ich eine solche Aktion nur gutheissen. Mein kompromissloses Bekenntnis zum Antifaschismus lässt mir keine andere Wahl. Denn egal wer wie was an jenem Tag genau gemacht hat – seien wir vernünftig – es war das einzig Richtige.