Bericht einer kämpferischen Woche des Gesundheitspersonals in Lausanne und Zürich (& Interview)

(az) Zwischen 50 und 100 Mitarbeitende des CHUV, des Lausanner Universitätsspitals, traten am Mittwoch dem 23. Juni 2021 in den Streik. Gegen 1’000 Teilnehmende folgten dem Demo-Aufruf am selben Abend in der Lausanner Innenstadt. Und dennoch sprach die Gewerkschaft VPOD nicht von einem vollen Erfolg, weil man noch mehr Beteiligung erwartete.

Es scheint klar, dass das Thema Gesundheit in Zeiten einer Pandemie bewegt. Bereits mit mehreren Wochen Vorlauf wurde der Streik angekündigt Forderungen nach mehr Lohn, Personal und der Anerkennung der Corona-Notlage wurden laut. Der Streiktag selber offenbarte dann sowohl Wut als auch Begeisterung. Wut über die Verhältnisse, die sich in Zeiten der Corona-Pandemie noch zugespitzt hatten. Begeisterung zeigte sich in der Innenstadt: Die Mobilisierung gab offensichtlich vielen Angestellten Kraft. Passant_innen spendeten ganz spontan Applaus. Auch wenn sich das Pflegepersonal an Applaus mittlerweile womöglich gewohnt hat, so galt dieser diesmal nicht nur der Arbeitsleistung, sondern dem entschlossenen Kampf um bessere Verhältnisse für Angestellte und Gepflegte. Der Streik in Lausanne hat einen grossen symbolischen Wert: Es war der erste dieser Art seit zehn Jahren und insbesondere seit dem Ausbruch der Coronapandemie. Im Land des Arbeitsfriedens ist Streik keine Selbstverständlichkeit und schon gar nicht in der Fürsorge-Arbeit mit Menschen. Folgerichtig wurde dieser Streik auch in Zürich als Vorbild thematisiert, dies anlässlich der Demo «Gesundheit vor Profit» am 26. Juni.

Bedarf der Menschen oder Profitstreben der Konzerne?

Die Kritik und Wut ähnelte jener vom Lausanner Streiktag. Auch in Zürich klagten Angestellte, in diesem profitorientierten Umfeld keine qualitative Arbeit mehr leisten zu können. Dies wurde in mehreren Reden und auf Schilder und Transparenten thematisiert. Als roter Faden zog sich die Abschaffung der Fallkostenpauschalen durch die Demonstration. Die Stimmung unter den gegen 800 Teilnehmenden war wütend, kämpferisch und im Ausdruck originell. Thematisiert wurde auch, was in den Medien kaum zur Sprache kam: Dass neben unerschöpflichem Einsatz, Erschöpfungsburnouts, fehlender Anerkennung und Pflegenotstand, die Angestellten während Corona auch ihr Leben riskierten und einige auch damit bezahlten.

Force et courage!

Für die Teilnehmenden war offensichtlich, dass diese beiden Mobilisierungen nur der Anfang einer Bewegung rund um den Gesundheitsbereich gewesen sind. Die Betroffenen selbst hatten an beiden Tagen immer wieder betont, dass eine positive Perspektive in den eigenen Händen liegt. Eine Perspektive, die sich am Bedarf der Menschen orientiert und nicht am Profitstreben der Gesundheits- und Pharmakonzerne. Und es wurde offensichtlich, dass sich diese beiden Interessenlagen grundsätzlich widersprechen.

Viel Kraft, Mut und Erfolg dem kämpfenden Gesundheitspersonal!

Interview mit den Streikenden

Pflegerin 1

Darf ich das sagen? Ich bin seit 30 Jahren in der Schweiz.

Sagen Sie, was immer Sie wollen!

Also, ich bin Fränzösin, von meiner Herkunft her. Ich habe in Frankreich gearbeitet und habe in den 90er Jahren die gleichen Mobilisierungen erlebt, die gleichen Streiks. Weil die Arbeitsbedingungen verschlechtert wurden, Arbeitsstellen gestrichen wurden.  Der Personalschlüssel wurde erhöht, mehr Patient_innen pro Pfleger_in. Niemand hat reagiert aus der Bevölkerung, aber auch sehr wenige aus dem Umfeld der Pflege, und heute sehen wir, wohin uns das gebracht hat, mit einer Pflegerin oder Pflegeassistentin auf 30 Patient_innen z.B. in der Orthopädie, oder Patient_innen, die 3 bis 4 Stunden darauf warten müssen, dass sie ein Medikament bekommen, weil die Pflegerin nicht überall sein kann.

Also ich finde, die Schweiz hat ein gutes Gesundheitssystem und heute entwickelt es sich wie in den 90er Jahren in Frankreich. Und ich habe überhaupt keine Lust, dass das gute System, unser Dienst für die Gesellschaft, abgewertet wird. Um am Ende miserable Bedingungen zu haben, ohne Pflege und zusätzlich mit Pflegenden, die ihren Beruf nicht mehr gerne machen. Und sowieso ihre Aufgaben nicht erfüllen können, weil ihnen die Mittel dafür fehlen.

Werden Sie und Ihre Kolleg_innen den Kampf nach heute weiterführen?

Wir sind heute hier, alles weitere werden wir sehen. Wir wollen gehört werden, damit es sich verbessert. Die Politik muss verstehen, dass wir Unterstützung brauchen, dass wir das im Dienste der Gesellschaft machen und jede_r von uns wird einestages in einem Spitalbett liegen. Alle sollen sich mobilisieren, es geht die Bevölkerung was an und ich würde mir wünschen, dass mehr Leute aus der Bevölkerung teilnehmen. 

Vielen Dank!

Pflegerin 2

Tatsächlich geht es um die Angst, wie wir zukünftig werden pflegen können und wie wir gepflegt werden werden. Ich teile ihre Meinung vollständig, es ist eine Abwertung. Und es gibt auch eine Abwertung der Pflegenden. Immer weniger Anerkennung und Respekt. Das ist gefährlich. Es ist die Kultur des Geldes, die im Spital regiert. Abbau der Menschlichkeit, bei allem, was das bedeuten kann, „Menschlichkeit im Spital“.

Und wie hat sich die Pandemie ausgewirkt? Hat sich die Situation verschlechtert?

Die Pandemie hat den Vorteil, dass sie aufgedeckt hat. Nun ist bei der breiten Bevölkerung bekannt, wie es aussieht, das hoffe ich zumindest. Es hat die Probleme im gleichen Stil fortgesetzt: Wir hatten zu wenig Personal, Leute fehlten immer, die Arbeit wird dauernd mehr,  die Fälle werden immer schwieriger, die Ängste im Psycho-Sozialen Bereich nehmen bei wenig Personal zu… Beispielsweise hatten wir im Jahr 2000 um die 2’000 Geburten im CHUV, nun haben wir 3’300 oder 3’400. Das hat nicht zu Einstellungen geführt, vielleicht in der Administration, aber nicht in der Pflege. Also mache ich mir Sorgen um die Zukunft des Gesundheitswesens.

Darf ich noch fragen, wie sich streiken anfühlt.

Wie sich das anfühlt?

Ja, ich meine die Gefühle dabei. Ich hätte etwas Angst.

Angst, ah nein. Ich habe keine Lust Angst zu haben. Die Pflegenden werden durch die Angst zurückgebunden. Wir arbeiten verdammt viel im CHUV, wir brauchen uns das nicht gefallen zu lassen.

Sind Ihre Kolleg_innen ähnlich mutig wie Sie?

Ja, aber nein, ich halte das nicht für Mut, das ist ein Akt des obligatorischen Gemeinsinns. (civism). Wir denken an uns aber auch an die Bevölkerung. Voilà!

Besten Dank!

Hebamme

Ich möchte nur hinzufügen: Die Ausbildung zur Hebamme erfordert 4 Jahre Ausbildung nach der Ausbildung. Der Anfangslohn mag in Anführungs- und Schlusszeichen korrekt sein, aber wer mit einem Master die Schule verlässt, hat eine völlig andere Lohnentwicklung als eine Hebamme. Unsere Kompetenzen werden nicht anerkannt.

Sie sprechen nun nur von Hebammen, oder gilt das auch für Pflegende?

Sie dürfen nicht vergessen: wir haben ein Recht zu verschreiben. Wir beraten autonom. Pflegende arbeiten bisher eher als Delegierte. Wir tragen aber auch viel Verantwortung.

Eine frei arbeitende Hebamme muss sich für eine Summe von 5 Millionen versichern. Wie kann man behaupten, dass wir Schaden in der Höhe von 5 Millionen anrichten können, aber am Ende unserer Karriere werden wir bezahlt wie irgendein Uniabgänger, der zum ersten Mal arbeitet. Ohne dabei zu erwähnen, dass dieser weder in der Nacht noch am Wochenende noch an Weihnachten arbeiten muss.

Das verstehe ich gut, vielen Dank!