»Diese Hoffnung wurde durch Verrat zerstört«

Aus junge welt Ausgabe vom 01.09.2021

Menschen im Norden Syriens wehren sich gegen türkische Besatzer. USA spielen doppeltes Spiel. Ein Gespräch mit Erdal Kobani

Interview: Nick Brauns und Andrea Stauffacher

Sie befinden sich derzeit an der Front nahe der Kleinstadt Ain Issa im Norden Syriens. Welche Bedeutung hat dieser Ort?

In diesem Gebiet konnten wir im Herbst 2019 dank der Allianz des Militärrats von Gire Spi mit den Syrischen Demokratischen Kräften, kurz SDK, die türkische Invasion stoppen und eine Barriere errichten. Seitdem verläuft hier die Frontlinie. Doch Ain Issa ist schon länger ein strategischer Ort. In der Zeit des Kampfes um Kobani 2014/15 wurden von hier aus die Angriffe des Daesch (der islamistischen Miliz IS, jW) organisiert.

Neben Ain Issa im Osten des türkischen Besatzungsgebietes richten sich die Angriffe der Türkei insbesondere gegen Til Temir westlich davon. Welche Absicht steckt dahinter?

Der Feind will diese beiden strategischen Orte aus der Hand der SDK erobern. Deshalb führt er mit Mörsern, Artillerie, Panzern, Kampfflugzeugen und Drohnen blutige Angriffe aus. Das Ziel ist es, so die Saat der Angst in den Herzen der Bevölkerung zu säen und die Menschen zu zwingen, die Städte zu verlassen, um dann selbst in die Region einzudringen und die Kontrolle zu übernehmen.

Haben sich die Bewohner von Ain Issa und Gire Spi während der Kämpfe 2014/2015 auch dem Widerstand gegen den Daesch in Kobani angeschlossen?

Dutzende von Gefallenen in der Schlacht um Kobani stammten aus Gire Spi, Ain Issa und Til Temir. Der Daesch hat hier einen großen Schock in der Gesellschaft verursacht. Die Menschen haben schnell die Wahrheit über diese Organisation verstanden. Tausende wurden innerhalb weniger Stunden zu Flüchtlingen. Viele haben Freunde und Familienmitglieder verloren. Die Menschen, deren Heimatorte vom Daesch besetzt wurden, haben ihre Waffen genommen und sich dem Widerstand in Kobani angeschlossen. Früher galt Kobani als kleine Stadt ohne Bedeutung. Doch während des Krieges haben sich alle, die sich gegen Diktatur und für Freiheit einsetzen, Kurden, Araber, Assyrer, Armenier, zusammengeschlossen. Dies ist die historische Rolle des Widerstands von Kobani.

Wie beurteilen Sie die Rolle der USA und Russlands, die mit Truppen in Nordsyrien präsent sind?

Die US-geführte Koalition leistete einige Hilfe für den Krieg gegen den Daesch – von der Schlacht um Kobani bis zum Sieg über den Daesch in Baghuz. Das können wir nicht leugnen. Doch während des Kampfes um Afrin und danach in der Schlacht von Serekaniye – also den türkischen Besatzungsoperationen in den Jahren 2018 und 2019 – hat diese Koalition ihre Augen geschlossen. Sie hat nichts getan, um die Menschen zu schützen oder uns zu helfen. Auch die Russen haben bei diesen Angriffen des türkischen Staates und seiner islamistischen Söldner keinen Finger gerührt. Ein Teil der Bevölkerung hatte bis dahin gehofft, dass die US-geführte Koalition sie davor schützen würde, zu Flüchtlingen zu werden. Doch diese Hoffnung wurde durch Verrat zerstört.

Inwiefern Verrat?

Heute hat die türkische Armee zwar nur einen kleinen Teil des syrischen Territoriums unter ihrer Kontrolle. Aber sie will ganz Nordsyrien von Afrin bis Derik besetzen. Und die Amerikaner haben diesem schmutzigen Plan zugestimmt. Sie haben nicht nur grünes Licht für den Einmarsch gegeben, sie haben auch die Waffen und die Technologie geliefert, mit denen unser Volk terrorisiert wird. Wir sehen jetzt deutlich, dass all diese Kräfte nicht hier sind, um uns zu helfen, sondern um ihr eigenes Spiel zu spielen. Nach unserem Sieg gegen den Daesch ist ein starker Glaube an unsere eigene Kraft im Volk gewachsen. Die imperialistischen Staaten können das nicht akzeptieren, sie wollen dieses Vertrauen in Zustimmung für sich und ihre Pläne umwandeln. Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, die Menschen davon zu überzeugen, ihr Land nicht zu verlassen. Der größte Widerstand, den ein freies Volk leisten kann, besteht darin, in seinem Land zu bleiben, anstatt zu Flüchtlingen zu werden, die ihr Zuhause und ihre Rechte aufgeben.