»Wir wollen gleichberechtigt zusammenleben«

Aus der junge Welt vom 9. Oktober 2021

Armenische Kämpfer treten für autonome Selbstverwaltungszone in Syrien ein. Ein Gespräch mit Antranig Hovhanessian und Andok Sarkissian Interview: Andrea Stauffacher und Nick Brauns

Antranig Hovhanessian ist Kommandant und Andok Sarkissian Kämpfer des Bataillons »Sehid Nubar Ozanyan« in Nordsyrien. Die nach einem im Kampf gegen den IS gefallenen armenischstämmigen Kommunisten benannte Einheit gehört zu den Syrisch-Demokratischen Kräften

Sie stehen gemeinsam mit Truppen anderer in Nordsyrien beheimateter ethnischer Gruppen an der Frontlinie von Till Tamir im Widerstand gegen Angriffe der türkischen Armee und ihrer dschihadistischen Söldner. Wie positionieren Sie sich in diesem Krieg?

Antranig Hovhanessian: Wir befinden uns derzeit in einem Dorf. Im Ort gegenüber sind die Banden stationiert, die uns mit Artillerie und Mörsern beschießen. Wir sind in erster Linie hier als Armenier, um unser Land zu schützen. Viele Menschen denken, dass hier nur Kurden kämpfen oder dass die Syrisch-Demokratischen Kräfte nur kurdisch seien. Aber es gibt hier auch Assyrer, Syriaken, Araber und Armenier. Alle haben sich zur Verteidigung des Landes zusammengeschlossen. Vor 106 Jahren fand der Völkermord an den Armeniern statt. Unsere Vorfahren waren damals gezwungen, bis hierher zu fliehen. Seitdem ist dieses Land auch ein Teil von uns, und wir sind ein Teil von ihm geworden. Ab 2018 haben wir begonnen, uns unter dem Banner des Märtyrers Nubar Ozanyan zu vereinen. Wir hatten uns zuerst als militärische Kraft aufgestellt, doch beginnen nun auch, uns als politischer Rat zu organisieren. Wir haben jetzt zivile Verantwortung im Einklang mit unseren militärischen Pflichten als Armenier.

Was meinen Sie mit ziviler Verantwortung?

A. H.: Vorher galten wir aufgrund von Assimilation als Kurden, Araber oder andere Nationalität. Aber jetzt sind wir wieder zu Armeniern geworden und treten für unser Land ein. Schon vor der Revolution lebten wir hier als verschiedene Nationen zusammen, trotz des durch den Staat geschürten sunnitisch-arabischen Chauvinismus. Doch seit dem Aufstieg der islamistischen Banden hat jeder feindliche Akteur versucht, uns gegeneinander zu hetzen. Wir werden nicht zulassen, dass der Feind Differenzen und Spaltung als Waffe gegen uns verwendet. Wir wissen, dass wir trotz unserer Unterschiede vereint sind und wollen gleichberechtigt zusammenleben. Die türkischen Truppen drohen uns alle zu töten, nicht nur die Armenier, sondern auch die Araber und Kurden. Dagegen organisieren wir die Geschwisterlichkeit der Nationen.

Was ist das Ziel der Türkei?

Andok Sarkissian: Die Türkei will unser Land besetzen. Die türkische Regierung hat den Traum von der Wiedererrichtung des Osmanischen Reiches, sie will zu ihrer eingebildeten Vergangenheit zurückkehren.

Und die Türkei bedient sich dabei der dschihadistischen Kräfte?

A. S.: Ich denke, dass der IS eine Maske des türkischen Staates war, der die Islamisten organisiert und für ihre eigenen Zwecke benutzt hat. Nachdem das gescheitert ist, haben sie ihre Maske abgenommen, und wir sehen das wahre Gesicht der Türkei, die jetzt unter ihrer eigenen Flagge und mit ihren eigenen Soldaten einmarschiert ist. Diese Soldaten wollen alles vergewaltigen– nicht nur die Frauen, sondern auch unsere Kultur, unser Land, unser Volk als Ganzes. Doch wir werden das nicht zulassen. Es gibt dabei keinen Unterschied zwischen mir als Armenier und den anderen Genossen, die an meiner Seite kämpfen.

Die Rojava-Revolution gilt auch als eine Revolution der Frauen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände genommen haben. Wie sieht das bei den Armeniern aus?

A. H.: In diesem Krieg nehmen auch unsere Genossinnen ihren Platz ein, sowohl im zivilen Rat als auch im Bataillon. Das ist sehr wichtig. Wir sollten diese Revolution fortsetzen, bei der jeder und jede beginnt, sich die eigenen Rechte zu sichern.

Haben Sie eine Botschaft an die Armenier in der Diaspora?

A. H.: Wir kämpfen hier mit Waffen, um unser Leben, unser Land, unsere Kultur und Sprache zu schützen, aber das reicht nicht aus. Die Freunde in Europa sollen mit dem Stift in der Hand und politisch gegen den türkischen Faschismus kämpfen. Sie sollten unsere Botschaft verbreiten und berichten, was hier passiert.