Ein Gespräch über Repression und Bewegung mit der Roten Hilfe im Info LoRa

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Die Rote Hilfe Schweiz hat eine lange Geschichte innerhalb der sozialen und politischen Bewegungen der Schweiz. Sie ist Teil der Roten Hilfe International, die sich 2000 neu konstituierte und sich auf die Geschichte der 1922 von der Komintern gegründeten RHI bezieht. Als Struktur unterstützt sie alle Revolutionär:innen, Aktivist:innen, Ausgebeutete und politisch Unterdrückte unterschiedlicher Art, die in ihrem Widerstand gegen Staat und Kapital von Repression betroffen sind. Weil genau das – die Repression – eine zentrale Auseinandersetzung der Kampagne Widerständige Frequenzen ist – sind wir mit einem der Aktivist:innen an einen Tisch gesessen.

Info Redaktion: Die Rote Hilfe ist an den revolutionären Aufbau angeschlossen. Mit eurem Radio-Programm Rote Welle seid ihr seit Beginn ein Teil des LoRa. In letzter Zeit waren wir oft zusammen auf der Strasse. Ist allgemein eine Intensivierung staatlicher Repression gegenüber linken Bewegungen zu verzeichnen? Anders gefragt: Stehen wir angesichts massiver Polizeigewalt gegen linke Mobilisierungen, dem neuen Antiterror-Gesetz (PMT) oder eindeutig politisierten Gerichtsverfahren wie bei Basel-Nazifrei vor einer Repressionswelle?

Rote Hilfe: Im Kernthema der Roten Hilfe – die konkrete Auseinandersetzung zwischen Repression und Bewegung, oder allgemeiner zwischen Konterrevolution und revolutionären Kräften – ist es eine permanente Erscheinung, dass man Gefahr läuft, ein Bild des Gegners zu zeichnen, welches nicht der Realität entspricht. Das heisst konkret, ihn entweder zu unterschätzen oder aber zu überschätzen. Das kann auf verschiedenen Ebenen gefährlich sein, für jede Bewegung. Auf einer praktischen Ebene kann die Überschätzung des Gegners dazu führen, angesichts seiner vermeintlichen Überlegenheit in eine passive Rolle zu geraten, in der jede Handlungsfähigkeit verloren geht. Dann verlieren wir die lebendigen Auseinandersetzungen darüber, wie es möglich ist, trotz schwierigen Umständen voranzukommen. 

Diese Fehleinschätzung des Gegenübers kann auch auf einer politisch-ideologischen Ebene Auswirkungen haben. Da erscheint der Staat auf einmal als autonom agierende, omnipotente Instanz mit Hang zu immer mehr Autoritarismus. Auch das ist aus verschiedenen Gründen höchst unvollständig, sei es, weil es den Kapitalismus letztlich aussen vor lässt, sei es, weil es die Widersprüche der Gesellschaft – wie etwa auch zwischen verschiedenen Kapitalfraktionen – ignoriert. Es ist also eine feine Linie, die wir fortlaufend suchen und überprüfen müssen, und in der es unabdingbar ist, die Ursachen hinter den repressiven Erscheinungen zu verstehen und nachzuvollziehen.

Ihr macht Antirepressions-Arbeit, begleitet politische Gerichtsverfahren und analysiert die gegenwärtige Lage. Was bedeutet das Gesagte im Bezug auf eure politisch-juristische Praxis?

Wir versuchen, diese Haltung als Leitlinie in unserer Arbeit beizubehalten. Von grossen Aktionen bis hin zu kleineren Antirep-Beratungen ist es stets wichtig, eine realistische Einschätzung zu machen, um darauf vorbereitet zu sein, was auf eine:n zukommen kann. Zugleich muss das Ganze auf eine ermächtigende Art und Weise gemacht werden, die dazu beiträgt, dass wir einerseits wissen, worauf wir uns einlassen, aber uns andererseits auch dazu ermutigt, diesen Weg zu gehen. Was wir sicher nicht wollen – und weshalb wir uns davor scheuen, den Gegner zu überschätzen – ist, den Leuten am Ende mehr Angst zu machen als sonst irgendwas.

Um auf die einleitende Fragen zurückzukommen: Anstatt von einer Repressionswelle zu sprechen, können wir die Perspektive auch wechseln und von einer Bewegungswelle sprechen. Diese Welle ist gezwungenermassen in Konfrontation mit dem Staat. Dabei werden Erkenntnisprozesse durch Erfahrungen ausgelöst, bei denen man vielleicht manchmal zu wenig darauf aufbaut, dass schon sehr viele andere Bewegungen sehr viele ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Konkreter: Oft hat man das Gefühl, das Rad neu zu erfinden, dabei rollt das Rad der sozialen Kämpfe in Konfrontation mit dem bürgerlichen Staat schon seit mehr als einem Jahrhundert.

Tatsächlich verzeichnen wir in den vergangenen Jahren einen intensivierten Kampfzyklus politischer und sozialer Widerstandsbewegungen. Sieht das die Rote Hilfe in dem Fall genauso?

Ja, das ist sicher so. Auf der einen Seite gibt es die organisierten Zusammenhänge mit einer gewissen Kontinuität als eine Art Rückgrat der Bewegung, auf der anderen Seite kommt es wellenartig immer wieder zu neuen Erscheinungen. In den letzten Jahren ist es klar der Frauenkampf und die feministische Bewegung sowie die Klima-Bewegung, welche die Intensität der politischen Auseinandersetzungen gesteigert haben. Das gibt Wechselwirkungen und Rückkopplungen, kurz: ein dialektisches Verhältnis zwischen dem Neuen und dem Alten.

Ein Beispiel dafür ist der 1. Mai in diesem Jahr in Zürich. Wenn wir schauen, wie dieser Kampftag stattfinden konnte, merkt man: Die Leute haben Erfahrung und Selbstvertrauen. Sie wissen, wie sie sich auf der Strasse bewegen sollen, was drin liegt und was nicht: Hier gibts einen Kessel, da hats eine Polizeisperre, darum verhalten wir uns so und so… Bewegungen tragen ja sowas wie einen kollektiven Erfahrungsrucksack mit sich. Das kann international oder historisch betrachtet werden. Man merkt, dass die erwähnten zwei Bewegungen – Frauenkampf und Klimakampf – Teil einer tendenziell sich steigernden Dynamik sind.

Zurück zur Repression. Von den Sozialistengesetzen über den rapiden Antikommunismus während des kalten Krieges bis hin zu den staatlichen Angriffen auf die Jugendbewegung der 80er: Zwar ist sie auch in der Schweiz ein Teil der Geschichte linker Bewegungen, trotzdem beobachten wir in letzter Zeit heftige Dinge wie den Massenkessel am Gegenprotest zum “Marsch fürs Läbe” oder die gewaltvolle Räumung des Bundesplatzes.

Es ist klar, dass die feministische Bewegung und die Klimabewegung – auch wenn es darin jeweils liberale Tendenzen gibt – radikale Ansätze in sich tragen. Sie haben das Potenzial, vieles grundsätzlich ins Wanken zu bringen. Wenn wir das mit der Klimakatastrophe und den patriarchalen Strukturen tatsächlich ernst nehmen, muss sich gewaltig was ändern. Logischerweise wehren sich die Hüter der bestehenden Verhältnisse mit Händen und Füssen gegen das, was da kommen könnte. Entsprechend prallen diese Bewegungen auf die Staatsgewalt, die ja nicht erst in diesem Moment des Aufpralls gewalttätig wird, sondern diese Gewalt längst vorgängig organisierte – die Polizeieinheiten kommen nicht aus dem nichts, die Wasserwerfer auch nicht, das Gummischrot und Tränengas ebensowenig. Aber in diesem Zusammenstoss wird die Gewalttätigkeit sehr konkret erlebt und dadurch fassbar. Was Rosa Luxemburg Anfang des 20. Jahrhunderts festhielt, gilt noch heute: Nur wer sich bewegt, spürt seine Fesseln. Diese Funktion des Staates und der Staatsgewalt ist in dem Sinne nichts Neues oder Erstaunliches, genau davon spricht etwa Lenin in Staat und Revolution

Kannst du das zusammenfassen? Was ist Lenins Kernthese?

Der bürgerliche Staat ist in letzter Instanz eine Gewaltorganisation, welche die Aufgabe hat, die Interessen des Kapitals durchzusetzen. Wenn wir von dieser Prämisse ausgehen und das als gegeben anschauen, lassen sich recht viele der Erscheinungen, die wir heute sehen, darin einordnen. 

Vorher haben wir den Polizeikessel am Gegenprotest vom “Marsch fürs Läbe” erwähnt. Massenhaft wurden Demonstrierende kontrolliert und verzeigt. Dabei kam es zu einer Vielzahl von De-anonymisierungen junger Aktivist:innen. Das ist doch ein direkter Angriff auf eine neue Bewegung? 

Dass es Kessel gibt und dass versucht wird, damit Leute zu de-anonymisieren, ist Teil der Strategie der Herrschenden. Sie erhoffen sich eine gewisse Wirkung, wenn sie auf junge Genoss:innen zielen. Hier sind wir als Bewegung gefordert, Gefässe zu schaffen, in denen wir Platz dafür finden, darüber zu sprechen. Denn es ist natürlich keinesfalls gewiss, dass ihre Zielsetzung aufgehen muss. Wir können im Sinne einer politischen Solidarität über die einzelnen Positionen im revolutionären Lager hinweg den Spiess umdrehen, sodass uns ihre Angriffe stützen, zusammenschweissen und dazu bringen, uns auf die wesentlichen Konfliktlinien zwischen ihnen und uns zu konzentrieren. So können wir als Bewegung gefestigt Sprünge in unserer Entwicklung machen. Dabei dürfen wir nicht in die Falle treten, dass wir uns bloss als die armen Opfer sehen und den Staat als das gemeine, gewalttätige Gegenüber moralisch denunzieren. Bleiben wir uns bewusst: Wir versuchen innerhalb der bestehenden Ordnung eine revolutionäre Perspektive zu entwickeln, die für genau diese Ordnung eine Gefahr darstellen muss, und vertagen diese Arbeit nicht auf morgen, sondern setzen schon heute an. Während den Protesten gegen den “Marsch fürs Läbe” 2019 etwa ging es ja tatsächlich rund: Brennende Container blockierten den Marsch der christlichen Fundamentalist:innen. Logisch reagiert die Polizei, die ein Gewaltmonopol zu verteidigen hat, auf das! 

In der Analyse müssen wir also unterscheiden zwischen repressiven Aktionen und Reaktionen, die dem gegenwärtigen Niveau der Konfrontation entsprechen auf der einen Seite, und jenen Entwicklungen, die tatsächlich auf eine Veränderung dieses Zustands hinwirken auf der anderen. Ein grosser Polizeikessel alleine muss noch kein Ausdruck einer grösseren Veränderung in diesen Verhältnissen sein. Ganz grundsätzlich reden wir davon, dass in der Schweiz eine Politik der präventiven Konterrevolution herrscht. Die Zielsetzung ist, nicht erst dann einzugreifen, wenn eine Gefahr real da ist, sondern bereits möglichst zu verhindern, dass sich eine derartige Gefahr überhaupt entwickelt. Zugleich versuchten die Herrschenden über lange Zeit zu leugnen, dass es in der Schweiz politische Konfrontationen gibt. Das heisst, sie versuchten lange, die politische Justiz als eine unpolitische Justiz darzustellen, die sich mit unpolitischer Kriminalität befasst. Entwicklungen wie etwa das PMT oder neue Anti-Terrorgesetze versuchen wir vor diesem Hintergrund zu verstehen: Verschiebt sich das Verhältnis und in welche Richtung?

Aber auch da müssen wir aufpassen, die Entwicklungen nicht zu überschätzen. Gewisses, was jetzt legalisiert wird, wurde schon vorher illegal gemacht. Wir sollten sowohl ihre Gesetze wie auch ihre Praxis anschauen und nicht das eine vom anderen trennen. Der bürgerliche Rechtsstaat war nicht gestern unpolitisch und heute plötzlich schon. Darum ist es uns wichtig, das Politische und das Juristische gemeinsam statt isoliert zu betrachten und nicht nur auf ihren Mund, sondern vor allem auch auf ihre Hände zu schauen. Wir sind Militante, das bestimmt unser Verständnis und Verhalten ihnen gegenüber.

Ok. Gehen wir einen Schritt zurück. Wieso erstarken politische Widerstandsbewegungen? Gibt es einen Kausalzusammenhang zwischen sich laufend zuspitzenden Widersprüchen innerhalb der Klassengesellschaft und Bewegungen, die auf den Plan treten, um sich dagegen zu organisieren?

Für uns ist die Weichenstellung Sozialismus oder Barbarei eine passende Beschreibung der aktuellen Zeit. Die kapitalistische Krise geht tief, vom “Ende der Geschichte” zugunsten des kapitalistischen Gesellschaftssystems spricht längst niemand mehr. Zu weitreichend und vielfältig ist das offenkundige Versagen dieses Systems, zu klar ist, dass dieses System die Zerstörung von Natur und Menschheit forciert… Das ist nicht etwas, was nur wir wissen, das weiss auch die Gegenseite, die sich angesichts der systematischen Krisen längst auf die Barbarei vorbereitet – die Festung Europa ist dafür ein Beispiel. Sie ist darauf ausgelegt, in der kommenden Verwüstung den globalen Norden mittels staatlichem Massenmord vor dem globalen Süden zu “schützen”. Es ist wichtig, diese Grosswetterlage in unserer Politik zu berücksichtigen, weil sich darin die Konflikte, aber auch die Potentiale von Morgen abzeichnen können. Wir müssen dem Kapitalismus eine andere Perspektive entgegenhalten, wenn wir überhaupt eine haben wollen, und wir bauen auf die reichhaltige Erfahrung der weltweiten Kämpfe, die immer wieder zeigen, dass aus ihren Trümmern Paradiese entstehen können.

Versuchen wir abschliessend nochmals zusammenzufassen: Was ist aus der Perspektive der Roten Hilfe eine radikale linke Art und Weise, über Repression zu sprechen?

Es sind drei Punkte, die unseren Blick leiten. Vielleicht lassen sich auch mehrere Punkte daraus ableiten, aber diese drei vorweg: Erstens müssen wir die Repression politisch begreifen. Das ist etwas, was einfach klingt, aber in der Praxis schwierig ist. Wir können immer wieder beobachten, dass es den Versuch gibt, eine Trennung des Juristischen und des Politischen zu machen. Natürlich, die linksliberalen Positionen sehen sich zum Teil als Verteidiger:innen des Rechtsstaats. Nur wenn wir konsequent sagen, dieser Rechtsstaat ist ein Klassenstaat, diese Rechtsjustiz ist eine Klassenjustiz, nur dann werden wir gewisse Phänomene – so denken wir zumindest – adäquat verstehen können. Wenn wir das als einen Teilbereich einbetten, als eine Arena der Auseinandersetzungen zwischen progressiv revolutionären und rückschrittlich konterrevolutionären Kräften, wird sich Einiges klären. So können wir kontextualisieren, in welchem Bereich wir uns überhaupt bewegen. Was sind die Einsätze unsererseits? Was steht auf dem Spiel? 

Aus dem abgeleitet müssen wir die Kontrahenten in diesem Spiel im Blick behalten. Der zweite Punkt wäre somit: Was ist der Staat, wer steht uns da gegenüber? Wenn wir vom Staat reden, müssen wir uns fragen – aus unserer antagonistischen Position heraus – welche Interessen vertritt er und weshalb agiert er, wie er agiert? Die direkte Konfrontation mit der Repression kann schnell sehr ungemütlich werden. Dann ist es wichtig, sich konsequent auf die eigene Position, die eigene Identität und Perspektive zu beziehen. Es hilft, die Funktion des Staates im Auge zu behalten um nicht in die paradoxe Position zu gelangen, in der man beginnt, Erwartungen an den Staat zu stellen, die keinerlei Grundlage haben. Was ist die Geschichte vom bürgerlichen Staat? Wie ist er vorgegangen in historischen Krisenmomenten? Es ist völlig klar, dass der Staat keinen moralischen Kompass hat, wenn es hart auf hart kommt, sondern profit- und herrschaftsorientiert handelt. Und dann sind alle Formen der Aufstandsbekämpfung denkbar und möglich. 

Und schliesslich der dritte Punkt: Was heisst das für unsere Kämpfe, wie bereiten wir uns vor? Wir müssen versuchen, strategisch und perspektivisch zu denken. Es ist wichtig, nicht das Gefühl zu haben, dass wir das Rad neu erfinden, sondern wir sollten versuchen, die Auseinandersetzung zu kontextualisieren. Wir müssen von historischen und internationalen Erfahrungen lernen, damit wir genauer verstehen, was ist und damit wir antizipieren können, was kommen kann. Und schliesslich müssen wir vor allem auch darüber reden können, was zu tun ist. Das sind für uns übergeordnete, wichtige Grundsätze. Alles andere führt in eine politische Sackgasse — also, einfach nicht auf einen revolutionären Weg.