Impfskepsis: Von unten links gegen oben rechts, immer!

Die Kritik an den COVID-Massnahmen äussert sich primär reaktionär statt emanzipativ und stellt die widerständige Linke damit vor Probleme, Spaltung stellt ein Problem dar. Was tun, wenn der hilfsbereite Arbeitskollege plötzlich Massnahmegegener ist und die Nachbarin von unten Angst vor der Impfung hat? Das gleiche wie immer!

(az) Für die Medien sind sie ein gefundenes Fressen – die anfänglich noch elitär als exzentrische Aluhut-Spinner verspotteten, dann als wütender Mob skandalisierten und mittlerweile als besorgte Bürger portierten Demonstrant_ innen gegen die COVID-Massnahmen. Die wöchentlichen reaktionären Demonstrationen können sich damit der medialen Plattform gewiss sein. Um diese reaktionären Demonstrationen soll es hier nicht gehen. Aber diese Demonstrationen werden sie teilweise auch zum impliziten Orientierungspunkt für proletarische Kolleg_innen, die gegenüber Impfungen oder den staatlichen Massnahmen skeptisch sind. Sie merken zwar, dass etwas nicht geheuer ist, wenn tausend Schweizer Fahnen wehen und die SVP die Anliegen ernst nimmt. Und sie gehen auch

nicht an Demos, wo sich Nazis offen tummeln können. Aber im Gespräch, wenn das unweigerliche Impf- oder Zertifikats-Thema in der Kaffee-Pause bei der Arbeit oder auf Social Media aufkommt, sind eben auch diese Kolleg_innen durch die reaktionären Demonstrationen, die dem Misstrauen am staatlichen Krisenmanagement ihren politischen Stempel aufdrücken, geprägt. Für Massnahmen-Skeptiker_innen gibt es momentan keine relevanten linken Bezugspunkte.

Das muss uns kümmern. Wenn linke Arbeitskolleg_innen, die sonst immer einen zuverlässig solidarischen und antiautoritären Reflex zeigen und nie nach unten treten, sich bei den COVID-Massnahmen plötzlich nicht mehr von Kommunist_innen verstanden fühlen – dann müssen wir eben versuchen, besser zu verstehen. Und diese Mühe, zu verstehen, hat wohl hauptsächlich einen praktischen Ursprung. Auf der Strasse ist es den Reaktionären gelungen, eine politische Polarisierung zwischen ihnen und dem Bundesrat zu vereinnahmen. Die revolutionäre Linke hingegen entwickelt richtigerweise eine antifaschistische Praxis gegen die Reaktionären auf der Strasse. Und man kann der revolutionären Linken nicht vorwerfen, dass wir keine eigenständige linke Praxis zu den staatlichen Massnahmen entwickelten. Aber die aktuelle Defensive der Linken und unsere Probleme eine stärkere politische Praxis zu entwickeln äussert sich trotzdem in unserer Analysefähigkeit.

Das Kind nicht mit dem Bad ausschütten

Natürlich ist das Thema der Impfverweigerung historisch belastet. Es war schon immer eines der ideologischen Steckenpferde esoterisch-religiöser und faschistischer Bewegungen und so waren diese Kräfte auch für die COVID-Pandemie diskursiv und organisatorisch gut aufgestellt. Es ist ihnen gelungen, die Skepsis gegenüber den staatlichen Massnahmen mit sozialdarwinistischer Rhetorik, mit Verschwörungstheorien und mit antiliberaler und antikommunistischer Ideologie zu verknüpfen.

Und diese politische Formierung ist ihnen gelungen, weil der Grossteil der sich bewegenden Skeptiker_innen tatsächlich schon kleinbürgerlich-reaktionäre Einstellungsmuster mit sich gebracht haben. Aber es gab und gibt eben auch die anderen. Historisch lässt sich nämlich auch eine Impfskepsis zurückverfolgen, die einem anti-autoritären Misstrauen unterer Klassen gegen die Obrigkeit entspringt und Ausdruck von Klassenverhältnissen ist. Sie speist sich aus der historischen Erfahrung, dass Herrschende den Anspruch erheben, biopolitisch Zugriff auf die Massen und deren Körper zu erhalten. Dass die Herrschenden historisch zur Kontrolle und Regulation der Leben(sweisen) der unteren Klassen und insbesondere der Frauen gegriffen haben, um die kapitalistische Ordnung aufrechtzuerhalten, kann mit Blick auf Zwangssterilisation und Eugenik nicht ignoriert werden. Wir dürfen also annehmen, dass die Impfskepsis mindestens teilweise auch in der proletarischen und insbesondere migrantischen und weiblichen Erfahrung mit staatlichen Eingriffen in ihre Lebensweisen gründet.

Berechtigtes Misstrauen

Der ganz konkrete Umgang des Bundesrates mit der Pandemie entkräftet diese historische Erfahrung nicht – im Gegenteil. Das staatliche Krisenmanagement führt allen vor Augen, dass es dem Bundesrat – und allen kapitalistischen Regierungen – nicht hauptsächlich um die Gesundheit der Bevölkerung, sondern um die Aufrechterhaltung der Profite geht. Sonst würde nicht das Gesundheitswesen mitten in der Pandemie abgebaut und gegen die Wand gefahren, während die Krankenkassen Gewinn machen. Und sonst würden die Impf-Patente und Profite der Pharmaindustrie nicht geschützt. Und am aktuellen Krisenmanagement des Bundes wurde ganz konkret sichtbar, welche Interessen in einem bürgerlichen Staat zur Geltung kommen – ja, so sichtbar, dass es eben auch breite Teile der Bevölkerung mitbekommen. Eine antikapitalistische Linke darf in so einer Situation nicht das Vertrauen in ebendiese Regierung einfordern, sondern sollte im Gegenteil agitativ aufgreifen, was sie vor der Pandemie schon immer thematisiert hat – dass im Kapitalismus der Profit vor den Menschen steht.

Das Problem mit der Wissenschaft

Die Schwierigkeit, sich als Linke zu positionieren, zeigt sich eher darin, dass viele Linke in der Pandemie dazu übergehen, Skeptiker_innen zu einem Vertrauen in die Wissenschaft verpflichten zu wollen. Das ist einerseits sicher richtig, wir haben einen positiven Bezug zur Wissenschaft und setzen auf Analyse. Dennoch ist es paradox, weil es vor Pandemie eigentlich ein kritischer Allgemeinplatz war, dass die Wissenschaft keine neutrale oder einfach objektive Instanz ist. Was geforscht wird, hängt immer von subjektiven oder politischen Interessen ab. Deshalb fliessen im Kapitalismus Forschungskapazitäten in die Kriegsindustrie und deshalb werden primär Krankheiten erforscht, die die Norm-Bevölkerung des Nordens betreffen. Und Wissenschaft kommt meistens auch nicht zu eindeutigen Ergebnissen. Das sind Probleme, mit denen wir uns auch in einer sozialistischen Gesellschaft auseinandersetzen müssten.

Wenn Wissenschaft im Kapitalismus geschieht, können wir sicher sein, dass die Produktion von Wissen und die Nutzung der Wissenschaft systematisch durch Kapitalinteressen beeinflusst ist. Das zeigt sich nur schon, wenn die Pharmaindustrie als Kapitalfraktion aufritt und also Profite aus der Krankheit der Menschen generieren will. Entsprechend fliesst Geld in solche Forschung, die ein Produkt garantiert, das teuer verkauft werden kann, statt in Forschung, die vielleicht allen hilft. So zögerte die Pharmaindustrie anfänglich trotz Pandemie, in Impfforschung gegen den Virus zu investieren, weil Impfungen zu wenig profitabel seien. Nur weil die Staaten dann diese Forschung subventionierten und gleichzeitig eine profitable Abnahme garantierten, hat sich die Pharmaindustrie erweicht, Impfungen zu entwickeln.

Und die ganzen Diskussionen über die Freigabe von Patenten und das Bereitstellen von Impfungen in armen Ländern zeigt nochmals, wie Wissenschaft kapitalistisch korrumpiert ist, der Schutz des geistigen Eigentums wichtiger als die Bedürfnisse der Weltbevölkerung. Zudem werden die Unsicherheiten, die wissenschaftliche Studien mit sich bringen, vom Bundesrat instrumentalisiert, je nachdem, was dieser gerade an Massnahmen umsetzen will. Als klar war, dass die Behörden ihre Maskendepots weg- gespart hatten, stellte der Bundesrat die Wirksamkeit von Masken wissenschaftlich in Frage. Kaum war das Maskenproblem logistisch gelöst, wurde auch deren Wirksamkeit wieder wissenschaftlich gestützt. Und es wäre sehr einfach wissenschaftlich begründbar, dass das Gesundheitswesen in der Pandemie ausstatt abgebaut werden sollte, das tut der Bundesrat aber keineswegs. Er setzt voll auf die Impfkarte, denn das lässt sich mit seiner wirtschaftlich neoliberalen Grundhaltung vereinbaren. Wissenschaft wird also auch instrumentalisiert, um politische oder ökonomische Interessen durchzusetzen. Dennoch sind natürlich die medizinischen Daten, die für die Wirksamkeit und Effizienz der Impfung sprechen, sehr glaubwürdig und beruhen auf einem riesigen Erfahrungsschatz von unglaublich vielen geimpften Personen. Das führt uns zum alten Problem der revolutionären Linken, dass wir Schwierigkeiten haben, die Komplexität zu reduzieren. Wissenschaft ist gut, aber sie kann missbraucht werden. Das lässt sich schlecht süffig vermitteln. Aber ist es überhaupt die Aufgabe der Linken, das im Allgemeinen berechtigte Misstrauen gegenüber der kapitalistischen und behördlichen Nutzung von Wissenschaft zu kritisieren?

Keine falsche Überheblichkeit

Linke und insbesondere Sozialist_innen verteidigen natürlich eine differenzierte Wissenschaftlichkeit gegenüber dem Irrationalismus. Aber in der aktuellen politischen Situation verschliesst die einfache Gegenüberstellung von «vernünftigen rationalen Impfwilligen» und «irrationalen Impfskeptiker_innen» eine proletarisch klassenkämpferische Agitation und öffnet den Weg in eine elitäre Sackgasse, schon alleine deshalb, weil ein akademischer Titel meist auch ein Hinweis auf die Klasse ist, in die wir geboren wurden. In der Schweiz studiert fast ausschliesslich die Bourgeoisie und das sog. Bildungsbürgertum. Zwar speist sich die Impfskepsis mehrheitlich aus Falschinformationen durch reaktionäre Impfgegner_innen und aus tatsächlich seltenen kritischen historischen und aktuellen Vorfällen. Aber das darf nicht zu in einer herablassenden Agitation führen, die Skeptiker_innen als dumm darstellt.

Menschen verarbeiten Informationen nie einfach «rational» und «richtig». Im Gegenteil nutzen wir immer Informationsverarbeitungstricks, die sich bewährt haben, damit wir uns zurechtfinden. Deshalb sind wir alle anfällig dafür, einzelne Vorfälle, von denen wir in unserem Umfeld oder durch die Medien gehört haben, zu stark zu verallgemeinern. Die Irrationalität vermag vielleicht bei Verschwörungstheoretiker_innen und Faschist_innen so stark ausgeprägt sein, dass sie eine politische Gefahr darstellt. Aber die moderate Impfskepsis ist keine Frage der Vernunft oder der Intelligenz – Impfskeptische und Impfwillige unterscheiden sich hier nicht. Es ist vielmehr eine Frage der Ängste und des Vertrauens gegenüber Staat und Medien. Begriffe wie «Schwurbler_innen» oder «Co-vidiot_innen» haben sich fälschlicherweise auch bei uns eingeschlichen. Wir sollten aber nicht in elitäre und bildungsbürgerliche Argumentationen abschweifen, sondern auf den Punkten aufbauen, die wir teilen und nicht auf jenen, die uns spalten. Wie bei anderen Themen auch. Immer von unten links gegen oben rechts. So lassen sich vielleicht auch wieder Gemeinsamkeiten mit massnahmekritischen Arbeitskolleg_innen finden, mit jenen, die keine Nazis sind, natürlich.

aus: aufbau 107