BE: Medienmitteilungen zum KillErdogan-Prozess

Medienmitteilung zum Prozesstag 1, 18. Januar

Heute begann am Berner Regionalgericht der Prozess um das „KillErdogan“ Transparent, das an einer Demonstration 2017 in Bern gezeigt wurde. Bereits eine Dreiviertelstunde vor Prozessbeginn fanden sich rund 80 Unterstützer:innen ein. Neben Kaffee und Gipfeli wurden verschiedene Reden gehalten. Darunter eine einer beschuldigten Person, wie auch eine des Kollektives „Basel Nazifrei“, das in Basel die Angeklagten eines antifaschistischen Protestes unterstützt.

Die Polizei reagierte auf die Solidaritätskundgebung nervös und verwies alle, die nicht unmittelbar zum Gerichtsprozess zugelassen waren, des Platzes. Ebenfalls wurden politische Transparente und eine Kunstinstallation durch die Polizei entwendet. Einzelne Personen wurden kontrolliert.

Im Gerichtssaal konnten neben acht akkreditierten Medienschaffenden zwölf Vertrauenspersonen der Beschuldigten Platz nehmen. Ein Antrag der Staatsanwaltschaft, nur vier Vertrauenspersonen zuzulassen, scheiterte.

In den Vorfragen stellten die Strafverteidiger Dominic Nellen und Bernard Rambert den Antrag, jene Mitarbeitende des Eidgenössischen Departementes für Äusseres (EDA) als Zeug:innen vorzuladen, die sich mindestens sechs Mal bei der Staatsanwaltschaft nach dem Stand des Verfahrens erkundigt hatten. Dieser Antrag wurde durch den Gerichtspräsidenten abgelehnt. „Es ist für das Verständnis dieses Gerichtsprozesses zentral, dass die Druckversuche der Türkei in dieser Sache offengelegt werden“, begründet Rechtsanwalt Dominic Nellen diesen Beweisantrag.

Unter den Medienschaffenden war auch ein Mitarbeiter der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu anwesend. Auffallend war, dass besagter angeblicher Journalist wenig bis keine Kenntnisse der Verhandlungssprache hatte und zunächst nicht bekannt gab, für welches Medium er arbeitet.

In der ersten Verhandlungspause gelang es den Beschuldigten und ihren Anwält:Innen, den Twitteraccount des Anadolu-Mitarbeiters ausfindig zu machen. Kurz vor Prozessbeginn bezeichnete er auf diesem die Beschuldigten als „Terroristen“. Bereits 2017 benutzte er diesen Begriff der türkischen Propaganda gegen die Opposition in seiner Berichterstattung. Rechtsanwalt Dominic Nellen stellte daraufhin einen Strafantrag wegen Ehrverletzung sowie das Gesuch, den Journalisten des Gerichtssaals zu verweisen. Rechtsanwalt Dominic Nellen: „Es kann nicht sein, dass ein Journalist in einem Gerichtssaal verbleiben darf, der die betroffenen Beschuldigten offen als Terroristen bezeichnet und sich damit wohl strafbar gemacht hat. Dies stellt ein Sicherheitsrisiko dar. Ich erwarte, dass das Gericht diesen Journalisten ab sofort von der Verhandlung ausschliesst.“

Für die Beschuldigten und deren Anwälte ist klar, dass durch diese Präsenz die Sicherheit der Beschuldigten, Zeug:innen und Vertrauenspersonen nicht gewährleistet ist. „Anadolu ist kein freies Medium, es ist ein Propagandainstrument Erdogans Diktatur. Wir nehmen die Anwesenheit von Schergen des türkischen Staates nicht hin!“, sagt eine beschuldigte Person.

Eine weitere beschuldigte Person führt aus: „Die Türkei selber sperrt kritische Journalist:innen ein. Dass ein Propagandist dieses Staates nun auf die Pressefreiheit pochen will, ist blanker Hohn.“

Keine fünf Minuten, nachdem der Antrag gestellt worden war, wurden sämtliche Tweets gelöscht – der Journalist bestritt in der Verhandlungspause, die dem Antrag folgte, dass es sich um seine Tweets handelte.

Der Rest des Prozesstages war von längeren Pausen geprägt, bis kurz vor drei Uhr klar war: Der Prozesstag wird abgebrochen, da zunächst über den Antrag einer Verweisung des Journalisten zu befinden sei. Der Gerichtspräsident verwies dabei auf den Konflikt zwischen der Unschuldsvermutung und der Pressefreiheit.

Damit hatte sich das Gericht heute noch nicht wie erwartet mit der Sichtweise der Beschuldigten sowie von Zeug:innen auseinanderzusetzen. Dafür mit der Frage, ob es einen Herrn, der die Unschuldsvermutung verletzt haben soll und durch seine Teilnahme am Prozess grundsätzlich in der Lage ist, heikle Informationen an Ankara weiterzugeben, in Verletzung der Pressefreiheit des Gerichtssaals verweisen werden solle. Die Frage des Schutzes von Beschuldigten und Zeug:innen vor allfälliger türkischer Einflussnahme und damit auch das Vorgehen gegen Andersdenkende von türkischer Seite ist also im Gerichtssaal angekommen.

Der Prozess soll morgen Mittwoch weitergeführt werden, mit einem Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt gerechnet.

Medienmitteilung zum Prozesstag 2

Auch am zweiten Prozesstag fiel kein Urteil im Verfahren um das „KillErdogan“-Transparent.

Begonnen wurde der Prozess mit der Entscheidung um den Verweis des Mitarbeiters der staatlichen türkischen Nachrichtenagentur Anadolu. Das Gericht verzichtete darauf, ihn aus dem Prozess auszuschliessen, verwarnte ihn jedoch. Damit stellte das Gericht immerhin die Verletzung der Unschuldsvermutung durch den Anadolu Mitarbeiters fest. Kein Gehör fand hingegen die Befürchtung der Prozessteilnehmenden, über sie und die Zeugen könnte Informationen verbreitet werden, mittels welcher sie von der Öffentlichkeit oder dem türkischen Staat identifiziert werden könnten.

Die Beschuldigten entschlossen sich vorerst dagegen, eine Einsprache zu erheben. „Es wäre in unserer Macht gestanden, zu entscheiden, ob der Prozess weitergeführt werden kann. Doch wir wollten diesen Prozesstag zu unseren Gunsten und für Inhalte nutzen.“ Sagte eine der beschuldigten Personen mit Verweis auf den Umstand, dass ein unmittelbarer Einspruch gegen die Verfügung zu einem erneuten Abbruch des Verhandlungstages geführt haben dürfte.

Somit konnte die erste Einvernahme stattfinden. Ein:e Zeug:in schilderte äusserst eindrücklich, wie sie:er Erdogans Gewalt am eigenen Leib erleiden musste und das Attentat eines Islamisten in Suruc mit bleibenden Schäden überlebt hat. 2015 hatte ein Selbstmordattentäter eine Kundgebung sozialistischer Jugendlicher angegriffen, die den Wiederaufbau der syrisch-kurdischen Stadt Kobane unterstützen wollten. Dabei unterstrich sie:er die Mittäterschaft Erdogans am Anschlag. Krankenwagen wurden durch die türkische Polizei blockiert, die überlebenden durch die Polizei angegriffen. Es unterstreicht die Einflussnahme von Erdogans Regime, dass Verwandte der vernommenen Person in der Türkei durch die Polizei unmittelbar nach einem Tweet mit Prozessbezug des:der Zeug:in schikaniert worden sind.

Der Gerichtspräsident wollte die Einvernahme mehrmals abbrechen, weil die Aussagen nichts zu den vorgeworfenen Delikten beitragen könne. Ein:e Anwält:In intervenierte mit Verweis auf den Zeug:innenantrag seitens der Vertretung gegenüber der Vorgängerin des Gerichtspräsidenten. Somit musste sich der Richter geschlagen geben und die weitere Befragung zulassen, an welcher die Gräueltaten Erdogans klar benannt wurden. Die Staatsanwaltschaft zeigte maximale Respektlosigkeit indem sie quadrate auf karierten Blättern ausmalte, statt den relevanten Ausführungen gebührende Aufmerksamkeit zu schenken.

Ein Beschuldigter stellt klar: „Die Machenschaften Erdogans in der Türkei sind zentral für allfällige Motive für die Teilnahme an der besagten Demonstration. Dies ist vor allem deswegen relevant, weil die türkische Regierung offensichtlich in der Schweiz Einfluss auf die Justiz vornimmt!“

Die zweite Zeugenperson konnte durch ihre Expertise in der visuellen Kommunikation die Anklage inhaltlich entkräften.

Die erste beschuldigte Person konnte in ihre Einvernahme nutzen, um auf die politische Dringlichkeit der eigenen Anliegen aufmerksam zu machen. Gleich zu Beginn der Befragung hat die Beschuldigte Person zu einer Schweigeminute aufgerufen. Diese Schweigeminute sollte allen durch Erdogans Regime Getöteten und die gefallenen Widerstandskämpfer:innen ehren. Die Person hat weiter auf die 100’000enden politischen Gefangenen, den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit Giftgas in Nord-Ost-Syrien und die Repression gegen kurdische Künstler:innen aufmerksam gemacht. Die ganze Vernehmung wurde immer wieder durch den Gerichtspräsident unterbrochen, wieder weil anscheinend der Kontext fehle.

Die zweite beschuldigte Person versuchte die ökologische Zerstörung der Türkei durch Erdogan aufzuzeigen. Der Gerichtspräsident unterbrach die beschuldigte Person unvermittelt, worauf diese auf weitere Aussagen verzichtete. Bereits zuvor verweigerte sie die Angabe der Daten zur eigenen Person. „Da sich eine Person eines faschistischen Propagandainstitutes [gemeint war der Mitarbeiter von Anadolu] im Raum befindet, werde ich keine Details zu meiner Person preisgeben“ sagte sie. Der dritte Beschuldigte verzichtetet aufgrund dieser unzumutbaren Bedingungen der Einvernahmen komplett auf jegliche Aussagen.

Die letzte beschuldigte Person bezog sich wieder auf die Einflussnahme durch das EDA sowie der Türkei. Weiter führte die Person aus, dass das EDA respektive die Unterabteilung „Direktion Völkerrecht“ einem faschistischen, repressiven und brutalen Staat hofiert. Grundsätzlichen Zielen dieser Abteilung, wie der Beseitigung von Folter und Frauendiskriminierung, widerspricht die Zusammenarbeit mit der Türkei fundamental. „Erdogan wollte pädophile Vergewaltiger durch eine Zwangsheirat straffrei davonkommen lassen. Mit solchen Staaten arbeitet das EDA so eng zusammen, dass es sich genötigt sah, in einem Schweizer Strafverfahren zu intervenieren.“ So die beschuldigte Person.

Der Antrag seitens der Verteidigung, die EDA-Beamt:innen vorzuladen, weil fast ausnahmslos alle Beschuldigten und anwaltschaftlichen Vertretungen die Verstrickungen aufzeigten und thematisiert haben, wurde durch den Gerichtspräsident ganz am Ende des Beweismittelverfahrens zum wiederholten Male abgelehnt.

Somit endet ein ereignisreicher Prozesstag, wobei weitere 2 Prozesstage folgen werden. Einen ganzen Tag reserviert das Gericht für die Plädoyers der Parteien, einen weiteren halben Tag räumt es für die Urteilseröffnung ein.

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