…bis das Geschlecht keine Rolle mehr spielt

Im Kapitalismus ist die patriarchale bürgerliche Kleinfamilie als Norm festgesetzt. Die darin angelegte geschlechtsspezifische Arbeitsteilung ist für die Reproduktion der Arbeitskraft zentral, die ideologische Verteidigung der Familie ist seitens der Herrschenden entsprechend aggressiv: Teil davon ist die politische und materielle Unterdrückung von LGBTIQ+Personen.

(fk) In unserer Gesellschaft findet eine Heteronormierung statt, d.h. die Heterosexualität wird als das gesellschaftlich «Normale» festgeschrieben. Grund dafür ist die Durchsetzung der Kleinfamilie als Institution zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft. Dies ist die materielle Grundlage der politischen und materiellen Unterdrückung von gleichgeschlechtlicher Liebe im Kapitalismus. Damit ist auch Homophobie ein Erzeugnis des Kapitalismus, die auf den Zusammenhang von Kapitalverhältnis, patriarchalen Strukturen und Kleinfamilie zurückzuführen ist. Es wäre verkürzt, jede reaktionäre Hetze direkt auf materielle Gründe, also das kapitalistische Produktionsverhältnis

zurückzuführen, nichtsdestotrotz finden wir den Blick auf die gesellschaftlichen Strukturen und Produktionsverhältnisse unabdingbar, um solche Phänomene zu verstehen.

John D’Emilio, marxistischer Theoretiker, liefert in seinem Essay «Capitalism and Gay Identity» im Jahre 1980 eine materialistische Analyse über die Verbindung zwischen der Entstehung der schwulen/lesbischen Identität und der Veränderung der Familie durch die Entstehung der kapitalistischen Produktion. Im 19. Jahrhundert war die vorherrschende Familienform in den USA – wie auch in weiten Teilen Europas – eine selbstversorgende unabhängige Produktionseinheit, in der zwar eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung vorlag, jedoch Hausund Familienarbeit von der Produktion von Lebensmittel und Güter noch kaum getrennt waren. Die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise zerstört diese ökonomisch unabhängige Familienstruktur, die Lohnarbeit setzt sich als dominante Arbeitsweise durch und mit ihr entstand die bürgerliche Kleinfamilie. Diese zeichnet sich durch die scharfe, geschlechtsspezifische Trennung der

nun ins private abgeschobene, unbezahlten Reproduktionsarbeit der Frauen einerseits und der in Fabriken kollektivierten Produktion andererseits aus. Diese doppelte Freiheit des/der Lohnarbeiter_in postuliert D’Emilio als materielle Voraussetzung für eine schwule/lesbische Identität. Er unterscheidet hier von homosexuellem Begehren, dessen Existenz schon in früheren Epochen beschrieben wurde. «Erst als die Individuen begannen, ihren Lebensunterhalt durch Lohnarbeit zu verdienen, anstatt als Teil einer voneinander abhängigen Familieneinheit, war es für homosexuelles Begehren möglich, sich zu einer persönlichen Identität zu verdichten – einer Identität, die auf der Fähigkeit beruht, ausserhalb der heterosexuellen Familie zu bleiben und eine eigene Identität aufzubauen.»

Homosexualität wird in weiten Teilen der Welt bis heute kriminalisiert und verfolgt. Doch auch dort, wo die offene Verfolgung und gesellschaftliche Diskriminierung zurückgedrängt wurden, sind wir weit von einer Befreiung der gleichgeschlechtlichen Beziehungen entfernt. Die «Konversionstherapie», die auf verschiedene Weise versucht, homosexuelle Menschen zu «heilen», ist beispielsweise in der Schweiz bis heute nicht verboten und es wird geschätzt, dass schweizweit rund 14000 Menschen Opfer dieser traumatisierenden «Therapien» geworden sind.

In anderen Bereichen werden die Rechte von homosexuellen Menschen ausgebaut, aktuelles Beispiel ist die «Ehe für alle», die im September 2021 mit 64% JA-Stimmen angenommen wurde. Und auch wenn wir Ehe als Institution ablehnen, so begrüssen wir trotzdem die «Ehe für alle», damit wenigstens auf juristischer Ebene gleiche Rechte geschaffen werden, dennoch bleibt es ein Zwang, sich in das Korsett der Ehe und Kleinfamilie zu zwängen und sich den Normen anzupassen. Dass IKEA, ein milliardenschweres Unternehmen an dessen Spitze die beiden reichsten Schweizer stehen, eine eigene Kampagne zur Unterstützung der «Ehe für alle» initiierte, macht zusätzlich stutzig. «IKEA ist ein inklusives Unternehmen» schreiben sie als Einleitung und meinen das wohl ganz ernst: Solange sie Mehrwert abschöpfen können, ist ihnen egal, wer mit wem im Ehebett – am besten bei IKEA gekauft! – schläft. Wie auch beim Frauenkampf historisch und aktuell immer wieder geschehen, werden die Kämpfe der LGBTIQ+Personen1 in den Kapitalismus integriert und abgeschwächt, wodurch jegliches revolutionäre Potential verloren geht.

Transfeindlichkeit im Ausweisdokument

Auch wenn sich beobachten lässt, wie queere Lebensentwürfe vermehrt integriert und zuweilen ganz profitabel vermarktet werden, entstehen zugleich ständig reaktionäre Gegenbewegungen für die Einschränkung der Rechte von LGBTIQ+Personen, wie beispielsweise in Ungarn, Polen und Russland. Diese dienen als Bollwerk der bürgerlichen Ordnung und verteidigen die Kleinfamilie, die als Produzentin der Ware Arbeitskraft im Kapitalismus eine zentrale Funktion innehat.

Am 30. März 2020 verabschiedete das ungarische Parlament ein Gesetz, das dem Premierminister Orban die Befugnis verleiht, per Dekret zu regieren – zeitlich unlimitiert und eigentlich als Massnahme zur Bewältigung der Covid-19-Krise gedacht. Eine der ersten Handlungen der Regierung war jedoch was ganz anderes: Sie erliess einen Gesetzesentwurf, der vorsieht, dass bei Ausweisen statt «Geschlecht» nun neu «Geburtsgeschlecht» steht. Diese scheinbar geringfügige Änderung hat massive Folgen für trans Personen. Sie bedeutet, dass das einmal eingetragene Geburtsgeschlecht in keiner Geburtsurkunde und keinem Ausweisdokument mehr geändert werden kann.

Seitens der Herrschenden beobachten wir einerseits die Integration von Errungenschaften und andererseits permanente homound transfeindliche Angriffe. John D’Emilio fragte schon 1980: «Wie kommt es, dass der Kapitalismus, dessen Struktur die Entstehung einer schwulen Identität und die Bildung städtischer Schwulengemeinschaften ermöglicht hat, nicht in der Lage zu sein scheint, Schwule und Lesben in seiner Mitte zu akzeptieren? Warum scheinen sich Heterosexismus und Homophobie hartnäckig zu halten?» Und er liefert eine mögliche Antwort gleich selbst: «In materieller Hinsicht schwächt der Kapitalismus die Bande, die Familien einst zusammenhielten, so dass ihre Mitglieder eine wachsende Instabilität an dem Ort erleben, an dem sie Glück und emotionale Sicherheit erwartet haben. Während der Kapitalismus also dem Familienleben die materielle Grundlage entzogen hat, sind Lesben, Schwule und heterosexuelle Feministinnen zu Sündenböcken für die soziale Instabilität des Systems geworden». Oder anders gesagt: Das Ideal der patriarchalen Familie wird immer mehr durch Widersprüche destabilisiert und die traditionellen Rollen haben sich durch Flexibilisierung, Prekarisierung und den steigenden Anteil der Frauen in die Lohnarbeit teilweise stark verändert. Doch solange die bürgerliche Familie Garantin für eine günstige Reproduktion der Arbeitskraft ist – auch wenn sie unserer Meinung längst auf den Müllhaufen der Geschichte gehört – wird innerhalb des Kapitalismus daran festgehalten und alles von ihr Abweichende angegriffen. So gesehen sind proletarische Frauenkämpfe und Kämpfe der LGBTIQ+Personen zwei Seiten der gleichen Medaille und müssen auch gemeinsam geführt werden, wenn wir denn erfolgreich sein wollen.

Anpassung an die Norm

Die Unterdrückung von trans und intergeschlechtlichen Menschen folgt also denselben Mustern von Norm und Zwang. Das binäre Geschlechtersystem soll die Rollenzuschreibungen und Arbeitsteilungen, den entsprechenden Platz für Frau und Mann in der Gesellschaft

garantieren und reproduzieren. Intersexuelle und trans Menschen passen hier nicht ins Schema. Die bürgerliche Gesellschaft reagiert mit brutaler Anpassung: Intersexuellen Menschen wird ihr biologisches Geschlecht per Operation zwangsweise anpasst: In der Schweiz ist dies immer noch eine gängige Praxis, sogar die UNO hat die Schweiz deswegen bereits vier Mal gerügt. Umgekehrt ist es für trans Menschen weltweit oft schwierig bis unmöglich den Geschlechtseintrag wechseln zu lassen. Bis vor 10 Jahren war in der Schweiz eine Unterbindung dazu nötig und erst seit Januar 2022 können trans Menschen in der Schweiz ohne psychiatrische Bestätigung den Geschlechtseintrag ändern.

Diese Rechte sind ebenfalls Resultat von Kämpfen, denn die Gesundheitspolitik rund um trans Menschen stellt nicht das Wohl dieser Personen ins Zentrum. Wie Shon Faye, eine sozialistische Journalistin aus England, in ihrem Buch «The Transgender Issue» treffend formuliert: «Die gesamte Infrastruktur des Transgender-Gesundheitswesens entstand im Laufe des zwanzigsten Jahrhunderts unter dem Schirm der stark patriarchal geprägten Psychiatrie. Institutionell verstanden Ärzte die Hormonbehandlung und die Chirurgie als ein Mittel, um die Parameter dessen zu kontrollieren, was sie für eine akzeptable trans Person hielten und was nicht und, in logischer Erweiterung, die Grenzen des Geschlechts an sich. Als die medizinische Transition als Technologie entwickelt wurde, bestand ihr primärer Zweck nicht darin, dem/der trans Patient_in zu helfen, sondern die Geschlechtsvarianz in der Gesellschaft zu kontrollieren und zu managen, während die Geschlechterbinarität intakt gelassen wird.»

Einheit im Kampf gegen den Kapitalismus

Die Erscheinung des Ausgrenzens lässt sich an Statistiken zur Obdachlosigkeit ablesen. Bis heute liegt der Anteil von LGBTIQ+Menschen unter obdachlosen Jugendlichen bspw. in den USA, Kanada und England bei 20-40% und damit überdurchschnittlich hoch. Intersexuelle und trans Menschen stehen zudem besonders häufig finanziell unter Druck und sind besonders häufig Diskriminierungen im Job und gewalttätigen Übergriffen ausgesetzt. Mittlerweile sind kapitalistische Staaten zwar unter dem Druck der LGBTIQ+Bewegungen dazu übergegangen, eine dritte Geschlechtskategorie «divers» einzuführen, die man sich auf dem Personalausweis eintragen lassen kann. Universitäten und grosse Unternehmen haben ebenfalls schon auf Gender-Diversity umgestellt. Ähnlich wie bei der Frage der gleichgeschlechtlichen Liebesbeziehungen ändert das alles jedoch nichts daran, dass der patriarchale Kapitalismus weiterhin nur gesellschaftliche Funktionen für Frauen und Männer bereithält und damit nicht in der Lage ist, intersexuellen und trans Menschen gesellschaftlich irgendeine Perspektive zu bieten – ausser dem Label «sonstige». Auf dieser Basis kann auch die materielle und politische Unterdrückung von intersexuellen und trans Menschen nicht überwunden werden.

Homound Transfeindlichkeit dienen der Aufrechterhaltung patriarchaler Strukturen und verhindern damit

die Einheit der Arbeiter_innenklasse im Kampf gegen das kapitalistische System. Es ist unsere Aufgabe, Homound Transfeindlichkeit zu bekämpfen – sowohl wenn sie von reaktionären Organisationen gezielt gesät werden, als auch wenn sie innerhalb unserer eigenen Reihen und unserer Klasse auftreten. Dabei sollten wir insbesondere an die proletarischen und revolutionären Traditionen der LGBTIQ+Bewegung anknüpfen und darauf hinwirken, dass wir gemeinsam den Kampf zur Überwindung des Kapitalismus führen.

Differenziertes Verständnis von Geschlecht

Ökonomisch, strukturell, kulturell und psychologisch ist die Gesellschaft zweigeschlechtlich geprägt, jedoch wird die tatsächliche Komplexität hinsichtlich des Geschlechts, der Biologie inbegriffen, zunehmend wahrgenommen und anerkannt. Als Kommunist_innen gehen wir davon aus, dass eine materialistische Position zu Geschlecht weder ausschliesslich im Bereich des Biologismus, im Sinne einer Reduktion von Geschlecht auf biologische Tatsachen, noch der rein subjektiven Identitätszuschreibung angesiedelt werden kann. Es gibt für uns keine Natürlichkeit ausserhalb soziohistorischer Verhältnisse. Es gibt keine «ursprüngliche Form von Sexualität/Geschlecht», Geschlecht ist und war immer Ausdruck der gesellschaftlichen Bedingungen. Wir sehen Geschlechtlichkeit im Wesentlichen als soziale Realität und als Ausdruck der herrschenden ökonomischen und sozialen Verhältnisse.

Deshalb geht es uns in der Essenz unserer Position für eine kommunistische Perspektive um die Schaffung von Bedingungen, die eine vielfältige und selbstbestimmte Gestaltung von Geschlecht ermöglichen. Dazu nötig sind aber weit mehr als individuelle Sprengungen der Normen, vielmehr geht es um die Veränderung jener gesellschaftlichen Verhältnisse, die zur bestehenden zwanghaften Zweigeschlechtlichkeit führen. Es geht nicht um eine Negierung von Geschlecht, sondern um die Abschaffung der Hierarchisierung und Normierung von Geschlecht, um die Abschaffung der patriarchalen Herrschaft, um die Abschaffung der damit verbundenen Arbeitsteilungen und Wertungen, der Heteronormativität und bürgerlichen Kleinfamilie als Norm oder Zwang. Wir wollen, dass Geschlecht keine Rolle mehr spielt.

1 LGBTIQ+ Personen: steht auf englisch für lesbian, gay, bisexual, trans, intersexual und queer (das + signalisiert, dass die Aufzählung unvollständig ist)

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