Der Zürcher Stadtrat will mit «Tagesschule 2025» flächendeckend die Tagesschule einführen. Das wird auf Kosten des Betreuungspersonals und der Qualität gehen, wenn sich kein Widerstand formiert.
(az) Die Idee hört sich gut an und entspricht einer alten Forderung progressiver Lehrkräfte. Mit (Ganz-)Tagesschulen könnte die Bildungslandschaft gerechter werden, weil damit die ausserschulische Betreuung – heute Horte – ausgebaut würde und entsprechend alle Kinder obligatorisch eine durchgängige pädagogische Aufsicht mit Betreuung, Mittagstisch und Aufgabenhilfe über den ganzen Tag hinweg geniessen könnten. Das wäre vor allem für proletarische Familien eine Unterstützung. Nicht nur könnten proletarischer Eltern besser tagsüber einer Lohnarbeit nachgehen, sondern die Kinder könnten auch von einem schulischen Betreuungsund Bildungsangebot profitieren. So wird die Tagesschule auch als neue pädagogische Chance beworben, bei der Schule von einem Lernzu einem ganzheitlich betreuten Lebensraum wird, weil Betreuung und Bildung stärker ineinandergreifen würden und also das Betreuungsund das Lehrpersonal enger miteinander kooperieren würden. Gut strukturierte Tagesschulen, die mit genügend Ressourcen ausgestattet sind, bedeuten Ausbau der kollektiven Care-Arbeit. Im konkreten Fall leider jedoch bleibt das reine Theorie.
Mit progressiven Versprechungen hat denn auch der Zürcher Stadtrat das Projekt «Tagesschule 2025» beworben. Nur, die Idee der Tagesschule nimmt im Projekt «Tagesschule 2025» ganz andere Züge an. Spricht man nämlich mit Sozialpädagog_innen oder Fachpersonen Betreuung aus einer der 24 Pilot-Tagesschulen, dann scheint vom Schein einer Aufwertung der ausserschulischen Betreuung wenig übrig zu bleiben. Und weitet man den Blick auf die Horte – also die zukünftigen Tagesschulen -, dann trifft man momentan auf Wut, Resignation, Burnout und Kündigungen. Das Projekt «Tagesschule 2025» offenbart sich in der Realität als Angriff auf die Arbeitsbedingungen der Betreuenden und als Dequalifizierung der Betreuungsarbeit. Und dagegen beginnen sich neben der Gewerkschaft VPOD nun auch Basisorganisationen wie das Forum für kritische Soziale Arbeit (KRISO), die kritischen Lehrpersonen (KriLP) und die Trotzphase zu wehren.
Avenir Suisse dankt
Tatsächlich verflüchtigen sich die pädagogischen Ansprüche mit einem Blick auf die ausformulierten Ziele des Projekts «Tagesschule 2025» und es treten vielmehr handfeste ökonomische Interessen hervor. So verfolgt das Projekt offiziell drei Ziele: Verbesserung der Bildungschancen, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und – siehe da – optimierten Wirtschaftlichkeit von Unterricht und Betreuung. Und wie es so ist, bemüht sich der Stadtrat um die strenge und konsequente Umsetzung der letzten zwei Ziele, während das Erreichen von Chancengleichheit sowieso nicht wirklich überprüft werden kann. In der tatsächlichen Umsetzung nimmt das Projekt «Tagesschule 2025» damit – oh Wunder – genau die Form an, die der ultra-neoliberale Think Tank Avenir Suisse schon 2005 unter dem Titel «Einmaleins der Tagesschule» in einem direkt an Gemeindeund Schulbehörden gerichteten «Leitfaden» für die Durchsetzung der Tagesschule nahegelegt hat: Eine Tagesschule, die weibliche Arbeitskräfte für die Volkswirtschaft freisetzt und zukünftig dem Fachkräftemangel für das Kapital entgegenwirken soll. Und natürlich müssen diese erhöhten Investitionen in das Humankapital trotzdem möglichst effizient und sparsam eingesetzt werden.
Industrielle Kantinenabfertigung
Dass es dem Stadtrat nicht um eine Aufwertung der Betreuung geht, hat sich dann in den letzten Jahren deutlich gezeigt. Um das Projekt umzusetzen, wurden seit 2016 24 Schulen für einen Pilot in Tagesschulen umgewandelt, allerdings ohne jegliche Mitsprache der betreuenden Fachpersonen, wie sie die Gewerkschaft VPOD schon lange verlangt. Es zeigt sich nun, dass die Arbeitsbedingungen und die Betreuungsqualität in den bisherigen Tagesschulen teilweise alarmierend sind. Allem voran müssen plötzlich alle Kinder über Mittag «betreut» werden. Und weil das nur schon technisch und räumlich nicht möglich ist, essen die Kinder klassenweise gestaffelt. So verkommt der Mittag zu einer industriellen Kantinenabfertigung. Von einer individuellen bedürfnisorientierten Betreuung oder von ruhigen Rückzugsorten für die Kinder, wie das momentan in manchen Horten noch möglich ist, ist damit nur zu träumen. Und für die Betreuenden bedeutet das eine enorme punktuelle Belastung über Mittag. Das wiederum lösen die Schulen nun damit, dass sie für diese Mittagsspitzenzeiten Assistenzen mit geringerer fachlichen Ausbildung täglich für ein paar Stunden anstellen. So schleichen völlig verzettelte kleine und schlecht bezahlte Arbeitspensen mit enormer Arbeitsintensität in den Betreuungsberuf ein. Das führt wiederum schon jetzt zu einer Veränderung des Qualifikationsmixes beim Betreuungspersonal. Wenn man sich also fragt, wie bei einem generellen Betreuungsausbau effizient gewirtschaftet werden kann, dann ist die Antwort naheliengend: Nur Qualitätseinbussen und Druck auf die Arbeitsbedingungen können eine kostengünstige Betreuung garantieren. Selbst die von der Stadt in Auftrag gegebene Evaluation der Pilot-Projekte bestätigt diese Gefahren. Und dies, obwohl diese Pilot-Projekte mehr Ressourcen erhalten haben, als für die wirklichen zukünftigen Tagesschulen eingeplant ist . Trotzdem wird die Kritik der Betreuenden von den verantwortlichen Verwaltungseinheiten kaltschnäuzig abgetan, vertröstet und vom Stadtrat gänzlich ignoriert. Das Anrennen gegen Wände führt deshalb – ähnlich wie in der Pflege – dazu, dass Betreuende den Beruf verlassen.
Autoritäre Durchsetzung nach dem Bilderbuch
Die Instrumentalisierung der progressiven Idee einer Tagesschule für dieses neoliberale Sparprojekt erweist dem Stadtrat natürlich seine Dienste. So hat das Projekt schon früh die Unterstützung aller parlamentarischen Parteien (ausser der SVP) genossen und auch die Gewerkschaft VPOD konnte sich trotz Kritik von der Basis nicht dazu durchringen, das Projekt in Abstimmungen abzulehnen. Der Widerstand ist aber auch durch das Vorpreschen des Stadtrates erschwert, der offensiv auch diese „Reform“ so durchdrückt, wie wir sie auch an anderen Orten sehen, wenn die Chefetage Arbeitsbedingungen angreift.
So hat der zuständige Stadtrat Filippo Leutenegger das Personal in den Schulen stets überrollt und behält so die Initiative in den Händen. Im April 2021 hat er zum Beispiel alle überrascht mit dem definitiven Plan der Einführung des Projekts «Tagesschule 2025» und den VPOD damit vor vollendete Tatsachen gestellt. Die schon länger vorgelegte Forderung des VPOD nach Mitbestimmung durch die Angestellten hatte er schlichtweg ignoriert. Und auch jetzt im März gab Leutenegger nochmals einen drauf, indem er die eigentlich auf Herbst geplante Abstimmung über die definitive Einführung der Tagesschule 2025 just auf den Juli vorverschoben hat. Damit hat er alle vor den Kopf gestossen, die seit Monaten und Jahren auf Probleme hingewiesen haben, und erhöht so ständig den Zeitdruck. Das erschwert es den betroffenen Angestellten sich überhaupt zu organisieren und eine Position zu entwickeln.
Betreuungsalarm hat alarmiert Hinzu kommt, dass Adressat_innen von Kritik in den Schulen jeweils die Verantwortung abdelegieren, dass ständig beschwichtigt wird und dass versprochen wird, die Kritik würde in späteren Umsetzungsphasen ernstgenommen. So können Forderungen von unten in Verwaltungsmühlen verschleppt und hin- und hergeschoben werden, während die oberen Etagen gleichzeitig die Durchsetzung ihrer Kerninteressen organisieren können. Während also konkrete Konzepte, Zusagen und Garantien für die Qualität der Betreuung ausbleiben, setzt der Stadtrat gleichzeitig klare Pflöcke bezüglich der Quantität der zu betreuenden Schüler_innen. Und nicht nur das. Ende letzten Jahres haben Leutenegger und die Schulbehörden sich sogar erdreistet, in den Horten eine Kürzung der Personalausgaben um 3.4 % anzukündigen. Es war dieser Angriff auf die ohnehin schon durch die Pandemie-Monate überlasteten Betreuenden, der das Fass zum Überlaufen gebracht und aber auch zum ersten effektiven Widerstand gegen die drohende Dequalifizierung der ausserschulischen Betreuung geführt hat. Der VPOD lancierte mit dem «Betreuungsalarm» eine Protestkampagne, der sich in vielen Schulen Betreuende und Lehrpersonen mit dem Aufhängen von Transparenten angeschlossen haben. Und in nur einem Monat konnten fast 4000 Unterschriften beim Schul- und Hortpersonal und bei den Eltern gesammelt werden und mit einer Protestkundgebung dem Gemeinderat übergeben werden. Die Kürzung bleibt zwar bestehen und natürlich setzen Petitionen keinen genügenden Druck auf den Stadtrat auf. Wichtiger ist aber, dass mit diesem Schritt in die Öffentlichkeit das Potential besteht, dass der Widerstand sich nicht mehr in den Betriebs- und Verwaltungsabläufen verläuft und dort kaltgestellt wird. Mit dem Einbezug von Eltern und mit der sichtbaren Entschlossenheit, diese Sparkröten nicht mehr zu schlucken, können die Betreuenden und kritischen Lehrpersonen die Verteidigung ihrer Arbeitsbedingungen und der Betreuungsqualität auf ein politisches Terrain heben, das die politisch Verantwortlichen nicht mehr einfach so ignorieren können. So wurden mindestens die «linken» Parteien im Gemeinderat alarmiert und haben deshalb gefordert, dass die Betreuungsqualität im Einführungskonzept des Projekts «Tagesschule 2025» berücksichtig sein müsse. Diese kleinen Zugeständnisse haben vorerst so wenig Wert, wie die bisherigen schönklingenden Worte. Sie zeigen aber, dass die offensive Organisierung in den Schulen und mit den Eltern der richtige und einzig effektive Weg ist, die Arbeitsbedingungen und die Qualität der Betreuung zu schützen.
aus aufbau 109