Die jüdische ArbeiterInnenbewegung in Osteuropa

Jüdische PartisanInnen, Wilna, 14.7.1944

Dieser Artikel ist im Mai 1997 in der Aufbau Zeitung Nr. 6 erschienen. Damals verfasst anlässlich des 100. Jahrestags des Zionistenkongresses in Basel, heben wir ihn nun nach 25 Jahren erneut hervor.

Zur ganzen Ausgabe (S. 10)

Termine:

Veranstaltung anlässlich des 125. Jahrestags am 27. August 2022
Demo Free Palestine! No Zionist Congress am 28. August 2022

Proletarische Juden und Jüdinnen kämpften in allen Teilen der Welt für die Errichtung einer neuen sozialistischen Gesellschaft. Im Westen waren sie in den verschiedenen kommunistischen und sozialistischen Parteien ohne eigenständige Organisierung integriert. In Osteuropa beteiligte sich das jüdische Proletariat als eigenständige jüdische Bewegung an der russischen Revolution und der Errichtung des Sozialismus.

(ka) Raubgold, nachrichtenlose Vermögen, Arnold Kollers Solidaritätsfonds, Christoph Blochers Stammtischrede, die sozialdemokratische Sichtweise Jean Zieglers, der Jubiläums Zionistenkongress in Basel. Eine in erster Linie aus der Sicht der Herrschenden geführte Debatte. Eine bourgeoise «Geschichtsaufarbeitung», in der die Interessen, Kämpfe und Positionen der ArbeiterInnenklasse, insbesonders der jüdischen, keine Rolle spielen.
Tatsächlich, dem jüdischen Revolutionär im zaristischen Russland muss die Funktion des Antisemitismus nicht erklärt werden, die jüdische Arbeiterin in Warschau weiss, dass der Kampf gegen Antisemitismus und Judenpogrome Kampf gegen den Kapitalismus heisst, der jüdische Partisan in Belorussland weiss, wer hinter dem Faschismus stand, die jüdische Untergrundkämpferin in Deutschland weiss, welche Konzerne vom imperialistischen Krieg profitierten. Nein, das jüdische Proletariat braucht keine Geschichtslektion,weder aus dem Bundeshaus, noch vom US-Senat. Es ist kein Zufall, wenn die Bourgeoisie in der Aufarbeitung ihrer Geschichte, und dazu gehört der Genozid am jüdischen Volk, viel von den jüdischen Opfern spricht, nie aber die Kämpfe jüdischer RevolutionärInnen erwähnt.
Uns interessiert hingegen der Kampf des jüdischen Proletariats für den Sozialismus, die grossartigen Seiten, die diese RevolutionärInnen in der internationalen ArbeiterInnenbewegung geschrieben haben.

1898 – Der 1. Parteitag der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR)

Die Gründung des «Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes in Russland und Polen», genannt der Bund, 1897, fiel in die Zeit intensiver Vorbereitungen des 1. Parteitages einer gesamtrussischen Sozialdemokratischen Partei.

Der Bund, der sich schon immer als einen Teil der russischen sozialdemokratischen Bewegung sah, war dabei die führende Kraft. Der Kongress der sich neu formierenden Partei tagte in Minsk, einer jüdischen Ansiedlungszone und Tätigkeitsgebiet des Bundes. So nahm der Bund als best organisierte und zahlenmässig stärkste Kraft an der Gründung der SDAPR teil. Der Bund sah seine Aufgabe jedoch nicht nur im Kampf für die revolutionäre Veränderung in Russland, sondern auch in der Wahrnehmung der spezifischen Interessen der jüdischen ArbeiterInnen. «Autonomie» innerhalb der Gesamtpartei sei erforderlich, um die besonderen Bedürfnisse des jüdischen Proletariats, Agitation und Propaganda in jiddischer Sprache z.B., adäquat befriedigen zu können. Dies wurde von der Versammlung der Delegierten diskussionslos akzeptiert, was an späteren Parteitagen allerdings wieder in Frage gestellt wurde.

Die Anfänge der jüdischen ArbeiterInnenbewegung fallen mit der Entstehung des jüdischen Proletariats in Osteuropa zusammen. Die grosse Mehrheit der Juden und Jüdinnen Osteuropas bestand aus armen SchwerarbeiterInnen und HandwerkerInnen. Millionenweise lebten sie in Ghettos und hatten kaum Kontakt zur übrigen Bevölkerung. Insbesondere in Russland waren sie «BürgerInnen zweiter Klasse», durften sich weder nach Belieben niederlassen noch bestimmte Berufe ausüben. Sie hatten unter regelrechten Ausbrüchen von Antisemitismus, die jeweils zu Massakern ausarteten, zu leiden.

Mit dem Antisemitismus, der Verbreitung von Feindschaft der Herrschenden gegenüber der jüdischen Bevölkerung, musste sich die gesamte sozialistische Bewegung auseinandersetzen, insbesondere jedoch die russische Sozialdemokratie. Zur Zeit Lenins verbreiteten die Bolschewiki eine intensive antinationalistische, antireligiöse und antiklerikale Propaganda. Sie proklamierten die Gleichberechtigung aller Nationen und nationaler Minderheiten.

Den russischen RevolutionärInnen war jedoch nicht entgangen, dass der Antisemitismus auch im Proletariat Fuss fassen konnte. Schon 1903 verurteilte der II. Parteitag der SDAPR den Antisemitismus, indem besonders dessen reaktionärer und klassenbezogener Charakter hervorgehoben wurde.

1903 – Der II. Parteitag der SDAPR

Durch die politische Organisierung der jüdischen ArbeiterInnenklasse im Kontext einer ethnischen Minderheit, war der Bund von Anfang an mit der nationalen Frage konfrontiert. Der Gründungskongress beschloss ausdrücklich die bürgerliche, nicht jedoch die nationale Gleichberechtigung zu fordern. Der Bund war der Meinung, dass alles vermieden werden müsse, was weg vom Klassenkampf und hin zu nationalen Interessen führen könne.

Die Forderung des Bundes nach einer durch bestimmte Institutionen gesicherten national-kulturellen Autonomie, worunter keine territoriale Autonomie verstanden wurde, wurde jedoch als verfrüht erachtet. In der Zukunft sprach sich der Bund dann für die Umwandlung des russischen Vielvölkerstaates in eine Nationalitätenföderation aus. Neu wurde die föderative Strukturierung der Gesamtpartei gefordert.

In diesem gesamtrussischen Organisationsvorschlag, der seinem Wesen nach nichts mehr mit der inneren Autonomie von 1898 gemeinsam hatte, widerspiegelten sich die Widersprüche, die zu dieser Frage innerhalb des Bundes vorhanden waren. Diese reichten von einer Tendenz, die eine nationale Frage im Kampf des jüdischen Proletariats negierte über die Position, die die Hegemonie der Klassenposition über das nationale Bewusstsein betonte, bis zu klar nationalen Forderungen.
Noch vor dem II. Parteitag schrieb Lenin, dass der Bund mit der Forderung, ein föderatives Bündnis mit der SDAPR eingehen zu wollen, einen ‘nationalistischen’ Fehler begangen habe. Die Bolschewiki waren der Ansicht, das jüdische Proletariat brauche keine selbstständige Partei, denn die Autonomie im Statut von 1898 sichere den jüdischen ArbeiterInnen eigene Propaganda und Agitation in jiddischer Sprache, eigene Literatur, eigene Kongresse etc. zu.

Der Kampf des Bundes innerhalb der jüdischen Bevölkerung konfrontierte ihn auch mit zionistischen Strömungen. Die grosse Mehrheit des jüdischen Proletariats lehnte jedoch bis zum 2. imperialistischen Krieg den Zionismus ab. Sie betrachteten ihn als ein bürgerlich-nationalistisches Mittel, das vom Klassenkampf ablenken sollte. Der Zionismus wolle das jüdische Proletariat von seinen nicht-jüdischen KlassengenossInnen isolieren, um einen bürgerlichen Klassenstaat in Palästina zu errichten. Dies müsse im übrigen zwangsläufig zur Unterdrückung palästinensischer ProletarierInnen und BauernInnen führen. Der Bund ging sogar soweit, in einem Bericht an die Internationale 1904 den Zionismus als «schlimmsten Feind des organisierten jüdischen Proletariats, das unter der sozialdemokratischen Fahne des Bundes kämpft» zu bezeichnen.
Es existierte damals aber auch eine «linke» Tendenz des Zionismus. Diese Konzeption ging zwar von den Interessen des jüdischen Proletariats aus, glaubte aber, diese nur in einem territorialen Rahmen verwirklichen zu können. Die jüdischen ArbeiterInnen wurden so aufgefordert, anstatt in die kapitalistische USA nach Palästina auszuwandern. Die VertreterInnen dieser Strömung waren der Ansicht, die dortige Bevölkerung liesse sich in einem jüdischen Palästina assimilieren, wobei aber eine nationale arabische Bewegung nicht in Rechnung gestellt wurde.

1917 – Die sozialistische Oktoberrevolution

In der Oktoberrevolution spielten die vielen bolschewistischen AktivistInnen und Kader jüdischer Herkunft eine wichtige Rolle. Der Bund, der durch die Ablehnung des föderativen Vorschlags aus Kongress und Partei ausgetreten war, unterstützte nun aber als wichtigste organisierte jüdisch-sozialistische Kraft die Menschewiki.

Im März 1921 löste sich der Bund auf, um der Russischen kommunistischen Partei (RKP(B)) beizutreten. Alle anderen jüdisch-russischen Parteien waren bis 1922 verschwunden. Die einzige Ausnahme bildete die linke «Paole-Zion», die sich als kommunistische Partei definierte. Durch diese neue Situation musste sich die Sowjetregierung einen neuen Zugang zu der jüdischen ArbeiterInnenschaft verschaffen. Gegen Ende des Jahres 1917 beschloss die Partei, den Genossen Dimanstein zum Kommissar für jüdische nationale Angelegenheiten zu stellen.

Ende 1918 wurde auf Parteiebene beschlossen, in der RKP(B) jüdische Sektionen zu gründen (Jewsekzija). An der ersten Konferenz der Jewsekzija im Oktober 1918 umriss Dimanstein die Aufgaben der jüdischen Sektionen: einerseits die Agitation unter den jüdischen Massen für die Unterstützung der Sowjetunion, anderseits der Kampf gegen die bürgerlich-nationalen Strömungen im jüdischen Milieu. Für den Aufbau einer sowjetjüdischen Gesellschaft sollten die jüdischen kleinbürgerlichen Massen wieder rehabilitiert werden, das Jiddische, das jüdische Schul- und Pressewesen gefördert und die Ansiedlung von Juden und Jüdinnen in landwirtschaftliche Gebiete gewährleistet sein. 1928 wurde der Beschluss gefasst, den Rayon Birobidschan (36 000 km²) für jüdische Werktätige vorzusehen. Ziel war die Errichtung einer jüdisch nationalen administrativ-territorialen Einheit auf dem gesamten Gebiet des Rayons. Vier Jahre später wurde der Rayon Birobidschan in ein «Jüdisches Autonomes Gebiet» (JAG) umgewandelt. Die Entwicklung des JAG in eine autonome Republik sei nur eine Frage der Zeit.

Internationaler Kommunismus oder Barbarei

Nichts kann diese Tatsache mehr verdeutlichen als die Ermordung von sechs Millionen europäischer Juden und Jüdinnen. Der Nationalsozialismus, bzw. der imperialistische Krieg, sollte den Kapitalismus aus seiner fundamentalen Krise führen. Vor allem die europäischen Juden und Jüdinnen hatten den Preis für das Überleben des Kapitalismus und das Zurückschlagen der ArbeiterInnenbewegung zu bezahlen.

Solange der Kapitalismus weiter herrscht, solange wird es Chauvinismus, Rassismus und Antisemitismus geben. Die reaktionäre Beschränktheit aller nationalen Grenzen, Kulturen und Religionen kann nur im Kontext einer revolutionären Veränderung und dem Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft überwunden werden. Der Versuch im Rahmen der russischen revolutionären Bewegung jüdisch-sozialistische Gesellschaftsstrukturen aufzubauen ist ein Beispiel dafür.