Türkei: Keine Hoffnung in die Wahlen

Während einem Aufenthalt in Rojava konnten wir mit einem Genossen sprechen, der lange in der Türkei politisch aktiv war. Danach ging er nach Rojava, wo er gegen den IS kämpfte und unter anderem auch bei der Befreiung von Kobanê und Raqqa dabei war. Wir befragten ihn über die aktuelle Situation in der Türkei. Dies ist der zweite Teil des Interviews, der erste kann auf unserer Homepage nachgelesen werden.

(rabs) Was denkst du über die Wahlen 2023? Was kann sich dadurch ändern?

In Europa gibt es einen grossen Widerspruch zwischen der Arbeiter_innenklasse und den Kapitalist_innen. In der Türkei ist der grosse Widerspruch nicht zwischen Arbei- ter_innen und Kapital, diesen Widerspruch gibt es natür- lich auch, aber der grösste Widerspruch ist zwischen dem Volk und dem Faschismus. Erdogan ist ein grosses Symbol des Faschismus. Persönlich setze ich keine Hoffnung in die Wahlen im 2023, weder in die CHP (die kemalistische Partei) noch in andere Parteien. Wenn sie an die Macht kommen, wird sich etwas ändern, aber Erdogan wird mindestens 20-30% der Stimmen erhalten. Ein Teil der armen Bevölkerung unterstützt Erdogan, ohne viel zu überlegen. Aber viele Konservative sind sozusagen zur Garde Erdogans geworden, sie unterstützen ihn wirklich.

Unter den CHP-Regierungen waren die Reichen bei der CHP, die laizistischen waren reich, die mittlere Bourgeoisie war laizistisch. Heute ist die mittlere Bourgeoisie konservativ und gläubig. Die sind unter Erdogan reich geworden, deshalb unterstützen sie ihn bis zum Ende. Denn sie wissen, wenn Erdogan die Wahlen verliert, werden auch sie alles verlieren. Sie werden auch auf die Strasse gehen und gegen das Volk kämpfen. Das sah man schon bei den Gezi-Protesten 2013. Viele Menschen waren auf der Strasse um gegen die Regierung zu protestieren, auf der anderen Seite war einerseits die Polizei, aber auch viele Leute, die mit Messern und Knüppeln bewaffnet waren. Männer mit Bärten, du hast denen angesehen, dass sie Erdogan unterstützen. Die waren auch auf der Strasse. Erdogan sagte das auch offen, er müsse nur ein Wort sagen und seine Unterstützer würden auf die Strasse gehen. Er weiss aber, wenn er das tut, wird es einen Bürgerkrieg geben. Und wenn dieser Krieg beginnt, ist das gut für die Revolution. Das sah man auch in Rojava oder in Russland: Die Revolution startete mit oder während dem Krieg. Wenn wir näher an der Dunkelheit sind, sind wir auch näher an der Revolution.

Erdogan hat also viele Unterstützer, auch die MHP [die Koalitionspartnerin von Erdogans AKP], wird sicher 7% der Stimmen bekommen. Zusammen hätten die AKP und die MHP dann maximal 40% der Stimmen. Wenn Erdogan aber die Wahlen verliert, kann ich mir nicht vorstellen, dass er das einfach hinnimmt und der CHP die Macht übergibt. Es wird Krieg geben.

Erdogan sagt immer wieder, dass die HDP der PKK nahe stehe um sie von den anderen Parteien zu isolieren. Nun hat die AKP die Lokalregierungen in Ankara und Istanbul auf Grund der kurdischen Wähler_innen verloren. Wenn die Kurd_innen nicht die CHP-Kandidat_innen unterstützt hätten, hätte die AKP gewonnen. Da versucht Erdogan zu spalten, dass die CHP und die HDP nicht mehr zusammenarbeiten und eine Koalition zwischen den Parteien zu verhindern. Sechs Parteien sind nun in der Koalition gegen Erdogan, aber die HDP ist da nicht dabei. Alle Parteien wollen zwar die Unterstützung der HDP, aber das können sie nicht sagen. In der Koalition der Opposition dabei ist auch die iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP. Deren Wähler_innen sind nationalistisch, die würden sich von der Partei abwenden, wenn diese eine Koalition mit vermeintlichen Terrorist_innen eingehen würde.

Ich hoffe auch, dass Erdogan die Wahlen verliert. Aber ich denke, dann wird es zum Krieg kommen, was uns der Revolution näherbringen würde. So war das auch 2015, als die AKP die Wahlen verlor, da begann danach der Krieg gegen die Kurd_innen. Diesmal wird ein anderer Krieg beginnen.

Wie ist denn die Unterstützung innerhalb des türkischen Volkes im Falle eines Bürgerkriegs?

Beide Seiten werden viel Unterstützung haben. Wenn Erdogan die wirtschaftliche Situation nicht unter Kontrolle bringt – und davon gehe ich aus – werden die Leute auf die Strasse gehen, wenn er eine Wahlniederlage nicht akzeptiert. Die Leute sind wütend wegen den wirtschaftlichen Problemen und wegen den Flüchtlingen. Durch die Flüchtlinge stieg die Arbeitslosigkeit, sie werden noch schlechter bezahlt und es wird noch schwieriger für Türk_ innen, einen Job zu finden. Es gibt Suizide wegen Geldmangels.

Auf der einen Seite haben wir die PKK und die kommunistischen Gruppen, die sich mit den wütenden Massen zusammenschliessen werden. Ich bin mir aber nicht sicher, wer die besseren Karten, zum Beispiel die besseren Waffen hat.

Dieser Bürgerkrieg könnte zur notwendigen demokratischen Revolution führen. Aber es könnte auch zu einer Situation wie in der iranischen Revolution gegen den Shah von 1979 führen. Da kämpften die Kommunist_innen und die islamischen Kräfte zusammen gegen das alte Regime, aber nachher zerstörten die islamischen Kräfte die kommunistischen. Das ist nicht so einfach in der Türkei, weil die Linke stärker ist. Ich denke nicht, dass es so weit kommen wird, wie im Iran. Und ich kann auch nicht sicher sein, dass Erdogan wirklich verlieren wird, er kontrolliert auch die Armee und Polizei. Viele MHP-Leute traten in die Armee und Polizei ein. Da hat sich sehr viel geändert: Früher hielten sich die Polizisten zurück bei Demonstrationen, die wollten uns nicht schlagen, aber heute sind sie voll motiviert, gegen uns vorzugehen. Das ist Erdogans Armee, wie die SS Hitlers Armee war.

Die Angriffe gegen die PKK in den Bergen in Başur, der Drohnen- und Wasserkrieg gegen Rojava, die sporadischen Drohungen gegen Griechenland, all diese Dinge sind mit den Wahlen und der schlechten wirtschaftlichen Situation verbunden?

In der Türkei ist es sehr einfach, mit den Emotionen der Nationalist_innen zu spielen. Das gab es immer wieder: Jemand machte irgend einen Schwachsinn und sagte, er habe es mit patriotischem Herz getan, er habe es gegen den Terrorismus getan. Und die Leute unterstützten es. Erdogan macht das die ganze Zeit, um Stimmen und Unterstützung zu gewinnen. Aber bei Erdogan hat sich auch etwas geändert. Der Militärputsch 1980 wurde von der CIA unterstützt, weil sie sah, dass die Gefahr einer Revolution gross war. Damals war es einfach, den Premierminister auszutauschen. Das hat sich geändert mit Erdogan, er sitzt fest im Sattel.

Bis Erdogan an die Macht kam, versuchten die Säkularen Druck auf die Konservativen auszuüben. Erdogan ist nicht aus dem Nichts erschienen. Dass Erdogan überhaupt an die Macht kam, ist auch ein Fehler der CHP. Seit Mustafa Kemal setzte der Staat immer die konservativ eingestellten Menschen unter Druck. Erdogan spielte mit dem und kam durch sie an die Macht. Er sieht sich selber als ein König, als Teil des Osmanischen Reiches. Er will, dass die Türkei wieder ein strategisch wichtiges, starkes Land wird, mit geostrategischem Einfluss. Die Lage der Türkei auf der Weltkarte ist strategisch gut, das kann er ausnützen. Er will, dass andere Länder mit ihm Abkommen schliessen. Deshalb steckt er auch seine Nase überall rein: in Griechenland, in Libyen, in den Irak, in Syrien, überall, denn er will wieder die Macht, die früher das Osmanische Reich hatte. Er hat Truppen im Irak, er hat Teile Syriens besetzt, er spielt in Armenien, der Ukraine, Russland mit. Alle rufen ihn an, das ist genau, was er will. Ich habe Kopfschmerzen, ich habe Bauchschmerzen, Erdogan, hilf mir! Wieso gehen sie zu Erdogan? Es gibt so viele mächtige Länder, China, Iran, Frankreich, Grossbritannien, die USA… Wieso Erdogan? Wer ist Erdogan? Wer ist die Türkei, dass sie Probleme zwischen der Ukraine und Russland lösen könnte? Erdogan kann nichts putzen, er ist selber Scheisse.

Als Sisi in Ägypten putschte, war Erdogan sehr wütend, weil er die Muslimbrüder unterstützte. Nun hat er in Ägypten keine Macht mehr. Aber er will sich als mächtige Person zeigen.

2023 endet ja der Vertrag von Lausanne, der die Grenzen der Türkei festlegte, wird Erdogan auch die Grenzen der Türkei verschieben?

Ja, natürlich will er das. Seit Jahren ist sein Slogan: 2023. Wenn er kann, wird er auch die Grenzen verändern, aber da spielen natürlich auch die anderen Kräfte rein, die Nato, die UNO usw.

Weil er sich dadurch höhere Wahlchancen ausrechnet, hat Erdogan die Wahlen auf den 14. Mai 2023 vorverlegt. Zusätzlich zu den Kriegen, die er auch führt oder unterstützt um seine Chancen zu verbessern, wiedergewählt zu werden, liess Erdogan auch seinen Hauptkonkurrenten Ekrem İmamoğlu, den CHP-Bürgermeister von Istanbul zu zwei Jahren Haft verurteilen. Ausserdem läuft ein Verbotsverfahren gegen die HDP.

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