Nachhaltig wütend bleiben

Sozialpädagog_innen haben genug von schlechten Arbeitsbedingungen und davon, dass die Verantwortung dafür von einer Instanz an die nächste abgeschoben wird. Sie organisieren sich für eine nachhaltige Verbesserung und den Feministischen Streik.

(az) Sie haben gute Gründe wütend zu sein: Viele der anwesenden Sozialpädagog_innen regen sich über 16-Stunden-Schichten auf. Über kaum bezahlte oder unbezahlte Nachtbereitschaft. Darüber, dass das Arbeitsgesetz für sie einfach nicht gilt. Der Saal ist zum Bersten gefüllt, die kollektive Energie und Aufbruchstimmung ist deutlich zu spüren. An der Veranstaltung der Kriso (Forum für kritische Soziale Arbeit) und der Gewerkschaft VPOD tauschen sich einige dutzend Betroffene über die Probleme ihres Berufszweigs aus. Und darüber, wer Schuld an der Misere hat. Doch dazu später.

Triage und Überbelegung

Sozialpädagogik gehört innerhalb der sozialen Arbeit zu den stark von der Covid-Pandemie betroffenen Bereichen. Auch schon vor deren Auswirkungen waren die Arbeitsbedingungen vergleichsweise schlecht und die emotionale Beanspruchung hoch. Doch die Verschärfungen durch Covid haben die Belastung unhaltbar gemacht. Während in den Spitälern die Pandemie-Situation durch Covid durch die zusätzlichen Pateient_innen und Schutzmassnahmen sehr unmittelbar sichtbar war, haben sich die bestehenden Probleme in den Heimen und Kriseninterventionen erst erst mit der Zeit entwickelt. Die Entwicklungsbedingungen von Jugendlichen oder die Fähigkeit von Familien, mit schwierigen Situationen umzugehen, gelangten zeitverzögert an den Anschlag. Im letzten Jahr wurden nun vermehrt auch die Schwierigkeiten im stationären psychosozialen Bereich und der Betreuung von geflüchteten Jugendlichen publik.

Wie schon aus der Berichterstattung in der Pflege bekannt, wurde erst mal über fehlende Plätze geredet. Und tatsächlich ist die Situation besonders in der Betreuung von Kindern und Jugendlichen dramatisch. Die Situation ist so angespannt, dass eine informelle Triage stattfindet. Das heisst, dass Kinder und Jugendliche mit überdurchschnittlich komplexen Problemen oft von Heim zu Heim geschoben und übergangen werden, weil die ohnehin überstrapazierten Teams überfordert sind. Die Betreuung von minderjährigen Geflüchteten im «Lilienberg» erlangte zum Beispiel mit einer Überbelegung von 100% Bekanntheit. Voll- und Überbelegung sind also Normalität und dieser Ausnahmezustand dauert schon lange. Auch in diesem Bereich der Sorge-Arbeit gilt: Sozialpädagogische Heime ohne Personal sind nur Möbel.

Gaffa-Tape flickt keine Rohrbrüche

Silvia Steiner, Bildungsdirektorin und verantwortliche Regierungsrätin beteuert in Interviews, dass schon auf «vielfältige Weise» reagiert werde. Die Studienplätze in Sozialer Arbeit bei der ZHAW wurden erhöht, dazu sollen Studierende schon während dem Studium arbeiten gehen und es werden nun ambulante Notfallteams für Frühinterventionen aufgebaut. Für betroffene Jugendliche und Angestellte ein Hohn – zu wenig, zu spät, nicht nachhaltig.

Im ausgelagerten und mit Leistungsverträgen marktförmig umgestalteten öffentlichen Sorge-Sektor wiederholen sich die Muster: Probleme in Institutionen werden von der Leitung möglichst lange intern gehalten, um keine negative Aufmerksamkeit für die Organisation zu generieren. Diejenigen Angestellten, die auf Missstände hinweisen, werden ignoriert, abgespeist oder diszipliniert. Wenn die Leitungen in «Reporting- oder Kontraktgesprächen» mit den Gemeinden oder dem Kanton auf Probleme oder fehlende Ressourcen hinweisen, geschieht auch nichts Angemessenes, solange kein öffentlicher Handlungsdruck besteht. Zudem sind die Leitungen in einem finanziellen Abhängigkeitsverhältnis zu denjenigen Stellen, bei denen sie Missstände thematisieren sollten. Das System mit Leistungsverträgen wird vom Staat genutzt, um die Verantwortung für die sozialen Probleme auszulagern und möglichst lange zu individualisieren, delegitimieren oder dann nach (finanziellem) Wohldünken auszuwählen, wie darauf reagiert wird.

Dazu ein Gedankenspiel: Es gibt einen Wasserrohrbruch im Badezimmer der Leser_in dieser Aufbauzeitung. Deine Kinder haben ständig nasse Füsse und werden krank. Du versuchst die Hauswartung zu erreichen, landest aber dauernd nur in der telefonischen Warteschleife. An der jährlichen Siedlungszusammenkunft kannst du die verantwortliche Verwalter_in endlich darauf hinweisen, doch hast Angst aus der Wohnung zu fliegen, wenn du deine Wut zeigst. Die Verwalter_in beschliesst, einen Lehrling mit Gaffa-Tape vorbeizuschicken. Jetzt tropft weniger Wasser in deine Wohnung. Einige Nachbar_innen ziehen um und schreiben Leser_innenbriefe an die Zeitung, weil es bei ihnen auch schon tropft. An einer Pressekonferenz beschuldigt dich die Verwalter_in, nicht auf deine Kinder aufzupassen und deine Unterhaltspflichten in der Wohnung nicht wahrgenommen zu haben.

Im Betrieb und darüber hinaus

Zurück zur Veranstaltung der Sozialpädagog_innen. Alle Anwesenden haben schon Erfahrungen mit Leitungen gemacht, die die Verantwortung abschieben. Sie haben genug davon, sich von Silvia Steiner abspeisen zu lassen und die schlechten Rahmenbedingungen auf ihre Kosten einfach hinzunehmen. Sie diskutieren über Änderungen des Arbeitsgesetzes, über allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge und über den Feministischen Streik dieses Jahr. Der Weg dahin, da sind sie sich einig, geht über kollektive Organisierung in den Betrieben und darüber hinaus. Tatsächlich ist der sozialpädagogische Bereich vielversprechend für betriebliche Aktionen im Rahmen des Feministischen Streiks. Der Leidensdruck ist vergleichsweise hoch und an einigen Orten sind vielsprechende kollektive Prozesse zu beobachten. Viele sind jedoch auch neu in dieser Art von Organisierung und finden sich erst noch darin. Dort liegt die Herausforderung des gemeinsamen Vorgehens. Oder wie es eine erfahrene Betroffene ausdrückt: «Wir möchten nachhaltig wütend bleiben».

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